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Verbrechen

Wie zwei britische Schüler einen Amoklauf planten

Inspiriert von Columbine wollten sich zwei 14-Jährige an jenen rächen, von denen sie sich ungerecht behandelt fühlten.

Am 3. März 2017 lädt Thomas W. von seinem Kinderzimmer in Northallerton, einer Kleinstadt in Nordengland, ein Video bei YouTube hoch. Es enthält Aufnahmen, die Überwachungskameras während des Amoklaufs von Columbine gemacht haben. Wenige Wochen später fängt er an, sich mit dem Dritten Reich zu beschäftigen. Er startet einen Instagram-Account und postet Bilder, in denen er die Köpfe von Lehrkräften seiner Schule auf die Körper von Nazigrößen setzt. Das alles geht aus Daten der Polizei hervor.

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Thomas ist großgewachsen, hat lange Haare, spielt Gitarre und ist Frontmann der Punkband Blurred Pixels, ab und zu treten sie in der Umgebung auf. Er ist 14, genau wie der etwas jüngere Alex B., sein Komplize.

Alex spielt lieber Videospiele, trägt die Haare kurz und eine Brille. Der Polizei sagt er später, dass er von elf Personen über einen Zeitraum von vier Jahren gemobbt worden sei. Seine Schule habe nichts unternommen, obwohl die Lehrer und Lehrerinnen von den Drangsalierungen durch die Mitschüler gewusst haben. Siebenmal habe er versucht, Suizid zu begehen. Im Mai schreibt er Thomas "Ich habe keinen Bock mehr", woraufhin dieser antwortet: "Warum nicht gleich auch andere ausschalten? Wenn du dich schon umbringst, schieß die Schule zusammen."


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Bald darauf zeigt ihm Thomas eine Karte. Darauf ist eingezeichnet, wo sie Bomben platzieren würden, und auch, wo – laut Alex – er stehen würde, um "die Leute niederzumähen". Es folgen Screenshots von einem E-Book mit Anleitungen für Nagelbomben, Zünder und selbstgemachtes Schwarzpulver. Auch die Amokläufer von Columbine hatten ursprünglich geplant, Schüler und Lehrkräfte durch Bombenexplosionen nach draußen zu treiben und an den Ausgängen mit Gewehren abzufangen. Allerdings versagten die Sprengsätze und die Täter begannen, wahllos auf Menschen zu schießen.

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Im Juni kommt Thomas mit einem Mädchen zusammen. Sie ist ebenfalls 14. Die beiden hatten sich online kennengelernt, mochten beide alternative Kleidung, Nirvana und True-Crime-Geschichten. Der Polizei wird sie später sagen, dass sie sich zu jener Zeit in einer schlechten Verfassung befand und sich regelmäßig selbst verletzte: "Wenn ich mich richtig schlimm selbst verletzt hatte, saß Thomas drei Stunden neben mir, hörte mir zu und sagte, dass ich etwas wert bin." Auf Instagram postet ihr Freund währenddessen Fotos von Mördern und Suizidvideos.

Thomas lässt seine Freundin in sein Tagebuch schauen. Auf den Umschlag hat er "Natural Selection" geschrieben – eine Anspielung auf das T-Shirt, das einer der Columbine-Attentäter während des Amoklaufs trug. Auf den ersten Seiten schreibt er über seine Suizidgedanken. Je weiter sie umblättert, desto mehr handeln Thomas' Texte von Massenmord. Den Beamten wird sie sagen, dass die beiden da schon so viel über Columbine gesprochen hätten, dass sie ganz abgestumpft gegenüber dem Thema gewesen sei. "Ratet mal, wer mit dem Amokläufer zusammen ist", soll sie einmal zu Mitschülern gesagt haben. Trotzdem sagt sie später zu den Beamten, die Mordanspielungen seien ihr zu weit gegangen..

Thomas versucht, sie zu kontrollieren. Wenn sie nicht innerhalb weniger Sekunden seinen Anruf annimmt, schickt er ihr sofort eine Nachricht, fragt, was er falsch gemacht hat. Er setzt sie unter Druck, ihre Antidepressiva abzusetzen. Ihre Social-Media-Passwörter kennt er auch – er sagt, er könne ihr nicht vertrauen. Irgendwann kommen sie auf Tattoos zu sprechen, beziehungsweise auf das, was Thomas darunter versteht. Er will ihr seinen Namen in die Haut ritzen.

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Das erste Mal, als er mit einem Skalpell ankommt, kann sie ihn ablenken und sie besuchen stattdessen eine Landwirtschaftsausstellung. Beim nächsten Mal hat er ein Taschenmesser dabei, dieses Mal lässt ihn das Mädchen gewähren. Thomas ist etwa bei der Hälfte angelangt, als sie ihn bittet, aufzuhören. Die Schmerzen sind zu groß. Er ignoriert sie, befiehlt ihr, still zu sein, und beendet sein Werk. Danach habe eine unheimliche Stille geherrscht, sagt das Mädchen später. Sie habe sich taub gefühlt. In einer Instagram-Nachricht schreibt sie ihm allerdings, es "über alles zu lieben", seinen Namen auf ihrem Rücken zu tragen. Der Polizei sagt sie später, dass sie sich die Haut an der Stelle verbrannte und aufschnitt, um Thomas' Namen wieder zu entfernen.

Links: Nachrichten zwischen Thomas und Alex | Rechts: Chat-Nachrichten von Alex an eine Mitschülerin

Auch Klassenkameraden fällt auf, dass Alex und Thomas immer wieder über Todessehnsüchte sprechen. Thomas bringt einmal ein Messer mit in die Schule. Alex zeigt einem Mitschüler ein Bild einer Waffe und behauptet, Sprengstoff hergestellt zu haben. Wirklich erschrocken ist der Junge aber erst, als Alex ihm eine "Einkaufsliste" präsentiert – eine Liste mit Namen von Schülern, die sie umbringen wollten. Als der Mitschüler ihn fragt, ob er ebenfalls getötet werden soll, antwortet Alex: "Wir bringen nur Menschen auf der Liste um, aber wenn du uns in die Quere kommst, vielleicht."

Der Mitschüler sagt später: "Ich hatte ein komisches Gefühl im Bauch. Ich wusste nicht, ob ich morgen noch leben würde oder nicht."

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Im September erhält eine weitere Schülerin eine Snapchat-Nachricht von Alex: Sie würden einen Amoklauf in der Schule planen. Als sie ihn fragt, ob er Witze macht, antwortet er: "Nein. Niemand Unschuldiges wird sterben. Versprochen. Wir machen es sowieso erstmal nicht, weil wir gerade keine Waffen haben."

Alex schreibt daraufhin Thomas eine Nachricht, dass er am nächsten Tag seinen Trenchcoat in der Schule tragen soll, um die Leute zu erschrecken. Danach schreibt er seiner Mutter, ob sie ihm auch einen Mantel bei eBay kaufen kann. Sie scherzt, ob er glaube, in Matrix mitzuspielen. Ob er dazu auch eine Sonnenbrille tragen werde? "Nein", entgegnet er, "Armeehose." Auch die Täter von Columbine trugen zu Beginn ihres Amoklaufs Trenchcoats.

Die beiden Täter von Columbine, die am 20. April 1999 in Littleton, Colorado, 13 Menschen und sich selbst töteten, wurden von zahlreichen Jugendlichen heroisiert – es gibt so viele Nachahmungstäter, dass von einem "Columbine-Effekt" die Rede ist. Womöglich, weil es der erste Amoklauf in der Ära der 24-Stunden-Nachrichtensender war. Der Virginia-Tech-Amokläufer von 2007, der 32 Studierende und Lehrkräfte tötete, verehrte die beiden Schüler als "Märtyrer". Der 18-jährige Finne, der im selben Jahr acht Menschen an seiner Schule in Jokela umbrachte, nannte sich im Internet "Natural Selector" und "NaturalSelector89". Der Amokläufer von Newton, der 2012 an der Sandy Hook Elementary School 20 Grundschulkinder, sechs Angestellte, seine Mutter und abschließend sich selbst tötete, soll ebenfalls ein Bewunderer der Columbine-Täter gewesen sein.

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Bis heute hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass die beiden Schüler sich an ihren Peinigern rächen wollten. Dabei ist längst bewiesen, dass dem Mobbing-Aspekt im Columbine-Kontext medial zu viel Gewicht eingeräumt wurde. Dave Cullen schreibt in seinem preisgekrönten Buch Columbine, dass die Täter selbst Bullys waren.

Das alles hält das Internet aber nicht davon ab, das zu tun, was das Internet so tut. Heute finden sich unter jedem YouTube-Columbine-Video Sympathiebekundungen für die Täter – sie ähneln Kommentaren unter Videos von Persönlichkeiten wie Kurt Cobain, Heath Ledger und Philip Seymour Hoffman.

Eine Seite aus Thomas' Tagebuch

Die Schülerin, der Alex die Snapchat-Nachrichten schickt, meldet den geplanten Amoklauf der Schule. Die Schule bittet die beiden Jungs zu einem Gespräch. Alex gesteht vor einem Lehrer, dass einige an der Schule sein Leben unerträglich machen und den Genpool ruinieren. Aus diesem Grund müssten sie umgebracht werden. Dann zitiert er einen "satanischen Text", der in etwa "Aug um Aug" entspräche, sagt der Lehrer später vor Gericht. "Er zeigte überhaupt keine Gefühle, als er von seinem Plan erzählte. Es war das Furchtbarste, was ein Schüler je zu mir gesagt hat."

Derselbe Lehrer erfährt später von der Polizei, dass auch sein Name auf der "Einkaufsliste" steht.

Thomas hingegen streitet alles ab – nicht nur gegenüber der Schule, sondern auch gegenüber den Polizeibeamten, die ihn zu Hause besuchen. Sie ermahnen ihn, in Zukunft besser darüber nachzudenken, was für Witze er macht. Sein Instagram-Account wird gesperrt. Alex bekommt einen Jugendhelfer zugeteilt. Damit ist die Sache für Schule und Behörden erledigt. Kaum haben die Beamten Thomas' Zimmer verlassen, setzt der sich wieder an seinen Rechner und recherchiert weiter zu Columbine.

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Die Polizei kontaktiert außerdem die Eltern von Thomas' Freundin, um ihre Bedenken mitzuteilen. Die Eltern verbieten ihrer Tochter darauf, sich weiter mit Thomas zu treffen. Trotzdem blieben die beiden Teenager in Kontakt. Thomas schreibt dem Mädchen, dass er vorbeikommen und "voll NBK" gehen will, NBK steht für Natural Born Killers – ein Film, in dem ein Typ die Eltern seiner Freundin tötet und beide anschließend mordend durch die Vereinigten Staaten fahren. Es ist Thomas' Lieblingsfilm.

Am 21. Oktober entdeckt die Mutter des Mädchens Thomas nachts im Schlafzimmer ihrer Tochter. Wie der Columbine-Attentäter trägt Thomas ein T-Shirt mit der Aufschrift "Natural Selection". Als er die Mutter sieht, flieht er nach draußen auf die Straße. In einer Hand ein "sehr großes Messer", wie die Mutter später vor Gericht aussagen wird. Das Bild verfolge sie bis heute. Ein paar Wochen später findet eine Vierjährige das Messer in der Nähe des Hauses. Die Klinge ist 18 Zentimeter lang, auf ihr steht mit einem schwarzen Marker "Love" geschrieben.

Nach seiner Flucht ruft Thomas bei einer Hotline für Jugendliche an und sagt, dass er von zu Hause weggelaufen sei. Die Person am anderen Ende der Leitung empfiehlt ihm, zur nächsten Polizeiwache zu gehen. Das tut er auch. Seine Freundin ist so aufgewühlt, dass sie versucht, Bleichmittel zu schlucken.

Am 23. Oktober verhaftet die Polizei Thomas. Er wird verdächtigt, die Eltern des Mädchens töten zu wollen. Die Beamten fanden bei ihm ein Tagebuch mit der Aufschrift "Helter Skelter". Es ist der Name eines Beatles-Songs, in dem Sektenführer Charles Manson Informationen über einen bevorstehenden Rassenkrieg zu sehen glaubte. Mit diesem Lied rechtfertigte er mehrere Morde seiner Gruppe. Auf die Innenseite des Buchdeckels hatte Thomas geschrieben: "Sorry, wenn das hier gefunden wird, habe ich eine der schlimmsten Gräueltaten der britischen Geschichte begangen oder mich umgebracht."

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Die Beamten glauben, das Tor in die Gedankenwelt des 14-Jährigen vor sich zu haben. Einer der letzten Einträge kurz vor seiner Festnahme lautet: "Ich habe einen Plan, einen verdammt großartigen Plan. Ich werde nach Catterick [ein Nachbarort] abhauen und dort eine Weile untertauchen, dann ermorden wir ihre Eltern und ich bleibe eine Weile bei ihr im Haus und hole mir die ganzen Waffen ihres Vaters und dann mache ich ein paar Sprengsätze, wir gehen zurück nach Northallerton und fangen an, diese beschissene Schule anzugreifen."

"Fantastische Idee, oder? Scheiße, ich hasse meine Schule. Ich werde sie dem Erdboden gleichmachen. Ich werde alle töten."

Das Tagebuch – dem Mädchen zufolge ein anderes als jenes, das sie gelesen hatte – gibt neben derartig hasserfüllten Monologen auch Thomas' Bewunderung für Mörder preis: Ted Bundy, Jeffrey Dahmer, John Wayne Gacey, Timothy McVeigh, Richard Ramirez und natürlich die beiden Columbine-Attentäter. Außerdem hatte der 14-Jährige diverse Nazisprüche auf Deutsch in das Buch geschrieben.

Trotz allem beteuert Thomas gegenüber der Polizei seine Unschuld. Er sei lediglich bei dem Mädchen zu Hause gewesen, um mit ihr wegzulaufen – nicht, um die Eltern umzubringen. Später vor Gericht wird er sagen, das Tagebuch und die darin beschriebenen Pläne seien "hypothetisch, lediglich Gedanken und Gefühle". Er habe sie einer Therapeutin gezeigt. Die Einträge würden "quasi als eine Art Therapie" funktionieren. Die Therapeutin allerdings sagte aus, dass sie ihn nie darum gebeten habe, ein Tagebuch zu führen.

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In dem Notizbuch findet sich auch eine Checkliste mit Waffen, Messern, Trenchcoats und Panzer-Tape. Eine Zutat für Brandbomben ist mit einem Häkchen versehen, daneben die Notiz: "etwas, aber braucht mehr". Über mehrere Seiten erstrecken sich Anleitungen für Napalm, Schwarzpulver und Rohrbomben, neben Letzterem der Hinweis "für extra Spaß Schrapnelle hinzufügen".

Die Polizei durchsucht das Versteck der beiden. Sie findet Sturmmasken, eine Tüte mit Nägeln und eine Flasche Benzin. Die Beamten haben genug gesehen. Alex und Thomas werden verhaftet.

Die Sturmmasken, Nägel und das Benzin, alles gefunden im Versteck der Jungen | Foto: North East Counter Terrorism Unit

Die Verhandlung beginnt am 3. Mai 2018 vor dem Leeds Crown Court. Die inzwischen 15-Jährigen sind wegen der Planung eines Mordkomplotts angeklagt. Thomas muss sich außerdem wegen schweren Einbruchs – er hatte das Haus des Mädchens mit einem Messer betreten – und Körperverletzung – weil er dem Mädchen seinen Namen in die Haut ritzte – verantworten. Beide Angeklagten plädieren in allen Punkten auf nicht schuldig.

Die Staatsanwaltschaft stellt sie als "Verehrer" der Columbine-Attentäter dar. Im Gegenzug lässt Alex' Verteidiger mehrere Charakterbeschreibungen über ihn verlesen – nicht nur von Freunden und Familie, sondern auch den Eltern eines Freundes und dem Schulleiter. Alle bezeichnen ihn als "höflich", "hilfsbereit" und "gut erzogen". In der Befragung durch Polizei beteuerte er außerdem, dass er den Plan nie ausgeführt hätte. Er wäre "nicht dazu fähig gewesen". Seinem Freund, Thomas, habe er den Amoklauf zwar zugetraut, allerdings habe er den Plan vor allem als "Hilfeschrei" verstanden. Thomas habe gehofft, dass ihn jemand aufhalte.

Eine Jury aus sieben Frauen und fünf Männern spricht die beiden 15-Jährigen schließlich in fast allen Punkten schuldig – lediglich der Vorwurf des schweren Einbruchs wird fallengelassen. Ungerührt sitzen Alex und Thomas neben ihren weinenden Müttern, als die Richterin am 20. Juli das Urteil verkündet. Thomas W. muss zwölf Jahre Gefängnis, Alex B. zehn.

Falls du selbst mit Mitschülern Probleme hast, Opfer von Mobbing bist, kannst du hier Hilfe finden.

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