Politik

Pizza bestellen für die Polizei gilt in Sachsen als linke Straftat

Warum Social-Media-User sich jetzt darüber lustig machen, die Einschätzung des Landeskriminalamts aber nicht vollkommen abwegig ist.
Jemand wirft eine Pizza
Bild bestehend aus: Person: imago images / Bettina Strenske | Pizza: publicdomainpictures.net

Polizei Sachsen, Pizza Hawaii, "politisch motivierte Kriminalität links" – das sind die drei Zutaten, die dafür gesorgt haben, dass ein Tweet, den ich nebenbei abgesetzt habe, in den letzten drei Tagen viral ging. In dieser Zeit habe ich gelernt, dass es verdammt einfach ist, im Internet Aufmerksamkeit zu erregen, vor allem wenn eine Meldung scheinbar alle Klischees bedient. Dabei steckt hinter der Meldung über mutmaßlich linksextreme Pizza mehr als nur das Bild von sächsischen Sicherheitsbehörden mit dem Gesicht des Dresdner Hutbürgers. Doch der Reihe nach.

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Über 500 Fälle nennt das Landeskriminalamt Sachsen in einer aktuellen Auflistung der "politisch motivierten Kriminalität" (PMK) in Leipzig für das Jahr 2018. Neben gewalttätigen Übergriffen, Hitlergrüßen und jeder Menge politischer Graffiti stehen am Ende der Liste auch drei Einträge, die bereits auf den ersten Blick merkwürdig wirken. "Täter bestellte für andere Waren im Internet" lautet die Zusammenfassung, eingeordnet sind die drei Fälle unter "PMK links", als Tatort ist der Leipziger Stadtteil Connewitz angegeben. Ein Bekannter von mir gab den entscheidenden Hinweis, er erinnerte sich an einen alten Artikel in der Leipziger Volkszeitung (LVZ) über einen Unbekannten, der bei einem Connewitzer Lieferservice Pizza für die Leipziger Polizei bestellt hatte. Nach Rücksprache mit dem LKA bestätigte die Pressestelle der Leipziger Polizei mir diese Vermutung: Die falschen Pizzabestellungen hatten es tatsächlich als linkspolitisch motivierte Straftaten in die Statistik geschafft.


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Ich war überrascht, dass es anscheinend so einfach war, über das Internet die Kriminalitätsrate in einem Stadtviertel zu steigern. Auf Twitter teilte ich diese Entdeckung samt Screenshots von der Statistik und dem LVZ-Artikel – ja, und mit einem Tippfehler. Seitdem explodiert mein Twitteraccount gewissermaßen. Der Blog "Volksverpetzer" widmete der Story einen Beitrag, Internet-Papst Sascha Lobo, Cartoonist Ralph Ruthe und andere Accounts mit sechsstelligen Followerzahlen verbreiteten die Meldung von linksextremer Pizza und sächsischer Polizei. Mein Pizza-Post hat bisher mehr als 1.600 Likes, wurde Hunderte Male geteilt. Zugegeben: Dass die LVZ ihren Artikel ausgerechnet mit einer Pizza Hawaii bebilderte, war ein genialer Schachzug, um die allgemeine Entrüstung noch mehr anzuheizen. Mittlerweile gibt es Memes mit Pizza-Adaptionen des Antifa-Logos.

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Sächsische Polizisten, die Pizza für links halten: Warum dieses Bild einen Nerv trifft

So weit, so erwartbar. Auf den ersten Blick bedient auch mein Tweet das beliebte Stereotyp von Sachsen als unverbesserlich rechtsextremen Bundesland. Diesen Ruf hat sich der Freistaat hart erarbeitet: Pegida, AfD, NSU, Gruppe Freital oder Revolution Chemnitz, rechte bis rechtsextreme Strukturen fühlen sich in Sachsen augenscheinlich ziemlich wohl.

Und der Tweet scheint bei vielen Menschen das Bild zu bestätigen, dass sie von den sächsischen Sicherheitsbehörden haben: "Die Polizei Sachsen ist so verzweifelt in ihrem Bemühen, von den Nazis abzulenken, dass jetzt schon Pizza als links gilt" oder "Das kann doch aber nur dann funktionieren, wenn sich das LKA Sachsen selbst für rechts hält", lauten einige der Reaktionen. Der Tenor in anderen Kommentaren ist ähnlich und das hat einen Grund. Denn die sächsische Polizei genießt in dieser Hinsicht einen ganz besonderen Ruf. Mehrere sächsische Polizeibeamte unterhalten nachweislich freundschaftliche Verbindungen zu organisierten Neonazis. Ein Leipziger Bereitschaftspolizist, der einen rechten Kader mit Informationen von Demonstrationen versorgte ("Hier marodieren wieder linke Gutmenschen") wurde daraufhin versetzt – und ist jetzt Ausbilder an der Polizeischule. Im Herbst 2018 ging der ehemalige sächsische Polizeischüler Simon Neumeyer an die Öffentlichkeit und sagte, er habe aufgrund eines rassistischen Grundklimas bei der sächsischen Polizei seine Ausbildung abgebrochen. Auch dem sächsischen Landeskriminalamt – also der Behörde die für die Erstellung der PMK-Liste verantwortlich ist – haftet nicht der beste Ruf an, seitdem ein LKA-Mitarbeiter mit Deutschlandhut bei Pegida ein Kamerateam des ZDF bedrängte.

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Erschwerend kommt hinzu, dass die sächsische Polizei im Allgemeinen und die Leipziger Polizei im Speziellen in der Vergangenheit nicht immer nur Kompetenz ausstrahlte. Wir reden hier von der Behörde, die darum bittet, man möge doch bitte ihre Maschinenpistole, die man versehentlich verloren hat, wieder zurückbringen. Dieselbe Polizeidirektion suchte in Mannschaftsstärke bei einer Hausdurchsuchung nach Luftballons, ließ ein polizeikritisches Graffiti rund um die Uhr bewachen und prägte als Antwort auf Kritik den Begriff "Polizeirassismus".

Warum die Einstufung als "PMK links" nicht vollkommen abwegig ist

Man kann der Leipziger Polizei also durchaus einiges vorwerfen – im Falle der Pizzabestellungen ist die Einschätzung als linkspolitisch motivierte Kriminalität aber gar nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick scheint. Denn zwei Tage zuvor stellte ein Mitarbeiter des Pizzaservice mitten in der Nacht einen mutmaßlichen Linksextremisten, der eine Mülltonne angezündet hatte, und rief die Polizei. Auf dem Portal Indymedia erschien wenig später ein Aufruf, "ganz einfach teure Pizzen an falsche Adressen bestellen". Fest steht: Die Fake-Bestellungen sind in rechtlicher Hinsicht ein Betrugsdelikt. Ob die Taten tatsächlich mit dem Aufruf zusammenhängen, ist zwar fraglich, aber zumindest möglich.

Also doch alles kein Problem? Mitnichten. Denn der eigentliche Gedanke hinter meinem Tweet blieb auf der Strecke: Um die Statistik linker Kriminalität in einem bestimmten Stadtteil in die Höhe zu treiben, muss ich nur im Internet etwas bestellen und vielleicht noch einen Text bei Indymedia posten. Das Portal ist frei zugänglich, in der Vergangenheit wurde es bereits mehrfach von Neonazis für False-Flag-Aktionen benutzt.

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Warum es trotzdem problematisch ist, die PMK-Statistik mit Pizzabestellungen aufzublasen

Warum das wichtig ist? Hierzu ein wenig Kontext: Die Liste der politisch motivierten Kriminalitätsdelikte in Leipzig war Teil einer Antwort der Landesregierung auf eine Anfrage der Landtagsabgeordneten Juliane Nagel, in der es vorwiegend um den Leipziger Stadtteil Connewitz geht. Der Stadtteil gilt gemeinhin als linksgeprägt oder als letzte linke Bastion im braunen Sachsen. Für einige AfD-Politiker, konservative CDU-Hardliner oder auch Neonazis ist er hingegen so was wie eine deutsche Antifa-Hauptstadt. Seit mehreren Monaten läuft die Bereitschaftspolizei in voller Einsatzmontur regelmäßig demonstrativ Streife – nicht unbedingt zur Freude vieler Anwohnerinnen und Anwohner, die sich kriminalisiert fühlen, wenn behelmte Polizeieinheiten sie beim abendlichen cornern beäugen.

Diese gesteigerte Polizeipräsenz begründet das sächsische Innenministerium unter anderem damit, es habe im Jahr 2018 110 politisch motivierte Straftaten in Connewitz gegeben. Neben 75 Fällen, in denen es um politische Tags geht, dienen also auch die Pizzabestellungen der Polizei als Argument für ihre Taktik. Obwohl diese Straftaten bequem vom heimischen Rechner begangen wurden, läuft die Polizei nun als Reaktion vor der Tür des Pizzaservice in voller Kampfausrüstung Streife. Wer möchte, dass das so bleibt, braucht also nur einen Internetanschluss.

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