In 'Tote Mädchen lügen nicht' geht es nicht um Suizid – es geht um männliche Gewalt
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In 'Tote Mädchen lügen nicht' geht es nicht um Suizid – es geht um männliche Gewalt

Die zweite Staffel der Netflix-Serie ist noch härter als die erste. Und enthält Szenen, die unerträglich sind.

Ich war 15, als sich einer meiner Mitschüler das Leben nahm. Monatelang wurde er von einer kleinen, aber lauten Gruppe innerhalb der Klasse beleidigt, angegriffen und öffentlich gedemütigt. Irgendwann erschien er nicht im Unterricht. Einen Tag später erfuhren wir, was passiert war. Die Schule gab uns einen halben Tag frei, damit wir zu seiner Beerdigung gehen konnten. Ich bin nicht hingegangen, die Menschen, die ihm das Leben in den Wochen zuvor zur Hölle gemacht hatten, schon. Als ich erfuhr, dass einige von ihnen seine Mutter umarmt und ihr am Grab ihr Beileid ausgesprochen hatten, dachte ich, ich müsste mich übergeben. Heute weiß ich, dass meine Klassenkameraden keine Mörder waren. Sie waren grausam, wie viele Kinder und Jugendliche eben grausam sind, zu unerfahren und unreflektiert, um zu verstehen, was Worte anrichten können.

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Damals hätte Tote Mädchen lügen nicht allerdings durchaus meine Lieblingsserie sein können. Die Netflix-Produktion wollte zeigen, wozu Mobbing führen kann, zeigte stattdessen aber, wie man mit Suizid nicht umgeht. Hannah Baker tötet sich nach monatelangen Beleidigungen und Übergriffen selbst und hinterlässt 13 Kassetten, auf denen sie ihre Mitschüler für ihren Tod verantwortlich macht. Die Serie stilisiert den Akt als ultimative Rache und sie idealisiert den Akt der Selbsttötung: Selbst sterbend in der Badewanne sieht Hannah noch strahlend schön aus.


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Die zweite Staffel ist trotz heftiger Kritik im Vorfeld seit dem 18. Mai online. Statt Hannahs Tapes findet ihr Mitschüler und guter Freund Clay dieses Mal rätselhafte Polaroids. Sie zeigen Baseball-Captain Bryce dabei, wie er mit offenbar bewusstlosen Mädchen Sex hat. Hannah und ihre Freundin Jessica, die in der ersten Staffel beide von Bryce vergewaltigt wurden, waren also nicht seine einzigen Opfer. Clay wittert die Chance, ihn endlich zur Verantwortung zu ziehen – doch dafür müssen Jessica und ihr Ex-Freund Justin bereit sein, vor Gericht gegen Bryce auszusagen.

Jessica kann seit dem Übergriff nicht mehr alleine schlafen, bekommt beim Shopping in der Umkleidekabine Panikattacken und muss ihrem Angreifer trotzdem jeden Tag in der Schule begegnen. Ihre Situation scheint ausweglos, bis sie regelmäßig zu einer Selbsthilfegruppe geht und ihren Schmerz mit anderen Überlebenden teilt; also genau das tut, was ihre Freundin Hannah nicht getan hat. Jessica lernt, sich die Kontrolle über ihre Geschichte zurückzuholen und selbst zu entscheiden, wann und wie sie Bryce zur Rechenschaft zieht. Hier zeigt Tote Mädchen lügen nicht endlich, wie man von einem Trauma erzählt, ohne die erlittenen Verletzungen mit selbstzerstörerischen Verhalten zu glorifizieren.

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Bryce und seine Freundin Chloe in der zweiten Staffel von Tote Mädchen lügen nicht

Bryce und Chloe

Interessant ist dabei auch die Rolle von Bryces Freundin Chloe, der Chef-Cheerleaderin. Nach außen hin sind die beiden das perfekte Paar, doch immer wieder zeigt Bryce seiner Freundin, dass ihr Nein ihm nichts wert ist. Wenn sie keinen Sex möchte und sich seiner Umarmung entzieht, schließt er eben die Tür ab und versucht es noch ein bisschen nachdrücklicher. Bryce wirkt ehrlich überrascht, wenn ihm seine Mitschüler vorwerfen, ein Vergewaltiger zu sein. In seinem Mindset gibt es schließlich keine körperliche Selbstbestimmung, wenn er den Körper eines anderen Menschen benutzen möchte, dann tut er das eben. In einer Szene fragt er die konsternierte Jessica sogar, ob sie nicht mal was mit ihm trinken gehen wolle.

Was er auch tut, Konsequenzen fürchtet er nicht. Bryce ist reich, weiß und männlich – wer soll ihm etwas anhaben? Damit wird er zum Sinnbild männlicher Selbstermächtigung, einem Symbol für all jene, die glauben, dass es zum Flirten dazu gehört, wenn eine Frau sich wehrt. Zu der Art von privilegiertem jungen Mann, dessen Zukunft von Gerichtsurteilen "zerstört" würde, sollte ihn jemand für seine Taten angemessen zur Rechenschaft ziehen. Die Netflix-Produktion zieht hier Parallelen zu gesellschaftlichen Debatten, ohne belehrend oder eindimensional zu wirken.

Die Serie hätte es dabei belassen sollen.

Stattdessen scheint Tote Mädchen lügen nicht fest entschlossen, so viele Geschichten wie möglich auf einmal zu erzählen. Hannahs Mutter gibt der Schule die Schuld am Suizid ihrer Tochter und bringt sie vor Gericht. Alex überlebt seinen Selbsttötungsversuch aus der ersten Staffel, ist seitdem aber körperlich beeinträchtigt und hat große Erinnerungslücken. Eine der Hauptfiguren, die ich aus Spoiler-Gründen nicht nennen möchte, wird heroinabhängig, und eine weitere plant einen Amoklauf.

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Gerade die letzte Folge, in der das Story-Wirrwarr irgendwie zu einem Abschluss gebracht werden muss, scheitert grandios daran, wirklich etwas auszusagen. Stattdessen zeigt sie die bisher unerträglichste Vergewaltigungsszene von allen. Einer der männlichen Hauptcharaktere wird von einem Mitglied des Baseballteams zusammengeschlagen und schließlich in eine Toilettenkabine geschleift. Während das Opfer festgehalten wird, nimmt der Angreifer den Stil eines Wischmopps und rammt ihm dem hilflosen Jungen in den Anus. Als der Stil wieder zu sehen ist, ist er voller Blut. Auf diesen Anblick kann einen keine Trigger-Warnung zu Beginn der Episode vorbereiten. Warum ist das notwendig?

Hannah und Clay in der zweiten Staffel von Tote Mädchen lügen nicht

In der zweiten Staffel existiert Hannah nur noch in der Erinnerung ihrer Mitschüler – und der Vorstellung von Clay (rechts)

Auf ein Trauma folgt das nächste, auf jede psychische Gewalttat eine Szene, in der junge Menschen ihrer körperlichen Selbstbestimmung beraubt werden. Wenn die Schulzeit und das Heranwachsen an sich eine hormonbedingte Hölle sind, dann ist Tote Mädchen lügen nicht Torture Porn.

Am Schluss bleibt mir eine Rückblende im Kopf, in der Clay und Hannah über das schwierig zu fassende Konzept von Unendlichkeit philosophieren. Wenn man etwas tue, das Einfluss auf eine Person nimmt, habe diese Handlung automatisch auch Einfluss auf andere Menschen, die dieser Person nahestehen, die dadurch wiederum Einfluss auf Leute aus deren Umfeld hätten. Ein Konzept, das überraschend pointiert zusammenfasst, wie die Serie die Existenz einer zweiten Staffel für sich zu rechtfertigen scheint. Hannahs Kassetten-Tapes beeinflussten die Menschen, von denen sie handeln. Und wie diese Menschen mit den Tapes umgehen, beeinflusst wiederum deren Umfeld. Hunderte potenzielle Storylines, die aus einer einzigen Aktion resultieren.

Es bleibt zu hoffen, dass die Macher von Tote Mädchen lügen nicht dies nicht als Rechtfertigung dafür begreifen, die Serie weiterlaufen zu lassen. Hannah Baker mag in der ersten Staffel fälschlicherweise geglaubt haben, 13 gute Gründe zu haben, sich das Leben zu nehmen. Für eine dritte Staffel gibt es selbst aus der verqueren Serienperspektive keinen einzigen.

Depressionen, Mobbing oder andere psychisch belastende Situationen solltest du nicht mit dir selbst ausmachen. In Deutschland kannst du dich dafür unter anderem per Chat oder telefonisch unter der 0800 111 0 111 bei der Telefonseelsorge melden. Beratung für Opfer von Mobbing gibt es unter anderem auf der Website des Hilfetelefons oder bei Jugend.Support.

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