Popkultur

Warum es schön ist, dass die Deutschen jetzt alle traurig sind

Überall sehen wir tränenzerfressene Fratzen, die leeren Blicks in die Ferne starren, in der der ein Großbildfernseher das Ende ihrer EM zeigt.
Vice-Autor Robert Hofmann in Deutschland-Merchandise gekleidet schaut traurig in die Kamera, hinter ihm trauernde Fans im Stadion. Es ist schön, dass die Deutschen jetzt traurig darüber sind, bei der EM verloren zu haben.
Foto von Robert: privat | Hintergrund: IMAGO / ActionPictures

Sogar das Wetter spielt mit. Während im fernen England ein paar deutsche Männer deklassiert werden, donnert über ihrer Heimat die traurige Melodie des Abschieds. Denn das ist es, das Ende. My only friend, the end. Deutschland scheidet aus der EM aus, und die deutschen Fans haben nichts mehr, worauf sie sich freuen können. Natürlich sind sie traurig. Aber ist das nicht auch ganz schön?

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Optisch nicht. Wir sehen sie ja überall, diese trauernden Leute. Tränenzerfressene Fratzen, die leeren Blicks in die Ferne starren, in der ein Großbildfernseher steht und das Ende der EM zeigt. Zumindest das Ende dessen, was sie gerne hätten. Heulende Männer, Frauen und Kinder, jede demographische Gruppe hat ihre eigenen ikonischen Trauertröpfe. Der deutsche Geist, er weint.


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Auch ich bin traurig. Ich hatte mich vorbereitet auf die Schlussphase des Fußball-Turniers. Denn ich fühlte die Chronistenpflicht in diesem Moment deutscher Geschichte, der in seiner Irrelevanz natürlich kaum übertroffen werden kann. Eine EM während der Pandemie? Man muss schon ein sehr großer Fußball- oder Deutschlandfreund sein, um sich dafür begeistern zu können. Das bin ich nicht, aber ich bin Chronist mit reichlich Eitelkeit und Pflichtbewusstsein, das nun ungenutzt rumliegt. Deswegen solidarisiere ich mich nun doch mit den Menschen, denen Fußball etwas bedeutet.

Mein journalistischer Auftrag, in einer aufreibenden Themenkonferenz mühsam erdacht, war folgender: Ich hätte mich, komplett mit Deutschland-Fanartikeln behangen, mit Fußballfans und Menschen unterhalten, die ihre Häuser, Wohnungen und Wohnwagen besonders schwarz-rot-gülden dekoriert haben. Einen offiziellen Arbeitstitel gab es noch nicht, aber schon mehrere Bestellungen im Internet, einen Fotografen auf Abruf, aus dessen Idee das Projekt geboren worden war, und richtig viel Bock auf 5,0-Dosenbier in Schwarz-Rot-Gold und Deutschland-Haribo-Sondereditionen. 

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Doch nun: nichts. The end of our elaborate plans, the end. Wenn fremde Nationen um den Einzug in Halb- und Ganzfinales kämpfen, werde ich im Homeoffice sitzen, wie ich es nun schon seit fast anderthalb Jahren tue. Mein journalistischer Ehrgeiz: nutzlos. Meine Eitelkeit: schmerzhaft. Mein Durst: ungestillt.

Ich gehöre nun also zu den traurigen Deutschen. Ich sitze daheim, schaue dem Regen zu, wie er gegen das Fenster prasselt, und überlege, wie schön alles hätte sein können. Ein deutscher Weltmeister in blütenweißen Trikots, auf denen Regenbogenfarben leuchten, als würden Nationaltorhüter in ihrer Freizeit nicht sonst Faschisten-Schlager trällern. Ein Pokal, den sie in die Luft recken, und ein Triumphzug durch die Hauptstadt wie einst Caesar nach dem Sieg beim Gallischen Krieg.

Ein Land, in dem die kollektive Freude über einen Sieg ihres Nationalheiligtums schließlich sogar den Regen vergessen lässt, der über die brütenden Auswirkungen des Klimawandels hinwegtäuscht. Jubelschreie, die durch leere Straßen hallen, weil ihre Bewohner gemeinsam in kühlen, dunklen Kneipen und vor den Leinwänden der Kioske kauern, als gäbe es keine Delta-Variante. Ein Land, das sich in den Armen liegt, weil es gemeinsam diesen Kraftakt vollbracht hat. Frieden, Einigkeit und Brüderlichkeit wo man hinsähe. 

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Doch nicht alles ist schlecht. Immerhin bedeutet das Ende der EM auch wieder Abstand. Und zwar nicht nur den Abstand von uns selbst und unseren Emotionen. Die dunklen Gefühle, die wir nur dann zeigen, wenn unsere Gegner uns besiegt haben, die wutentbrannten, wenn ein Stadion in Farben erstrahlen soll, die uns nicht passen, oder die gold glänzenden, wenn gerade ein weißer Mann einen Ball in das Tor des Gegners getreten hat. Es bedeutet auch Abstand im physischen Sinne. Wer weiß, wie viele lockdownfreie Tage uns das frühe Ende der EM letztlich schenkt.

Das Glück, das ein erfolgreiches Turnier in die Adern von uns Deutschen gezaubert hätte, bräuchte auch keinen Wahlkampf. Wer Glück in seinem Kreislauf spürt, will keine Veränderung. Der kriegt nur am Rande mit, wenn ein kleiner, trauriger Mann seine von Korruption durchzogene Partei in Stellung bringt, um mit wilden Anschuldigungen Stimmung zu machen gegen Parteien, die eine Alternative zu ihm anbieten. Und es reicht, um ihr Wahlverhalten zu bestimmen.

Fußball wäre unsere Politik und die EM unser Wahlkampf. Daheim zu Gast bei Freunden, oder einfach zu Hause oder zumindest bei guten Bekannten wie dem fiesen Autokraten im Kaukasus, der versucht, unsere Demokratie mit viel Geld und Kaviar zu zersetzen und auf seine Seite zu ziehen. The end of laughter and soft lies.

Jetzt werden wir uns wieder mit dem grauen Alltag beschäftigen müssen, womit diesmal nicht der Himmel gemeint ist, weil Wetter-Metaphern erstens billig und zweitens auch schon überreizt sind. Jetzt sind es wieder Diskussionen über Inzidenzen, Variantengebiete und natürlich Wahlkampf! Echter, schrecklicher Wahlkampf. Schmutzkampagnen, leere Argumente und oberflächliche Diskussionen. Und am Ende sind wir wieder am Anfang. Wie beim Fußball, denn nächstes Jahr ist ja auch schon wieder WM. Und wenn wir die verlieren, haben wir zwei Jahre später die nächste Chance, was sich ewig so fortführen ließe – wenn nicht die Klimakatastrophe, die uns durch den Erhalt des Status Quo noch etwas schneller entgegenzischt, als limitierender Faktor hinzukäme.

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Kein Wunder also, dass sich die deutschen Fans jetzt hässlich weinend in den Armen liegen, während die englischen ihre Mannschaft mit so viel Power anfeuern, als wäre ihnen klar, dass Europameisterschaften eine der letzten Sachen sind, die sie noch mit dem europäischen Festland vereinen. 

Den Deutschen fließen die Tränen über ihre schwarz-rot-goldenen Wangen und hinterlassen dabei tiefe Furchen, in denen eine braun-graue Brühe gen Boden trieft. Das letzte bisschen Würde versickert in den Kragen ihrer Deutschland-Trikots. Sie haben verloren, ihr Jogi hat sie verraten, und ihnen bleibt nur eine vage Hoffnung auf die Zukunft.

Aber Kopf hoch, Deutschland. Für die nächste WM brauchst du ohnehin das neue Trikot. Du musst das alte nicht einmal waschen, sondern kannst es direkt in die Tonne kloppen. Und wenn es dir gar nicht um Fußball ging, sondern einfach nur darum, dass du mal wieder anderen Nationen überlegen wärst, dann bedenke, dass wir schon 1945 gegen einen Haufen Nationen verloren haben, und das am Ende auch OK war. Erkläre also deine Trauer einfach zu Demut und trage sie mit Stolz. 

Und ich? Macht euch um mich keine Sorgen. Wenn ich schon keine Quatsch-Reportagen schreiben kann, weil im fernen England ein paar Sportler zu schlecht gespielt haben, kann ich wenigstens noch fröhlich Quatsch-Texte schreiben, in denen ich mich über diese Männer erhebe – und über alle, die sich gefreut hätten, wenn sie nicht so schlecht gewesen wären. Denn Fußball ist wirklich sehr egal, das meiste andere aber nicht.

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