Könnte in dem 61-jährigen Sozialdemokraten nun trotzdem ein feministischer Vorzeigepolitiker à la Trudeau schlummern? Und: Wie positioniert sich Merkel zu Frauenpolitik und den Rechten von LGBTQ? Deutlich werden die Unterschiede bei den Kandidat_innen und ihren Parteien, wenn man sie auf konkrete feministisch geforderte Themen festnagelt.Neue Einigkeit beim Gender Pay GapAn einem Thema kommen beide Kandidaten nicht vorbei: dem Gender Pay Gap. Rund 20 Prozent (im Moment: 21) weniger verdienen vollzeitbeschäftigte Frauen in Deutschland im Schnitt als Männer. Doch selbst wenn man strukturelle Probleme ausklammert, wie unterschiedliche Branchen, in denen Männer und Frauen arbeiten, bleibt eine Lücke. Laut Statistischem Bundesamt beträgt der bereinigte Gap aktuell rund sechs Prozent. Dass daran etwas geändert werden muss,darüber ist man sich in der Politik relativ einig. Verkleinert hat sich die Lücke in den letzten Jahren trotzdem nur im Schneckentempo.Mehr lesen: Dinge, die in Deutschland besser geschützt sind, als Frauen
Denn: Das Problem sitzt tiefer als die Zahl auf den ersten Blick glauben lässt. Fast drei Viertel des Lohnunterschieds lassen sich auf tiefe, strukturelle Probleme zurückführen. Darauf etwa, dass Frauen oftmals in Branchen arbeiten, in denen das Lohnniveau generell niedriger ist, etwa in sogenannten "Care-Berufen" (als Krankenpflegerinnen oder Erzieherinnen). Außerdem nehmen sie häufiger Auszeiten – etwa für die Kinderbetreuung – und gelangen seltener in Führungspositionen."Die Arbeit von Frauen wurde auf dem Arbeitsmarkt konstant abgewertet. Um da etwas zu bewirken, müsste sich zunächst die Wertschätzung dieser Arbeit in der Gesellschaft dramatisch verändern", sagt die Politikwissenschaftlerin Berghahn. Doch auch andere strukturelle Hindernisse stehen der Schließung des Gender Pay Gap im Weg. Problematisch ist hier unter anderem das Ehegattensplitting, das die Union zu großen Teilen unter dem Namen Familiensplitting beibehalten und erweitern will.Die Arbeit von Frauen wurde auf dem Arbeitsmarkt konstant abgewertet.
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Verheiratete Paare werden dabei gemeinsam besteuert. Sie profitieren vom Ehegattensplitting am meisten, je größer die Gehaltsunterschiede sind. Denn schmilzt der Gehaltsunterschied, verlangt der Staat einen höheren Steuersatz. So rentiert es sich für die meist schlechter verdienenden Frauen kaum, mehr zu arbeiten. Das fördert indirekt alte Rollenbilder – und das in einer Zeit, in der mehr als 70 Prozent der deutschen Väter gerne kürzer treten würden."Wir wissen alle, dass Ehegattensplitting in der Praxis Frauen schadet", sagt Berghahn. Dass Merkel das Splitting bislang am Leben hält, liegt laut der Politikwissenschaftlerin an der Wählerschaft ihrer Partei. "Die CDU richtet sich ja an die sogenannte Mitte. Dort sind diejenigen situiert, die in eher traditionellen Verhältnissen leben – in Ehen, wo der Mann noch Hauptverdiener ist. Und die profitieren zunächst natürlich einmal vom Splitting, nur macht es Frauen eben langfristig abhängig von ihren Partnern." SPD und Schulz wollen das Ehegattensplitting deshalb auslaufen lassen und stattdessen einen steuerlichen Familientarif einführen, von dem Familien unabhängig des Beziehungsstatus ihrer Eltern profitieren sollen.
Zudem wollen die Sozialdemokraten mit Schulz das Recht auf die Rückkehr in Vollzeit durchsetzen, von dem besonders Frauen profitieren würden. Denn im Moment sind es meist noch sie, die wegen der Familienplanung längere Auszeiten vom Job nehmen und danach in der sogenannten Teilzeitfalle festsitzen. Viele Frauen, die Teilzeit arbeiten, würden nämlich gerne mehr arbeiten. Und Teilzeit heißt nicht nur schlechtere Karrierechancen, sondern am Ende auch deutliche Einbußen bei der Rente. Diese Forderung ist deshalb sicherlich unterstützenswert, neu ist sie allerdings nicht.Irgendwann hat man so viele leere Versprechen gehört, dass klar ist: So geht es nicht.
Angela Merkel und Präsident Donald Trump beim USA-Besuch der Bundeskanzlerin im März. Foto: imago | ZUMA Press
Auch in Hinsicht auf die Frauenquote in Vorständen hat Merkel ihre Meinung geändert. Als die damalige Arbeitsministerin – Merkels Parteikollegin Ursula von der Leyen (CDU) – 2011 eine Frauenquote von 30 Prozent in Vorständen forderte, schob Merkel ihr noch den Riegel vor. Vier Jahre später setzte sich Merkel dann aber doch für die Frauenquote ein. Diesmal hatte die SPD die Forderung nach einer Quote in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt und die aktuelle Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) ein Gesetz vorgelegt. "Ich war lange gegen eine Quote. Aber irgendwann hat man so viele leere Versprechen gehört, dass klar ist: So geht es nicht", erklärt Merkel ihren Sinneswandel heute.Mehr zum Thema: Der Gender Pay Gap macht Frauen nicht nur arm, sondern krank
Wenn es hart auf hart kommt, hat das Thema auch für die SPD keine Priorität in den Koalitionsverhandlungen.
Martin Schulz bei einer Wahlkampfveranstaltung in Saarbrücken. Foto: imago | Becker&Bredel
Den Druck aus der konservativen, älteren Ecke der eigenen Partei sieht auch Berghahn als Hintergrund für Merkels "Nein". "Das mit dem schlechten Bauchgefühl nimmt man ihr nicht ab. Merkel hat keine Vorurteile gegen Lesben und Schwule, doch sie muss als Parteivorsitzende den christlich-konservativen Chorgeist der CDU repräsentieren."Wie genau ein konservativer Chorgeist im Jahr 2017 aussehen soll, darüber ist man sich in der Union wohl uneins. Sandra Cegla, Vorsitzende der Frauenunion Mitte und stellvertretende Landesvorsitzende der Lesben- und Schwulenunion Berlin, lebt selbst in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft und kann die Haltung ihrer Partei in diesem Punkt nicht nachvollziehen. Auch in der Union sei der Druck – besonders von Seiten der LSU – sehr hoch.Das ist der einzige Punkt, in dem ich mich im Moment schäme, in der CDU zu sein. Das ist so antiquiert, da kann man heute selbst mit einem modernen Verständnis von konservativ nicht mehr argumentieren.
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"Das ist der einzige Punkt, in dem ich mich im Moment schäme, in der CDU zu sein. Das ist so antiquiert, da kann man heute selbst mit einem modernen Verständnis von konservativ nicht mehr argumentieren", sagt sie. "Wenn sich Angela Merkel für die Ehe für alle stark machen würde, dann wäre es gemacht – egal was die Erzkonservativen innerhalb der Union wollen."Die Kanzlerin hat im Gegensatz zu ihrem Konkurrenten Frauen und LGBTQ in diesem Wahlkampf noch wenig versprochen. Vielleicht blickt man in der Frauenunion auch deshalb momentan noch lieber in die Vergangenheit, als in die Zukunft. Unter Merkel sei schließlich auch schon viel Positives für Frauen und LGBTQ umgesetzt worden, betont etwa Cegla von der Frauenunion, "aber das spricht Schulz natürlich nicht an."Das stimmt natürlich zunächst einmal. Wer auf über zehn Jahre Merkel-Kanzlerschaft zurückblickt, sieht unter anderem Errungenschaften wie das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, sowie viele familienpolitische Maßnahmen wie das Elterngeld, den Rechtsanspruch auf Kitas, das Mutterschutzgesetz, das verschärfte Sexualstrafrecht und aktuell die (längst überfällige) Entschädigung der Opfer von Paragraph 175.
Die treibenden Kräfte hinter diesen Errungenschaften waren unter Merkels Schirmherrschaft meist die jeweiligen Familien- oder Arbeitsministerinnen – und die kamen aus beiden Parteien. "Das feministische Element, das Merkel zu einem gewissen Grad mitträgt, hat sie in der Vergangenheit bestimmten Ministerinnen überlassen", sagt Berghahn. Besonders Ursula von der Leyen (CDU) und Manuela Schwesig (SPD) seien hierbei zu nennen.Solche Themen sind eben nicht besonders unterhaltsam und bekommen kaum Beachtung in der Gesellschaft.
Genug passiert ist allerdings nicht – zumindest in diesem Punkt sind sich die Expertinnen, mit denen wir sprechen konnten, einig. Die Politikwissenschaftlerin Berghahn fordert, dass gerade beim Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz noch dringend nachgebessert werden müsse. In der Praxis gäbe es da noch zu viele Lücken, unter denen gerade die LGBTQ-Gemeinschaft leide. Dass solche Themen unter Politikern wenig populär sind, liegt laut ihr auch am gesellschaftlichen Klima. "Wer sich heute in der Politik als Feminist oder Feminist outet, wird in die links-alternative Ecke gestellt", sagt Berghahn. Nicht nur in Kreisen der AfD, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft sieht sie einen wachsenden Anti-Feminismus.Neben der Frage, wer in diesem Herbst Kanzler/in wird, wäre deshalb wohl zunächst auch ein Mentalitätenwandel in der Gesellschaft wichtig. Denn solange Feminismus gerade in der Politik noch ein negativ besetzter Begriff bleibt und politische Maßnahmen, die Frauen und LGBTQ betreffen, als zweitrangig eingeordnet werden, wird sich in dieser Hinsicht nur langsam etwas verändern können – egal ob unter Schulz oder Merkel. Es liegt also an uns, auch zukünftig genauer hinzusehen, inwiefern feministische Anliegen in der Praxis tatsächlich umgesetzt werden.Folgt Broadly bei Facebook, Twitter und Instagram.Mehr lesen: Warum Politikerinnen oft als 'heimlich lesbisch' bezeichnet werden
Titelbild: Rebecca Rütten (Merkel: European People's Party | Flickr | CC BY 2.0; Schulz: SPÖ Presse und Kommunikation | Flickr | CC BY-SA 2.0; Hintergrund: Jinterwas | Flickr | CC BY 2.0; Weiblichkeitssymbol: AnonMoos | Wikimedia Commons | Public Domain; Herz: Kaitlyn | Sketchport | CC BY 4.0)