Zwei Frauen in der Serengeti (Tansania), die im Rahmen des Frauenehe-Brauchs Nyumba Ntobhu geheiratet haben
Busina Samir (links) und Robi Matiko vom tansanischen Stamm der Kuria sind verheiratet | Alle Fotos von den Autorinnen

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Feminisme

Warum Frauen im homofeindlichen Tansania Frauen heiraten dürfen

Im Stamm der Kuria hat die "Frauenehe" Tradition und bedeutet für viele Schutz vor Gewalt und Einsamkeit. Das ist aber nur eine Seite der Geschichte.

Jeden Sommer verbringen Frischverheiratete ihre Flitterwochen an malerischen Orten wie dem Serengeti-Nationalpark in Tansania. Dort stoßen sie beim blutroten Sonnenuntergang an und schlafen in Zelten, während draußen Elefanten und Giraffen vorbeiziehen. Ein märchenhafter Beginn für eine Ehe.

Unweit dieser Märchenszenen erleben tansanische Frauen eine völlig andere Form von Ehe. Die 54-jährige Robi Matiko und die 26-jährige Busina Samir sind seit zwei Jahren verheiratet, schlafen aber in getrennten Betten und tragen keine Ringe. Die Frauen leben im Norden Tansanias, unweit der Grenze zu Kenia. Jeden Tag stehen sie im Morgengrauen auf und bestellen zusammen die Felder. Abends kochen sie und baden ihre vier Kinder. Busina erwartet ihr fünftes und schuftet trotz ihres großen Bauchs täglich auf dem Feld.

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In Tansania ist die gleichgeschlechtliche Ehe verboten. Seit zwei Jahren geht die Regierung verstärkt gegen homosexuelle Menschen vor. Aber Matiko und Samirs Beziehung ist weder romantisch noch sexuell. Die beiden haben ihren Bund im Rahmen einer Stammestradition geschlossen: Die Frauenehe "nyumba ntobhu" ("Haus der Frauen") ermöglicht es Witwen ohne männliche Nachkommen, eine jüngere Frau zu heiraten, die einen Sohn hat – oder vielleicht noch haben wird. Dieser Sohn kann dann das Land der älteren Frau erben und ihre Familie offiziell weiterführen.

Matiko und Samir gehören zum Stamm der Kuria, einer großen ethnischen Gruppe in Tansania und Kenia. Der Stamm ist zutiefst patriarchal, praktiziert Genitalverstümmelung an Mädchen und Polygamie. Oft werden Mädchen mit nur 13 Jahren verheiratet, für einen Brautpreis von neun Kühen.

Ein Anführer im Dorf der beiden Frauen, Mwita Wambura Nsabi, erklärt gegenüber Broadly, die Frauenehe gebe es bei den Kuria schon seit Tausenden Jahren. "In den 1970ern entschieden sich immer mehr für Nyumba Ntobhu", sagt Nsabi. "Die Stammesgemeinschaft stigmatisiert das nicht, also ist auch nichts Schlechtes dran."

Matikos und Samirs Ehe macht aus ihnen keine Familie, wie wir sie kennen. Muss es bei einer Ehe also wirklich um romantische Liebe gehen? Oder nicht doch darum, eine Lebensgemeinschaft zu bilden, in der man sich gegenseitig unterstützt?


Broadly-Video: Zu Besuch in den kenianischen Dörfern, in denen ausschließlich Frauen leben

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Wie in vielen Ländern in Afrika und Nahost verbietet der Brauch in Tansania Frauen, Eigentum zu haben oder zu erben. Wer in ländlichen Gebieten kein Stück Boden besitzt, hat auch nicht zu essen, geschweige denn eine Einkommensquelle. Die Frauen sind quasi obdachlos und ihr Leben lang abhängig von Männern.

In einer solchen Gesellschaft ist die Ehe die einzige Option für Frauen. Doch sie bietet keine lebenslange Sicherheit. Wenn der Mann stirbt, ist die Witwe gefährdet. In vielen afrikanischen Stämmen bestimmt die Familie des Mannes nach dessen Tod über die Witwe. Häufig soll sie dann einen Bruder, Cousin oder Onkel des Mannes heiraten.

Pregnant woman standing silhouetted against the sun

Busina Samir erwartet ihr fünftes Kind

Matiko hatte ein gutes Verhältnis zur Familie ihres Mannes. Doch als er 1998 starb, fingen die Verwandten an, Druck auf sie auszuüben. Sie verlangten ständig Geld von Matiko, um davon Getreide mahlen zu lassen. Dann forderten sie mehr, wollten einen Teil der Mais- und Hirsefelder, die Matikos Mann gehört hatten.

Der tansanische Staat räumt Frauen und Männern dieselben Grundbesitzrechte ein. "Aber vor diesen Gesetzen hatten wir unsere eigenen Regeln", sagt Beatha Fabian von der tansanischen NGO Land Rights Research & Resources Institute. "Die meisten Traditionen in unserem Land benachteiligen Frauen – das erschwert die Einhaltung der Gesetze."

Acht von zehn Menschen in Tansania leben von der Landwirtschaft. Frauen machen in diesem Bereich 51 Prozent der Arbeiterinnen aus, aber nur 19 Prozent von ihnen besitzen selbst Land. "Meist sind es Frauen, die das Land tatsächlich bestellen", sagt Fabian. "Das Problem liegt also nicht im Zugang oder im Wissen um die Landwirtschaft. Es geht einfach um Eigentum."

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Im Januar 2007 schleuderte Matikos Schwager einen Stein auf die Witwe, als sie um Land stritten. Er brach ihr das rechte Bein und mehrere Rippen. "Ich lag einen Monat lang zu Hause und hoffte, das alles von allein heilt", erinnert sich Matiko. "Ich hatte niemanden, der mich ins Krankenhaus gebracht hätte." Sie reibt sich den rechten Oberschenkel, während sie spricht. Die Schmerzen seien so schlimm gewesen, dass sie einen Medizinmann um Hilfe gebeten habe. Er habe ihr Bein geheilt, aber nicht vollständig. "Ich habe heute noch Schmerzen und kann keine langen Strecken gehen."

Married same-sex couple Robi Matiko and Busina Samir

Robi Matiko (links) und Busina Samir sind seit zwei Jahren verheiratet

Matiko hatte zwar vier Töchter, doch sie waren alle schon verheiratet. Wer würde sich um sie kümmern? Also fing sie an, über Nyumba Ntobhu, die Frauenehe, nachzudenken.

Die alte Tradition ist für viele Kuria-Frauen zur Lebensretterin geworden. Die Region Mara, wo die Kuria die Mehrheit der Bevölkerung stellen, hat die höchste Rate häuslicher Gewalt in ganz Tansania. Laut Studien der Regierung und der Vereinten Nationen wurden dort 78 Prozent der Frauen von ihren Ehemännern sexuell, physisch oder psychisch missbraucht.

Busina Samir war eine solche Frau. Vor ihrer Ehe mit Matiko war sie die Zweitfrau eines Mannes. Er zwang sie zu arbeiten und enthielt ihr Essen vor: "Wenn du ein Baby zu versorgen hattest, musstest du eben mit dem Kind aufs Feld", erklärt Samir. "Wenn du nicht gehst, wirst du geschlagen."

Samir musste ihrem gewalttätigen Mann entkommen. Matiko brauchte einen Menschen, der sich um sie kümmert. Heute sind die beiden seit zwei Jahren verheiratet. "Vor unserer Nyumba-Ntobhu-Hochzeit war ich einsam, aber jetzt bin ich glücklich", sagt Matiko. "Zu Hause bin ich immer von Leuten umgeben."

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"Heute leide ich nicht mehr", sagt auch Samir. Die beiden Frauen teilen sich die Ernte, die sie erwirtschaften, und ernähren davon die Kinder. Bald werden sie zu siebt sein.

Women and children in front of home in Tanzania

Matiko und Samir mit ihren Kindern

Viele Kuria haben in der Frauenehe Sicherheit und Unterstützung gefunden, doch nicht alle sind so glücklich wie Matiko und Samir. Robi Ester ist 35 Jahre alt und seit fast zehn Jahren mit Robi Werema verheiratet. Die beiden leben zusammen in Nyakanga, einem hügeligen Dorf südöstlich des Victoriasees. Dort verdorrt der Mais schnell, oft sind die Ernten spärlich. Werema weiß nicht, wann sie geboren wurde. "Ich könnte 80 oder 100 sein", sagt sie. Im Laufe der Ehe hat ihre jüngere Frau Ester vier Kinder zur Welt gebracht – drei Mädchen und einen Jungen, von zwei verschiedenen Männern.

In einer Nyumba-Ntobhu-Ehe kann die jüngere Frau sexuelle Beziehungen mit Männern führen. Man erwartet von ihr, dass sie für die Familie der älteren Frau Kinder zur Welt bringt. Die Väter haben keine Ansprüche auf die Kinder.

Ester sucht sich ihre Partner selbst aus und entscheidet, wann sie die Beziehung beenden möchte. Der Vater der ersten zwei Kinder missbrauchte sie. "Er war Alkoholiker und hatte sein Leben nicht im Griff", erklärt sie. "Immer wenn er vom Trinken heimkam, verprügelte er mich. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich sagte: 'Lass mich Frieden finden, ich bin es leid, verprügelt zu werden!'" Dann habe sie ihn aufgefordert zu gehen.

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Zwei Monate darauf fand sie einen neuen Partner. "Er ist ein erwachsener Mann mit einem klaren Kopf", sagt Ester. Sie zeugten zwei Kinder zusammen, obwohl der Mann mit einer anderen verheiratet ist. Kritik aus ihrem Umfeld ist Ester längst gewohnt: "Sie sagen, Frauen, die eine Nyumba-Ntobhu-Ehe führen, würden anderen Frauen die Ehemänner ausspannen."

Women in nyumba ntobhu marriage pose outside their house

Die Ehefrauen Robi Werema (links) und Robi Ester

Doch es war nicht Esters Entscheidung, eine Frau zu heiraten – ihre Familie zwang sie dazu. Sie war das sechste von acht Kindern, in besonders patriarchalen Gesellschaften gelten Mädchen für arme Familien als finanzielle Belastung. Oft sehen die Eltern keinen anderen Weg, als die Mädchen für einen Brautpreis zu verkaufen. Werema bot Esters Familie fünf Kühe, damit war der Handel besiegelt.

Ester versuchte zu fliehen, doch ihr Vater spürte sie auf und verprügelte sie mit einer Fahrradkette. Sie zeigt Broadly die Narben an ihren Knien. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, als sie sich an die Anfangszeit erinnert: "Als ich hier ankam, gab es kein Haus, nur eine kleine Hütte, die wir uns alle teilten. Ich schlief auf einer Luftmatratze und hatte nicht mal Kleidung. Ich trauerte."

Um die Familie über Wasser zu halten, suchte Ester sich mehrere Jobs: Sie hackte Holz, braute alkoholische Getränke, briet Fische und verkaufte sie. Die Nyumba-Ntobhu-Ehe wünscht sie weder ihren Töchtern noch einer anderen Frau. "Ich bin allein für den Lebensunterhalt und die gesamte Arbeit zuständig. Wenn diese Frau krank wird, ist das mein Problem. Wenn meine Kinder krank werden, haben sie auch nur mich", erklärt Ester. "Diese Frau", so bezeichnet sie ihre Ehefrau Werema.

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Old woman has her hair cut

Robi Werema lässt sich die Haare schneiden

Nyumba Ntobhu ist keine Lösung für die Probleme der Kuria-Frauen. Bestenfalls ist die Frauenehe ein kleiner Ausgleich. Die Wurzel des Problems bleibt bestehen: Die Bürger- und Menschenrechte der Frauen werden missachtet, sie dürfen kein Eigentum haben und werden in wirtschaftlicher Abhängigkeit von Männern gehalten.

Viele NGOs und Forscher kritisieren den Brauch der Kuria-Frauenehe, weil sie die ausbeuterischen Machtverhältnisse der Mann-Frau-Ehe teils reproduzieren. "Die jüngere Frau hat auch kein Recht auf Eigentum, später steht sie mit leeren Händen da", erklärt Emmanuel Clevers, ein Anwalt von der Menschenrechtsorganisation Centre for Widows and Children Assistance in der Region Mara. "Man nimmt ihr die Kinder weg, schließlich gehören sie offiziell der Familie der älteren Frau. Und im Gegenzug bekommt sie nichts, wovon sie leben könnte."

Außerdem seien die jüngeren Frauen oft gezwungen, Sex mit Männern zu haben, die die älteren Frauen aussuchen, so Clevers. Das erhöhe die Gefahr, sich mit HIV oder Geschlechtskrankheiten zu infizieren. "Ein Mann mit einer schlimmen Krankheit kann zum Tod der Frau führen. Und ihre Kinder haben dann weder Mutter noch Vater."

Robi Ester stands in the doorway of her home

Ester wurde von ihrer Familie mit Werema zwangsverheiratet

Eines Tages wird Esters Sohn – er heißt mit Vornamen Werema – das Land von Robi Werema erben. Darauf stehen auch die zwei kleinen Häuser aus Ziegeln und Lehm, die Ester von ihrem erarbeiteten Geld gebaut hat. Der 17-Jährige hilft seiner Mutter jeden Morgen beim Holzhacken, sodass sie die Scheite auf dem Dorfmarkt verkaufen kann. Ein Bündel ist keine 90 Cent wert. "Er ist noch jung, ich muss ihm noch viel beibringen", sagt Ester.

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Sie hat Angst vor schlechten Einflüssen auf Werema. "Die Jungen hier trinken gleich nach dem Aufstehen", erklärt sie. Die Macht der Männer reicht so weit, dass auch minderjährige Jungen ihre Mütter herumkommandieren. "Sie lassen sich den ganzen Tag zulaufen, und wenn sie heimkommen, verlangen sie Essen von ihren Müttern." Theoretisch könne ihr Sohn sie auch eines Tages aus dem Haus werfen, sagt Ester.

Der Sonnenuntergang färbt Esters mühsam erarbeitete Ziegelhäuschen orange. Ester sortiert Mais, der tagsüber auf dem staubigen Asphalt in der Sonne getrocknet ist. Ihre Ehe mit einer Frau wurde ihr aufgezwungen, doch einen Mann würde sie auch nicht heiraten, wenn sie die Wahl hätte: "Ich würde mir wünschen, gar nicht zu heiraten."

Ihr Lächeln reicht bis zu den Augen, als sie von ihrem Wunschleben erzählt: "Ich würde zu Hause bleiben und von dort mein Geschäft betreiben. Ich würde Land finden, Mais anbauen und ihn verkaufen. Ich würde fischen gehen und den Fisch verkaufen. Und von dem Geld meine Kinder ernähren."

Dieser Artikel wurde finanziert von der Bill & Melinda Gates Foundation (im Rahmen des Innovation in Development Reporting Grants Programme des Non-Profit-Instituts European Journalism Centre) sowie von der International Women's Media Foundation und der African Great Lakes Reporting Initiative.

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