WikiLeaks

Warum wir alle um Julian Assange bangen sollten

Der WikiLeaks-Gründer hat viel falsch gemacht, sich wie ein Idiot verhalten. Dass ihm nun bis zu 175 Jahre Haft drohen, sollte aber uns alle aufschrecken.
Julian Assange kurz nach seiner Festnahme vor einer US-Flagge
Bild: US-Flagge: Wikipedia | Assange: imago images | ZUMA Press

2012 habe ich ein ziemlich plumpes Theaterstück in Köln gesehen, es hieß "Assassinate Assange". Die Schauspielerinnen hatten sich als weiße Gorillas verkleidet; vielleicht um zu sagen: "Seht ihr, so ist Julian: Ein ungezähmtes, starkes Tier, dem jeder an den Kragen will. Aaaber! Sind wir nicht alle ein bisschen Julian?"

Die Regisseurin Angela Richter hatte den WikiLeaks-Gründer Julian Assange sechs Mal besucht und war anscheinend sehr von ihm beeindruckt. Nach dem Theaterstück gab es Konsens-Podiumsdiskussion, geprägt von blinder Wut auf die USA. Der Hacker Jacob Appelbaum redete dabei gefühlte 80 Prozent und stilisierte sich selbst als Opfer der Geheimdienste. Er trug aus irgendwelchen Gründen ebenfalls ein weißes Gorilla-Plüschkostüm.

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Um den aktivistischen Selbstdarstellungs-Kreis zu schließen, verkaufte Richters Ehemann, der berühmte Künstler Daniel Richter, überteuerte T-Shirts als Spende für WikiLeaks. Darauf zu sehen: Eine Skizze von Assanges Gesicht und die Aufschrift "Stop The Bigotry / Let Assange Walk Free". Ratet mal, wer sich trotz allem so ein bescheuertes T-Shirt gekauft hat? Nun ja.

Dieses T-Shirt habe ich seitdem nur an verkaterten Sonntagen zuhause getragen, mich oft dafür geschämt. Noch öfter habe ich überlegt, ob ich es wegwerfen soll. WikiLeaks als Idee finde ich immer noch wichtig. Aber es fällt mir schwer, Assange öffentlich zu unterstützen. Dafür hat er sich in meinen Augen nach den Vergewaltigungsvorwürfen, antisemitischen Ausfällen, mit der Veröffentlichung gestohlener E-Mails der US-Demokraten und geschmacklosen Tweets viel zu weit ins Abseits befördert. Und trotzdem: Es gibt einen Grund, warum uns das, was Assange aktuell widerfährt, alle angeht. Wir sollten uns wieder positionieren.

Der Grund ist 37 Seiten lang: Es gibt eine neue Anklageschrift gegen Julian Assange. Das US-Justizministerium veröffentlichte diese am Donnerstag, den 23.Mai. Die Staatsanwaltschaft wirft Assange vor, geheime militärische und diplomatische Dokumente beschafft und veröffentlicht zu haben. Es ist das erste Mal in der Geschichte der USA, dass der Staat einen Publizisten wegen Verstößen gegen das Spionagegesetz anklagt. Für die 17 Anklagepunkte drohen Assange insgesamt bis zu 175 Jahre Haft.

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Doch diese Anklage ist nicht nur ein Angriff auf Transparenz, sondern auch, ganz allgemein, gegen den Journalismus. Das First Amendment, der erste Verfassungszusatz der USA, sichert Meinungs- und Pressefreiheit zu. Würde Assage aber wegen der Verstöße gegen das Spionagegesetz verurteilt werden, käme dieser Grundsatz ins Wanken – und damit eines der wichtigsten Prinzipien der Demokratie. Bürgerrechtler fürchten ein Präzedenzfall, also dass nach dieser Entscheidung weitere Medienunternehmen oder auch Journalisten verurteilt werden können, wenn sie geheime Informationen veröffentlichen.

Es stellt sich aber auch die Frage, ob Assanges Arbeit bei WikiLeaks überhaupt als Journalismus gilt. Das Prinzip WikiLeaks lautet: Daten gegen die Mächtigen. Dahinter steckt die Überzeugung, dass die Öffentlichkeit die gesamte, unredigierte und unzensierte Wahrheit verdient hat. Informationen wollen frei sein, behauptet WikiLeaks. Zwar ordnet WikiLeaks nicht ein, sondern veröffentlicht nur große Mengen Informationen – doch eine Redaktion gibt es trotzdem. Die Mitarbeitenden bezeichnen sich selbst auch als Journalisten. Obwohl Assange kein konventioneller Reporter oder Redakteur ist, kann man seine Arbeit bei WikiLeaks rechtlich nur schwer von den Aufgaben einer klassischen Nachrichtenorganisation trennen.

Vom Märtyrer zum Aluhut und zurück: Warum Assange so umstritten ist

Was also macht Julian Assange so kontrovers? Falls ihr die jahrelange Achterbahnfahrt um seine Person nicht mitbekommen habt, hier eine grobe Zusammenfassung:

Es gibt nur wenige Menschen, dessen Ansehen in der Gesellschaft so radikal schwankt. Als der Australier Julian Assange 2006 die Whistleblower-Plattform WikiLeaks gründete, feierten ihn politische Aktivisten, Hackerinnen und Menschenrechtler für seine furchtlose Art, Regierungen durch Internet-Leaks sensibler Dokumente zur Rechenschaft ziehen zu wollen. WikiLeaks veränderte viel: Hätte es die Iraq War Logs nicht gegeben, hätten wir nie vom Ausmaß der Kriegsverbrechen der USA im Nahen Osten erfahren. Ohne WikiLeaks hätte die Welt nicht über die düsteren Praktiken des internen Scientology-Geheimdienstes erfahren, oder Details über den Afghanistankrieg, die die USA verschweigen wollte.

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WikiLeaks zeigte, dass es durchaus eine ethische Verpflichtung zum Geheimnisverrat geben kann. Ohne die Plattform hätten vielleicht auch Whistleblower wie Edward Snowden, der sein Leben für die Enthüllung eines aus den USA gesteuerten globalen Überwachungsprogramms riskiert hat, nicht die Unterstützung bekommen, die sie verdient haben. Vielleicht hätte er auch nie den Mut gefunden, systematische Missstände anzuprangern.

Assange wohnte auf acht Quadratmetern, sieben Jahre lang verließ er die Botschaft nicht

Assange galt als unbeirrbarer Krieger für Transparenz und Gerechtigkeit, sein Gesicht war auf dem Cover des TIME-Magazin. Dann aber flüchtete Assange aus Schweden in die ecuadorianische Botschaft in London. In Schweden hatten ihn zwei Frauen beschuldigt, dass er sie vergewaltigt haben soll. Assange sollte in Schweden befragt werden, aber er fürchtete, von dort aus irgendwann in die USA ausgeliefert zu werden. Sein Exil wurde sein Gefängnis – und er zum wohl berühmtesten Insassen der Welt. Die Londoner Polizei beobachtete die Botschaft rund um die Uhr und hätte ihn beim ersten Schritt vor die Tür sofort festgenommen. Er wohnte auf acht Quadratmetern. Sieben Jahre lang verließ er die Botschaft nicht.

Doch in dieser Zeit fuhr er sich selbst und sein Projekt weiter gründlich gegen die Wand: erst mit kruden Verschwörungstheorien, dann mit Leaks aus der Türkei, die durch Klarnamen den Schwächsten in der Gesellschaft schadeten anstatt die Regierungspartei zur Rechenschaft zu ziehen. Schließlich veröffentlichte er gestohlene Mails von einem russischen Hacker. Er ließ sich zu einem Werkzeug der russischen Einflussnahme auf die US-Wahl machen – aus der Trump als strahlender Sieger hervorging.

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"Ich liebe WikiLeaks!", tönte Trump bei einer Rallye in Pennsylvania. Doch weil Trump Trump ist, gilt seine Liebe natürlich nur so lange, wie ihm das Objekt seiner Zuneigung auch direkt nützt. Dieser Nutzen ist jetzt vorbei. Und jetzt ist Assange dran. Wohlgemerkt nicht, weil WikiLeaks von Russland gestohlene Mails mitten im Wahlkampf veröffentlicht hat.

Die fragwürdige Festnahme: Assange bleibt bis zur letzten Sekunde wehrhaft

Ende 2018 kam plötzlich Bewegung in Assanges Situation: Erst verplapperte sich ein Staatsanwalt. Er verriet, dass Assange in den USA längst angeklagt worden war – zuvor gab es darüber jahrelang keine Information.

Kurz danach sollen sich der ecuadorianische Präsident Lenín Moreno und Trumps ehemaliger Wahlkampfmanager Paul Manafort getroffen haben. Sie sollen über einen möglichen Schuldenschnitt für das südamerikanische Land gedealt haben, so berichtete es die New York Times. Damit berief sich die Zeitung auf drei anonyme Quellen. Was Ecuador den USA im Gegenzug dafür angeboten haben soll? Julian Assange.

April 2019: Polizisten zerren ein schreiendes und tretendes Männchen mit Rauschebart aus der ecuadorianischen Botschaft. Das Bild von Assange: eine schmächtige, leicht verwahrlost wirkende Person, die bis zur letzten Sekunde Widerstand gegen die Staatsgewalt leistet.

Ecuador hatte tatsächlich Assanges Asylstatus aufgehoben.

Nun sitzt Assange in London in Haft – nicht nur, weil er 2012 vor der Justiz in die Botschaft geflüchtet war, sondern auch, wie Scotland Yard bestätigte, weil es einen Auslieferungsantrag gegen ihn aus den USA gibt. Genau das hatten Assange und seine Unterstützer und Unterstützerinnen immer als Worst-Case-Szenario befürchtet. In den USA soll er sich laut dieser ersten Anklage gemeinsam mit der WikiLeaks-Whistleblowerin Chelsea Manning wegen Hacking-Vorwürfen verantworten. Allerdings "nur", weil er Manning geholfen haben soll, ein Passwort zu knacken.

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Die neue Anklage ist ein Angriff auf die Pressefreiheit

Die neue, zweite Anklage von diesem Donnerstag wiegt weitaus schwerer. Sie macht Assange zu Mannings Mitverschwörer. Sie sollen gemeinsam geheime Dokumente beschafft und veröffentlicht haben. Genau damit will das Justizministerium nun an einer weiteren Gewissheit von US-amerikanischen Journalisten und Journalistinnen rütteln: Denn bisher konnten diese nicht dafür belangt werden, wie sie Dokumente erlangen. Das könnte sich nun ändern und die Presse als Kontrollinstanz von Regierungen fundamental schwächen. "Das Justizministerium hat dem Journalismus den Krieg erklärt", twitterte Edward Snowden.

Julian Assange ist zu einem Spielball geworden: Für Ecuador schien er wie ein lästiges Pfand, das man je nach politischer Wetterlage gegenüber den USA einsetzen oder aufgeben kann. Für die Trump-Administration scheint er wie ein Instrument, mit dem man andere Whistleblower einschüchtern kann. Dazu kommt: Die Arbeit von investigativen Journalisten zu kriminalisieren, gerade wenn sie sich mit Fragen der Sicherheitspolitik oder Außenpolitik beschäftigen, ist ein gefährlicher Charakterzug von Demokratien, die bereits auf dem zur Weg zur Autokratie sind.

Deswegen behalte ich das fragwürdige Assange-T-Shirt; vielleicht ziehe ich es auch wieder außerhalb der Wohnung an. Ich sehe Assange nicht als Märtyrer, sondern als verwirrten, zu Unrecht eingesperrten Typen mit mindestens einer sehr guten Idee. Was aber mit ihm passiert, das wird auch meinen Beruf, das Selbstverständnis einer der größten Demokratien der Welt und letztlich die Selbstverständlichkeit beeinflussen, mit der wir an Freiheit denken.

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