Auf ein Dosenbier mit Yvonne Reichmuth
Fotos von Mina Monsef

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Popkultur

Auf ein Dosenbier mit Yvonne Reichmuth

Die Fashion-Designerin Yvonne Reichmuth hat Fans rund um die Welt. Warum sie trotzdem in Zürich bleibt.

Dieser Text erschien zuerst in der 'The Hello Switzerland Issue' – dem ersten VICE-Magazin, das vom ersten bis zum letzten Buchstaben in der Schweizer Redaktion entstanden ist.

Erschnuppern kann man Yvonne Reichmuths Arbeit, sobald man den unterirdischen Gang zu ihrem Atelier nahe der Zürcher Langstrasse betritt: Ein feiner Lederduft strömt mir entgegen. Er kommt von den ungewöhnlichen Kreationen der Designerin, die in ihrer Werkstatt an Kleiderstangen hängen: Harnische, Choker, Turbane. Deren Ästhetik erinnert mich mal an eine Ritterrüstung, mal an ein BDSM-Spielzeug. Die 31-Jährige, die aus Pfäffikon im Kanton Schwyz stammt, verkauft die handgemachten Accessoires seit vier Jahren mit internationalem Erfolg unter dem Label "YVY". Wir schnappen uns aus ihrem kleinen Atelierkühlschrank zwei Dosen Bier. Ihre Assistentin Selena drückt uns eine Packung Salzherzchen in die Hand. So machen wir uns auf den Weg zu ihrem kleinen Gartensitzplatz neben dem Atelier, während Selena und eine weitere Mitarbeiterin sich in den Feierabend verabschieden.

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Ich frage Yvonne, wie sie sich ihren Erfolg erklärt. Ganz unterschiedliche Stars wie Tyra Banks, Kristen Stewart und Monica Bellucci lieben ihre Stücke: "Mir ist schnell bewusst geworden, dass es nicht reicht, einfach ein gutes Design zu haben und hart zu arbeiten. Das Produkt muss stimmen und die Leute müssen es auch sehen. Und ich bin eben in Zürich und nicht in einer Metropole wie New York oder Paris. Darum habe ich auch Schritte unternommen, zum Beispiel Teil eines Showrooms in Los Angeles zu sein", sagt sie. "In dieser Stadt vertreten zu sein, war ein wichtiger Schritt, dort ist die Dichte an Stars unübertroffen und meine Designs sind glücklicherweise sehr gefragt."

Der Standort Zürich scheint momentan für aufstrebende Designer besonders anziehend zu sein. Im Februar ist das französische Label Vetements mit seinem Atelier und Hauptbüro von Paris in die Binz gezogen. Wo immer die georgisch-deutschen Brüder Gvasalia ihre Kleider verkaufen, stehen die Fans meterlang Schlange, um sich mit 1.000-Franken-Jeans oder einem DHL-Kurier-Shirt für 300 Franken einzudecken. Vetements-CEO Guram Gvasalia beharrt in Interviews darauf, dass der Schritt nicht aus steuerlichen Gründen geschehen sei. Sein Bruder und Chefdesigner Demna Gvasalia schwärmte in einem Interview mit der Sonntagszeitung gar von Zürichs Jungfräulichkeit. Für sein altes Domizil findet er harte Worte: "Paris tötet die Kreativität. Das Umfeld mit seinem Blingbling ist zerstörerisch. Ich habe die Angeberei der Modestars und den ganzen Glamour satt."

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Yvonne hatte ihr Atelier zwischenzeitlich in Italiens Lederhauptstadt Florenz und im österreichischen Bregenzerwald. Einmal war ihre Ausbildung, ein anderes Mal eine zerbrochene Liebe und dann eine Wohnungskündigung der Grund dafür. An Zürich gefällt ihr die geografische Lage und sie schätzt den Austausch mit anderen hier ansässigen Designern wie Julian Ziegerli oder dem Schmuckschmied Felix Doll. "Wir vergessen manchmal die Zeit und versanden irgendwo und trinken Prossecco", sagt sie lachend. Erst letzte Woche konnten sie gemeinsam auf Einladung der Branchenplattform Modesuisse an einer Modeschau in Beijing teilnehmen: "Wenn man in einer Stadt nur eine kleine Fashion-Szene hat, ist es natürlich leichter, mit seinem Label herauszustechen. Das Gefühl hier ist frisch, du schwimmst nicht mit allen Labels in einem Topf. Du kannst leichter Aufmerksamkeit erregen. Ich bin die einzige Leather-Harness-Designerin der Schweiz. In einer Metropole wie Paris, London oder Berlin, die mit kreativen Talenten überquillt, wäre das nicht so." Verbesserungspotential sieht sie aber bei einem anderen Thema: "Ich finde es schade, dass Mode im Gegensatz zur Kunst nicht der Kulturförderung unterliegt. Das würde die hiesige Designszene noch mehr beleben."

YVY positioniert sich klar gegen Fast Fashion. Die Langlebigkeit, Einzigartigkeit und die Fertigung bezeichnet Yvonne als Kernwerte: "Eine meiner wichtigsten Entscheidungen war, dass ich nicht saisonal arbeite", sagt sie. Ihre Kollektionen sind dementsprechend nicht nach Jahren und Jahreszeiten benannt, sondern nach ihrer Inspirationsquelle. Da wäre zum Beispiel die 1001-Kollektion: Auf einer Reise in Marokko inspirierten sie die Muster der Moscheen und die Erzählungen von ausschweifenden Partys von Yves Saint Laurent und Jimi Hendrix in den 70er Jahren. Die aktuelle Kollektion ist den Bauten von Architekten wie Oscar Niemeyer, Pier Luigi Nervi und Félix Candela gewidmet. Yvonnen lehnt sich auf ihrem weissen Holzstuhl zurück und zieht an ihrer Parisienne: "Labels kommen und gehen, es kann nicht auf eine gesunde Art funktionieren, wenn man in so einer Menge so schnell und so billig produziert. Irgendwo muss es Verluste geben. Die Leute haben das Gefühl für den Wert von Kleidung verloren. Ich finde es immer noch absurd, wenn ich ein Kleid für zehn Franken im Laden sehe", sagt sie.

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Mit der Entscheidung ihr Atelier in Zürich zu haben, knüpft Yvonnen an die vergangene Tradition der Schweiz als Textilnation an: Nicht Uhren oder Schokolade sondern die St. Galler Stickerei war bis zum ersten Weltkrieg das grösste Exportgut der Schweiz. Im 17. und 18. Jahrhundert war die Textilarbeit eine der Haupterwerbsquellen vieler Haushalte. Die Häuser von Tausenden von Heimarbeitern waren meist Wohnung und Arbeitsplatz in einem. Mit dem frühzeitlichen Homeoffice war aber bald Schluss: Die Eröffnung der ersten Textilfabrik läutete 1801 schweizweit die Industrialisierung ein. Sie tötete die Heimarbeit schleichend. In der Ostschweiz sträubte man sich am längsten gegen die übermächtigen Maschinen aus Grossbritannien. Die traditionsbewussten Heimarbeiter waren zu stolz auf ihre Unabhängigkeit und waren bereit, dafür mehr und zu schlechteren Löhnen zu arbeiten als die Arbeiter in den Fabriken.

Mit der Stickereikrise ab dem ersten Weltkrieg begann die Textilindustrie komplett an Bedeutung zu verlieren. Das lag vor allem daran, dass sich die Gesellschaft grundlegend wandelte. Röcke und Kleider wurden kürzer, die Schnitte schlichter. Man verzichtete auf Zierelement wie Stickereien. Der Zusammenbruch der Textilindustrie warf die Ostschweiz wirtschaftlich auf Jahrzehnte zurück. Mehr als 90 Prozent der Stickmaschinen der Region wurden verschrottet.

Heute ist die Produktion von Kleidungsstücken fast vollständig in Billiglohnländer in Asien oder Osteuropa und auf die Iberische Halbinsel verlagert worden. Eine der letzten Schweizer Nähereien wird von der Firma Zimmerli im Tessin betrieben. Möglich machen das auch die niedrigen Löhne, die dort italienischen Grenzgängern gezahlt werden. Eine Näherin verdient laut einem Bericht der NZZ etwa 3.000 Franken im Monat.

"Leder hat etwas Verruchtes. Es ist Haut. Was gibt es Sinnlicheres?"

Wir kommen auf Yvonnes Arbeitsmaterial zu sprechen. Sie habe sich am Anfang ihrer Karriere kaum Gedanken gemacht, warum sie so gerne mit Leder arbeite. "Die Leute denken eh sofort an etwas Sexuelles. Es reicht schon, wenn ich das Wort Leder ausspreche. Ihr Kopfkino geht los … und ich denke mir: 'Hey, ich mache auch Handtaschen.'" Sie überlegt kurz. "Aber eigentlich ist völlig klar, wieso das so ist. Leder hat etwas Verruchtes. Es ist Haut. Was gibt es Sinnlicheres? Mich flasht es einfach mehr als ein Seidenstöffchen." Eine Herausforderung sei die Arbeit damit ganz klar. Das störrische Material verzeihe nichts. Man könne nicht einfach eine Naht wieder auftrennen. Der Drang zur Komplexität zieht sich durch ihr Werk. Sie habe sich zum Beispiel zuerst dagegen gesträubt, so etwas Minimalistisches wie Halsbänder herzustellen: "Ich will lieber Teile machen, die aus 300 Einzelkomponenten bestehen."

Auf der Liste von Berühmtheiten, die sie noch gerne in YVY sehen würde, stehen vor allem Musikerinnen. An erster Stelle Madonna und Beyoncé – ihre Stylisten hätten auch schon Teile ausgeliehen. Doch es ist, wie vieles im heutigen Leben: Nur was online geteilt wird, zählt – oder ist im Fall von Yvonne bares Geld wert: "Als Kylie Jenner 2015 eines meiner Teile getragen hat und auf Instagram postete, nähten wir im Atelier nur noch Fransenröcke, weil so viele Bestellungen reinkamen", schwärmt sie.

Unser Gespräch widmet sich dem Thema Nachhaltigkeit. Ich frage, ob sie im Zeitalter des Veganismus nicht oft für ihre Kreationen angefeindet werde. "Nicht wirklich, das Leder, das ich verwende ist ein Nebenprodukt der Schlachtindustrie und ich bin auch seit 20 Jahren Vegetarierin", sagt sie. Es sei allerdings einmal geschehen, dass ein Business-Kunde davon ausgegangen sei, dass sie ohne Tierprodukte auskomme. "Ich dachte: ‚Veganes Leder? Du meinst Plastik?'" Vor diesem Material ekle sie sich regelrecht: "Wir schneidern unsere Samples daraus und das ganze Team tut sich schwer, weil es einfach nicht das Gleiche ist. Es lebt nicht und riecht seltsam." Es ist Zeit, sich zu verabschieden. Yvonne zieht weiter an ein Barbecue. Und vielleicht zum nächsten Glas Prosecco. Folge VICE auf Facebook und Instagram.