"Ich würde auch IS-Kämpfer behandeln" – Der Deutsche, der im Irak Leben rettet
Alle Fotos: Kenny Karpov

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"Ich würde auch IS-Kämpfer behandeln" – Der Deutsche, der im Irak Leben rettet

Ein Berliner Rettungsassistent über seine Arbeit im Häuserkampf von Mossul.

Tobias ist 37 Jahre alt und mag keine Fotos von sich. Eigentlich will er auch nicht interviewt werden. Wenn er von seiner Zeit im Krieg erzählt, wird seine Stimme etwas leiser. Dass sich der merkwürdige Jargon des Militärs mit seinen sperrigen Abkürzungen in seinem Wortschatz geschlichen hat, scheint Tobias unangenehm zu sein. Wenn ich während des Gesprächs nachfrage, was IDPs sind, was ein CCP ist oder was BBIEDs – dann wirkt er geradezu peinlich ertappt. Er ist kein Soldat. Im Gegenteil, er sieht sich selbst als "medizinisch-humanitären Aktivisten". Aber Tobias hat mehr vom Krieg gesehen als die meisten Bundeswehrsoldaten.

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Als der sogenannte Islamische Staat 2014 große Teile von Syrien und dem Irak eroberte, Tausende massakrierte und versklavte, flog er zum ersten Mal in die Region. Er wollte den Flüchtlingen helfen – und gleichzeitig die unterstützen, die sich dem IS entgegenstellten. Er ist Rettungsassistent, hat eine Ausbildung zum Notfallsanitäter gemacht und hat dadurch "ein Skillset, das da gebraucht wird". Nach mehren Monaten im schwer umkämpften Rojava, dem kurdischen Nord-Westen Syriens, ist Tobias von der Berliner Hilfsorganisation "Cadus" für einen Einsatz im irakischen Mossul angeworben worden.

VICE: Tobias, was hast du in Mossul gemacht?
Tobias: Ich habe als Rettungsassistent für die humanitäre Hilfsorganisation Cadus in einem "Trauma Stabilisation Point" (TSP) gearbeitet. Einen TSP kann man sich als eine zivile Variante eines Feldlazaretts vorstellen. Mitte Juni habe ich die Position des "Head of Mission in Field", also die Leitung und Koordination des Punktes übernommen. Daneben habe ich dabei geholfen, die schwer umkämpfte Altstadt zu evakuieren.

Mitten im Kriegsgebiet?
Ja. Ganz West-Mossul galt zu diesem Zeitpunkt als "High Risk Area". Darum waren dort keine UN- und WHO-Leute aktiv. Auch den meisten anderen NGOs war das zu heiß.

Wie nah warst du an der Front?
Der Cadus-TSP lag etwa 1.500 Meter von der Front entfernt. Da gab es keinen unmittelbaren Beschuss. Aber du hast halt die ganze Zeit das Geballer und die Explosionen gehört. Manchmal sind auch Kugeln vom Himmel gefallen, einmal gab es einen Mörserangriff, der recht nahe war. Hin und wieder hat Daesh [abwertendes Akronym für den IS] auch Quadrocopter-Drohnen geschickt. Dann haben unsere Wachen versucht, die abzuschießen.

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Dabei hat geholfen, dass unser Punkt am gleichen Ort wie das Lazarett der 9th Armoured Division der irakischen Armee untergebracht war. De facto haben wir da Tür an Tür mit dem Militär gearbeitet. Die 9th Division hat die Zufahrtsstraßen mit ihren gepanzerten Fahrzeugen abgesichert und Soldaten zu unserem Schutz abgestellt. Wir haben viel mit den Militär-Sanitätern zusammengearbeitet. Die mochten, dass wir konzentriert und gelassen die Traumata versorgt haben, und haben schnell gemerkt, dass wir keine Spinner, sondern Fachkräfte sind. Also haben die uns oft angefunkt und um Unterstützung gebeten. Die konnten uns halt keine Befehle geben, sondern nur fragen.

Wie sieht da der Alltag aus? Was erlebt man da?
Gegen 4 oder 5 Uhr früh ging es los. Da fing es mit den Angriffen an. Unser TSP lag genau im Angriffskorridor der Kampfhubschrauber. Und wenn die über einem geschossen haben, dann war es mit dem Schlafen vorbei. Die Armee hat dann die Verletzten mit Humvees angeliefert, Soldaten und Zivilisten. Wir machten dann die Triage, haben also die Patienten nach Prioritäten sortiert und die entsprechenden medizinischen Maßnahmen eingeleitet. Besonders kritische Patienten wurden ins Krankenhaus begleitet, damit die unterwegs nicht sterben. So ging das den ganzen Tag, bis etwa Mitternacht. Dann wurde es meist für ein paar Stunden ruhiger.

Nebenbei haben wir auch noch die hausärztliche Versorgung von Zivilisten geleistet. Deshalb hatten wir auch immer eine lange Schlange von Zivilisten vor der Tür.

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Was für Verletzungen hast du dort behandelt?
Die gesamte Bandbreite an kriegsspezifischen Verletzungsmustern. Sachen, die man so in Berlin nicht sieht und hoffentlich auch nie sehen wird. Neben Schussverletzungen waren das vor allem schwerste Explosionstraumata.

Diese IEDs ["Improvised explosive device", Sprengfallen] sind einfach eine Pest. Häufig mussten wir Kinder versorgen, die beim Spielen eine IED ausgelöst haben. Eine weitere große Gruppe waren Zivilisten, deren Haus eingestürzt ist, weil es bei einem Luftangriff oder von einem Mörser getroffen wurde. Wenn die zusammenstürzen, dann begraben sie oft ganze Familien unter sich. Zusätzlich kamen die Leute mit den üblichen gesundheitlichen Problemen, also zum Beispiel Diabetes oder Infektionen.


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Würdest du auch IS-Kämpfer behandeln?
Ja, selbstverständlich. Ich bin auch im Kriegsgebiet meiner Berufsethik verpflichtet. Ich habe auch gefangene IS-Kämpfer behandelt. Und das mit der gleichen Sorgfalt, mit der ich die irakischen Soldaten oder Zivilisten versorgt habe.

Wir hatten in der gesamten Zeit über WhatsApp Kontakt. Ende Juni hast du mir geschrieben, dass sich die Sicherheitslage schlagartig verschlechtert hat. Kannst du erzählen, was da los war?
IS-Schläferzellen und Selbstmordkommandos hatten einen Entlastungsangriff gestartet und überraschend drei Stadtteile direkt westlich von uns zurückerobert, damit hatte niemand gerechnet. Wir waren plötzlich zwischen zwei Frontlinien. Es hat von links und rechts geballert. Zeitweise war der IS etwa 500 Meter nah an uns dran. Die Humvees der 9th Division haben dann auf alles geschossen, was in unsere Richtung kam. Das ging dann zwei, drei Tage so.

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Wir konnten dort nur arbeiten, weil unser Punkt durch die Armee abgesichert worden ist. In der letzten Phase der Offensive gab es nochmal eine ernstere Situation. Da hat der Daesh versucht, die vier TSPs der westlichen NGOs anzugreifen. Die hatten mehre weibliche "BBIEDs" losgeschickt – das steht für "Body-Borne Improvised Explosive Device", also Selbstmordattentäterinnen mit Sprengwesten. Zum Glück konnten die alle vorher gestoppt werden.

Neben der Cadus-Gruppe sind zu der Zeit der schweren Kämpfe noch andere NGOs in West-Mossul aktiv gewesen, beispielsweise die "Ärzte ohne Grenzen" (MSF). Zur den Grundsätzen von MSF gehört, dass sie nicht mit dem Militär zusammenarbeiten.
Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass man als NGO zu bewaffneten Konfliktparteien Distanz hält. Ich finde es auch politisch grundsätzlich völlig richtig. Aber gerade das Beispiel MSF in Mossul zeigt, dass es praktisch nicht möglich ist. MSF hat ein paar Kilometer von unserem TSP ein Krankenhaus betrieben. Als der IS dann vorrückte, mussten die ihr Krankenhaus zumachen und ihr Personal in Sicherheit bringen. Wir konnten hingegen weiter arbeiten, weil wir durch Zusammenarbeit mit der 9th Division einen doch sehr soliden und verlässlichen Schutz hatten.

Du bist Ende Juni an die Front in die schwer umkämpfte Altstadt gegangen. Warum?
Es gab dafür zwei Gründe. Erstens ein sehr ernstes, strukturelles Problem. Die Versorgung vor und während des Transports zum TSP hat nicht so richtig funktioniert. Aus dem Frontbereich kamen zu viele tot bei uns an. Ich wollte vor Ort gucken, wo da die Probleme liegen und eine Lösung finden.

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Und zweitens: Ich fand es merkwürdig, dass ich kaum schwerverletzte Zivilisten aus der Altstadt angeliefert bekommen habe. Gleichzeitig habe ich oft von Soldaten gesagt bekommen, dass es ja in Mossul eh keine "unschuldigen Zivilisten" gebe. Schließlich war die Stadt ja kampflos an den IS übergeben worden. Ich hatte die stille Befürchtung, dass die schwerverletzten Zivilisten nicht mit entsprechender Priorität behandelt werden.

Was hast du in der Altstadt gesehen?
Die Altstadt von Mossul ist ein einziges zerschossenes Trümmerfeld, voller Leichen und Sprengfallen. Durch die verwinkelten Gassen voller Schutt und Geröll kommen keine gepanzerten Humvees. Also musste ich dort oft durch Löcher und Durchbrüche in den Hauswänden klettern. Manchmal ging es auch über Treppen, verschiedene Stockwerke, durch noch voll möblierte Wohnungen, Keller und Tunnel weiter. Alles stank da nach Verwesung. Durch dieses Labyrinth führten dann Routen an die verschiedenen Frontlinien.

Ich habe dort ein paar Tage mit der Medic-Einheit der 16th Division gearbeitet. Ich war also tatsächlich voll "embedded". Vor Ort habe ich dann verstanden, wo die Probleme liegen. Der Evakuierungsweg durch die Durchbrüche in den Häusern war sehr lang und beschwerlich. Die Zivilisten, die in dem Bereich schwerstens verletzt worden sind, die sind da einfach nicht mehr rechtzeitig rausgekommen.

Die Altstadt war zu diesem Zeitpunkt noch voller Zivilisten. Wie haben die Menschen dort gelebt?
Der IS hat auf die Flüchtenden geschossen, teilweise haben die sogar die Haustüren vermint, um die Leute an der Flucht zu hindern. Die Leute in der Altstadt waren für die mehr Geiseln, menschliche Schutzschilder. Viele Zivilisten haben sich während der Kämpfe versteckt. Das waren oft Menschen, die auch körperlich nicht in der Lage waren zu fliehen. Das waren Alte und Kranke, aber auch viele Kinder. Alle waren wirklich sehr gezeichnet von der Situation. Oft konnten die nicht unterscheiden, wer da gerade schießt. Die hatten einfach nur noch Angst. Ich erinnere mich da an ein etwa 8-jähriges Kind, das lebte alleine in einer Ruine. Das war völlig traumatisiert, ausgemergelt und dehydriert. Aber es hat sich da einfach nicht rausgetraut, ist weggelaufen und hat sich in den Ruinen versteckt, sobald jemand nah kam. Aber fast noch schlimmer war dieser alte Mann.

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Was war mit dem alten Mann?
Das war eine dieser tragischen Geschichten, die man da so erlebt … Ich war mit den Medics der 16th unterwegs. Da sehen wir einen alten Mann, der alleine durch die Trümmer läuft und in den Krater eines Luftangriffs fällt. Wir nähern uns und rufen. Er reagiert nicht. Also wurde ein paarmal geschossen. Da meldet er sich und sagt, er sei alt und könne schlecht sehen. Die Soldaten sagen, er soll aus dem Krater kommen, damit wir ihn sehen. Ganz langsam kommt er dann raus. Er hat einen dicken Beutel dabei. Also sagen die Soldaten, er soll den Beutel fallen lassen und die Kleidung heben, damit wir sehen, dass er keine Sprengweste trägt. Er reagiert nicht und kommt langsam auf uns zu. Bei den ersten Warnschüsse bleibt er kurz stehen, aber er kommt dann trotzdem näher. Also sind wir weiter zurück. An jedem anderen Tag, von jeder anderen Einheit, vermutlich von jeder anderen Armee wäre der jetzt einfach erschossen worden. Dann hat jemand ihm genau vor die Füße geschossen und er hat den Beutel endlich fallen lassen. Ein Soldat hat den Alten dann zu Boden gerissen und fixiert. Dann lag er da. Hat angefangen zu zittern und zu weinen. Er war völlig fertig. Der IS hat seine Kinder erschossen, daran ist er zerbrochen. Er war das personifizierte Kriegstrauma.

Wie viele Menschen hast du gerettet?
Ich alleine habe niemanden gerettet! Es ist unglaublich überheblich und ärgerlich, wenn Rettungskräfte so etwas von sich behaupten. Schwerstverletzte Patienten haben nur eine Überlebenschance, wenn die Rettungskette funktioniert. Ich arbeite als Teil dieser Rettungskette, aber ich bin eben nur ein Teil davon.

Wie gehst du selbst mit dem Leid um, das du jeden Tag gesehen hast?
In der akuten Situation geht man damit eher technisch um. Schwere Traumaverletzungen sehen oft sehr beeindruckend aus. Wenn jemandem das Gesicht weggeschossen worden ist, darf es mich nicht interessieren, dass es furchtbar aussieht – ich muss schauen, ob die Atemwege verletzt sind. Wenn ich bei der Triage entscheide, dass ein Patient mit schwerem Polytrauma nicht behandelt wird, weil es zu viel Personal bindet, welches in der Zeit jemanden anderes retten könnte, dann kommt es für die Person einem Todesurteil gleich. Aber ich weiß, dass es trotzdem die richtige Entscheidung ist. In einem solchen Setting kann man sich nicht in individuelle Schicksale hineinarbeiten. Das geht nicht. Sonst kann man da nicht arbeiten.

Viele Kollegen haben die schiere Masse an verletzten Kinder als besonders belastend empfunden. In Deutschland erleben die meisten Rettungskräfte in ihrer gesamten Berufslaufbahn vielleicht zehn sehr tragische Fälle mit Kindern. Wir hatten zeitweise fünf schwerstverletzte Kinder und Säuglinge am Tag. Da kam ein Kind mit Kopfschuss, das ist nach erfolgloser Reanimation verstorben. Und während wir noch alles versucht haben, kam schon eine Familie mit drei weiteren verletzten Kindern rein. Da ging es dann gleich mit einer erfolglosen Baby-Reha weiter. Das nächste Kind hatte mehrere Amputationsverletzungen und ein Auge durch eine IED verloren. Wenn im Minutentakt so etwas auf dich einprasselt, dann kannst du das gar nicht verarbeiten. Dafür ist einfach keine Zeit. Du hast auch keine Zeit und emotionalen Ressourcen, um Sterbende zu betreuen. Das kann man alles nur verdrängen. Da ist Krieg, da passieren die allerschlimmsten Sachen. Krieg ist einfach Kacke.

Das Interview wurde in Berlin geführt. Tobias ist mittlerweile wieder im Irak. Er will sich mit seinem Lazarett bald auf den Weg nach Tal Afar oder Rakka in Syrien machen, wo der Krieg gegen den IS noch immer tobt.

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