Menschen

Die große Liebe in Öffis finden: Diese Menschen haben's versucht

"Er schaute mich an, als hätte ich ihn nach einem seiner Organe gefragt." – Amber, 27
Nana Baah
London, GB
Zwei junge Menschen flirten in einem U-Bahn-Hof
Foto: imago images | Cavan Images 

Ich bin in der U-Bahn auf dem Weg zur Vorlesung. Auf meinem Handy läuft Justin Biebers Album Purpose, als ein Mann einen Stöpsel aus meinem Ohr zieht: "Kann ich deine Nummer haben?" Ich gerate in Panik und erzähle etwas von einem festen Freund. Wie mein Freund denn heiße? Ich komme ins Stocken. Einen Moment lang ist das blecherne "What do you mean?" aus meinem Kopfhörer das einzige Geräusch zwischen uns. Ich blicke auf mein Handy. "Justin", sage ich. Der Mann starrt abwechselnd auf mein Handy und mein verkrampftes Lächeln. Schließlich wendet er sich wieder seinem Buch zu.

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Nach diesem Erlebnis habe ich mir Kopfhörer mit Bügel besorgt. Ich finde, Anmachversuche im öffentlichen Nahverkehr sollten verboten werden.


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Henry ist 26, lebt in London und sieht das ganz anders. Er mag keine Dating-Apps. Dafür spricht er regelmäßig Menschen in Bus und Bahn an. Leicht fällt ihm das trotzdem nicht immer. "Ich habe schon oft Augenkontakt mit jemandem gehabt, nichts gesagt und es später bereut", sagt er.

Ob Henry ein paar Flirt-Tipps für den ÖPNV hat? "Ich mache es gerne subtil, damit die Leute sich nicht sofort angebaggert fühlen", sagt er. "Der beste Eisbrecher ist das, was um euch herum passiert – frag nach dem Weg, rede über eine Zugverspätung oder irgendwas in der Art. Wenn einer von euch aussteigen muss, musst du aber zur Sache kommen. Dann kannst du es dir nicht mehr erlauben, schüchtern zu sein. Ich sage dann so etwas wie: 'Ich würde dir gerne bei Instagram folgen' oder 'Hast du Lust, was trinken zu gehen?'"

Martyna ist 21 und lebt ebenfalls in London. Auch sie ist der Meinung, dass es bei Flirts in Bus und Bahn vor allem darum geht, die Gelegenheit auszunutzen. Als sie vergangenes Jahr mit einem Mann in der U-Bahn Blicke austauschte, trafen sich beide noch am gleichen Abend zu einem ersten Date im Kino. "Wir haben in der U-Bahn Augenkontakt durch das Gedränge in der Rush Hour gehabt. Um mich abzulenken und nicht total komisch rüberzukommen, habe ich versucht zu lesen", sagt sie. "Wir haben uns trotzdem weiter angeschaut. Mich hat das total nervös gemacht. Vom Anlächeln bis zum Ansprechen ist es ein großer Schritt. Zum Glück hat er dann was gesagt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es getan hätte."

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Francisca hingegen nahm die Sache selbst in die Hand. "Ich saß in einem Zug nach York und irgendwo auf dem Weg stieg ein Mann zu", sagt die 21-Jährige. "Ich schrieb sofort meiner Freundin eine Nachricht: 'Der schönste Mann der Welt hat sich gerade neben mich gesetzt.' Sie antwortete: 'Sag was!'"

Die beiden tauschten tatsächlich ihre Kontaktdaten aus, ein Happy End gab es trotzdem nicht. "Nach drei Dates ignorierte er mich eine Woche lang und sagte schließlich, dass er noch nicht über seine Ex hinweg sei. Ich weiß allerdings, dass er es nicht gut fand, dass ich beim ersten Date bezahlt habe", sagt Francisca. "Mein Selbstbewusstsein war danach etwas angeschlagen. Vielleicht will ich aber auch niemanden komplett Fremdes kennenlernen. Lieber wäre mir jemand, mit dem ich mehr gemein habe." Von Flirts in der Öffentlichkeit hat Francisca erstmal genug.

Das Risiko, in aller Öffentlichkeit eine Abfuhr zu kriegen, ist wahrscheinlich das, was die meisten davor abschreckt, jemanden in der Bahn anzusprechen. Amber*, 27, musste diese Erfahrung machen. Jeden Tag auf dem Heimweg von der Uni sah sie denselben Typen. Einmal machte sie ihm ein Kompliment zu seinen Tattoos, eine Woche später zu seinen Schuhen. Erst dann sagte er etwas Nettes über ihre Tasche. Von ihren Freunden ermutigt entschloss sie sich schließlich, alles auf eine Karte zu setzen. "Eine Woche später habe ich ihn gefragt, ob er Lust auf einen Kaffee mit mir hat. Er schaute mich an, als hätte ich ihn nach einem seiner Organe gefragt. Wenn ich an seinen entsetzten Gesichtsausdruck denke, zieht sich immer noch alles in mir zusammen."

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"Ich hätte sie definitiv auch nüchtern angesprochen."

Genau wie Francisca hat auch Amber nach dieser Erfahrung genug von Flirts im Alltag. "Ich bin immer noch nicht darüber hinweg", sagt sie. "Die vier Monate danach bin ich extra 30 Minuten länger in der Uni geblieben, um eine Bahn später zu nehmen und ihn nicht sehen zu müssen."

Keine der Personen, mit denen ich gesprochen habe, schaffte es mit dem ÖPNV-Flirt über ein paar Dates hinaus. Schaut man in die Statistik, ist das vielleicht gar nicht so überraschend. In einer Umfrage der Stanford University von 2017 gaben nur zwei Prozent der Paare an, sich in der Öffentlichkeit kennengelernt zu haben. Zum Vergleich: 19 Prozent hatten sich über Online-Dating gefunden. Aber dann spreche ich mit B, der seine Freundin der New Yorker U-Bahn kennengelernt hat.

Vor drei Jahren fuhr der damals 31-jährige B von Coney Island zum Union Square und ließ einen LSD-Trip ausklingen. "Ich hätte sie definitiv auch nüchtern angesprochen, aber das hat es vielleicht etwas entspannter gemacht. Zuerst habe ich mich mit ihrer Freundin unterhalten, die selbst sehr gesprächig war. Um mit meiner jetzigen Freundin ins Gespräch zu kommen, habe ich mich dann neben sie gesetzt, aber sie hat 45 Minuten lang erstmal kein Wort gesagt."

Schließlich kamen sie doch ins Gespräch und aus der U-Bahnfahrt wurde ein ausgedehntes Date, Knutschen und Tanzen inklusive. Die Beziehung hält bis heute. "Wir lieben uns mit unermesslichem Respekt", schreibt er. Dann schickt er mir ein Foto, das die beiden Weihnachten gemacht haben. Sie stehen strahlend vor einem Baum und halten den neun Monate alten Havaneser-Welpen hoch, den sie adoptiert haben. Vor Rührung vergieße ich eine Träne.

Also, vielleicht ist es doch möglich, seine große Liebe in der Bahn zu finden. Lasst nur bitte die Finger von anderer Leute Kopfhörer.

*Name geändert.

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