Drogen

Ein Psychiater erklärt, wie Ketamin-Nasenspray gegen Depressionen helfen kann

"Seien wir ehrlich, ein Nasenspray klingt besser als Elektroschocks und Anästhesie."
JM
Brussels, BE
erschwommene Silhouette einer Person, Menschen mit schweren Depressionen können diese jetzt mit Ketamin-Nasenspray behandeln, ein Psychiater klärt auf.
Foto: Dave

Ketamin hat in den vergangenen Jahrzehnten einen bemerkenswerten Weg zurückgelegt: Vom Medikamentenkoffer der Notfallmedizin auf zerkratzte Handybildschirme in dreckigen Clubtoiletten und seit Neuestem als Infusion und Nasenspray in Therapieeinrichtungen. Neben der Anwendung als Anästhetikum und Rauschmittel wird Ketamin seit wenigen Jahren zur Behandlung von schweren Depressionen eingesetzt. Studien haben gezeigt, dass das Dissoziativum Depressionen schneller lindern kann als klassische Antidepressiva wie Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. 

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Traditionelle Antidepressiva erhöhen den Serotoninspiegel – den Botenstoff, der unter anderem Gefühle wie Glück, Trauer und Angst reguliert – oder beeinflussen andere Hormone wie Dopamin und Noradrenalin. Ketamin und sein pharmakologischer Cousin Esketamin hingegen blockieren die Andockstellen des Botenstoffs Glutamat. Damit programmieren sie die Kommunikationswege der Zellen untereinander neu und beeinflussen Stimmung und Gedankenmuster.

In den vergangenen Jahren haben mehrere medizinische Einrichtungen in den USA und Europa angefangen, Ketamintherapien gegen Depressionen anzubieten. Auch in Deutschland wird sie durchgeführt. Bislang sind diese Behandlungen allerdings schwer depressiven Menschen vorbehalten, bei denen mindestens zwei klassische Methoden gescheitert sind – sogenannte therapieresistente Patientinnen und Patienten. Die Behandlung erfolgt über einen Zeitraum von mehreren Wochen in der Form von regelmäßigen Ketamin-Infusionen.

Außerdem ist in der EU seit vergangenem Jahr auch ein Nasenspray mit dem Wirkstoff Esketamin gegen schwere depressive Episoden im Einsatz. Aber bevor du dich jetzt insgeheim darauf freust, dass bei der nächsten WG-Party jemand selbstlos sein Nasenspray kreisen lässt: Das Esketamin-Spray ist mit 345 Euro pro Dosis noch ziemlich teuer und darf nur im stationären Bereich unter medizinischer Aufsicht verwendet werden.

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Wir haben über die neue Behandlungsmethode mit Koen Demyttenaere gesprochen, einem Psychiater an der Universität KU Leuven im belgischen Löwen. Demyttenaere ist Forscher, Dozent und Experte für verschiedene Formen von Depression. Im vergangenen Jahr hat er mehrere schwer depressive Patienten mit einem Ketamin-Derivat behandelt.


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VICE: Warum wirkt Ketamin so effektiv gegen Depressionen?
Koen Demyttenaere:
Auf dem Markt gibt es eine Menge Antidepressiva, die Neurotransmitter in verschiedener Intensität ansprechen. Etwa 60 Prozent der Patienten erleben durch sie eine Verbesserung ihrer Symptome. Bis zum Wirkungsbeginn vergehen zwischen vier und sechs Wochen. In den letzten zehn Jahren hat sich im Bereich der Behandlungsmethoden nicht viel getan. Seit Kurzem gibt es neue Optionen. 

Wie Esketamin?
Ja, aber wir müssen klarstellen, dass Ketamin noch nicht offiziell als Antidepressivum anerkannt ist und Esketamin erst seit Kurzem bei behandlungsresistenter Depression zum Einsatz kommt. Es handelt sich dabei um teure Produkte, die unter medizinischer Aufsicht in einem Kliniksetting eingenommen werden müssen. Sie sind nichts für Patienten, die gerade erst mit ihrer Behandlung beginnen. 

Was unterscheidet Ketamin und Esketamin von anderen Antidepressiva?
Wir haben herausgefunden, dass beide Substanzen Depressionen innerhalb nur weniger Stunden merkbar lindern können. Das ist so, weil sie auf einen komplett anderen Neurotransmitter einwirken als konventionelle Antidepressiva. Wir haben außerdem herausgefunden, dass der Einsatz von Ketamin und Eskatim zu einem schnellen Rückgang der Suizidgedanken führt. Hierbei sollte allerdings erwähnt werden, dass das unabhängig von der antidepressiven Wirkung geschieht. 

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In Europa und den USA gibt es inzwischen zahlreiche Ketaminkliniken. Wie funktionieren die?
In der Regel kommen die Patienten ein- oder zweimal die Woche vorbei. Sie erhalten entweder Ketamin intravenös oder Esketamin als Nasenspray. Das geschieht alles unter der Beobachtung von medizinischem Fachpersonal. Das muss es auch, weil sich die Patienten aufgrund der Dosierung in einem dissoziativen Zustand befinden können. Außerdem besteht das Risiko eines erhöhten Blutdrucks. Bislang reicht die Datenlage noch nicht aus, um zu sagen, ob auf lange Zeit ein Abhängigkeitsrisiko besteht. 

Wie nehmen die Patientinnen und Patienten ihre erste Nasenspray-Anwendung wahr?
Vorweg möchte ich sagen: Es handelt sich hierbei nicht um ein Wunderheilmittel. Es wirkt nicht bei allen. Manche Menschen fühlen sich allerdings schon nach wenigen Stunden besser. Wir müssen dabei bedenken, ob wir hier nur eine antidepressive Wirkung sehen oder ob auch Euphorie eine Rolle spielt? Generell ist im medizinischen Bereich aber jedes Produkt mit einem anderen Wirkmechanismus willkommen, wenn man damit mehr Patienten helfen kann. 

Ist die dissoziative Wirkung von Esketamin milder als die von Ketamin?
Eine Reihe von Studien legt nahe, dass das nicht der Fall ist. Allerdings liegen bislang noch nicht genügend Daten über Langzeitfolgen vor. Das bleibt also weiterhin die große Frage. Bei Menschen mit schweren Depressionen, die kein Glück mit den herkömmlichen Behandlungsmethoden hatten, versuchen wir es häufig mit einer Elektrokonvulsionstherapie, einer EKT. Dabei werden Stromimpulse in das Gehirn gesandt. Das ist immer noch die wirksamste Behandlungsmethode. Aber ich glaube, dass Esketamin für manche Patienten eine effektive Alternative zur EKT werden könnte. 

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Esketamin könnte also eine Alternative zum wirksamsten Werkzeug gegen Depressionen werden, das es bislang gibt?
Vielleicht in einer akuten Phase – und wie gesagt: nur für manche Patienten. Es gibt immer noch Indikatoren, dass die EKT wirksamer ist, aber Elektroschocks machen den Menschen mehr Angst. Esketamin mag nicht so potent sein, aber seien wir ehrlich, ein Nasenspray klingt besser als Elektroschocks und Anästhesie.

Gibt es unter Patientinnen und Patienten extreme Reaktionen auf die Dissoziation?
Hier am Campus in Kortenberg achten wir darauf, dass die Patientenzimmer schön eingerichtet sind. Wir lassen sie während der Behandlung über Kopfhörer Musik ihrer Wahl hören und haben außerdem eine sehr empathische Schwester. Wahrscheinlich auch aus diesen Gründen hatten wir hier noch keine Problemfälle durch die dissoziative Wirkung. Der Effekt ist außerdem mild und vorübergehend. 

Glauben Sie, dass solche neuartigen Medikamente immer notwendiger werden?
Ich würde nicht sagen, dass es immer mehr Menschen mit schweren Depressionen gibt. Es spielt jedoch eine Rolle, ob eine bestimmte Prozentzahl positiv auf das erste Antidepressivum anspringt, das sie probieren, andere dann erst auf das zweite oder gar nicht. Das Ziel ist es letztendlich, weniger verschiedene Therapien für Depressionen zu brauchen.

Aber auch wenn man drei unterschiedliche Behandlungsmethoden ausprobiert und keine Besserung sieht, rate ich, nicht aufzugeben. Manche probieren vier und finden erst dann Linderung. Auch wenn ein neues Medikament wie Esketamin bei dir nicht wirkt, wissen wir, dass wir Menschen bei der Genesung helfen können – selbst nach fünf Jahren schwerer Depressionen. Auch eine Psychotherapie begleitend zur Medikation kann bei besonders schweren Fällen helfen.

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Ich glaube, dass man bei einer schweren depressiven Störung, die lange Zeit anhält, zwischen den Behandlungsmethoden unterscheiden muss, die wir in einer akuten Phase einsetzen – wie EKT oder Esketamin –, und denen, die wir danach verwenden. Wir könnten mit EKT oder Esketamin weitermachen oder zum Beispiel eine Neuromodulationsbehandlung beginnen. Dabei werden das Gehirn und das Nervensystem stimuliert, ihre Aktivität zu ändern. 

Wird die Behandlung mit Ketamin und Esketamin in Zukunft weiter verbreitet sein?
Das werden wir alle gemeinsam entscheiden. Wir im medizinischen Bereich können entscheiden, wann wir solche Behandlungsmethoden anbieten. Wir können Patienten sagen, was wir über das jeweilige Produkt wissen oder nicht wissen. Am Ende liegt es aber bei den Patienten selbst, zu entscheiden, was sie von der Behandlung erwarten. Sie sind diejenigen, die ihre Erwartungen und Lebensumstände bewerten müssen. Anschließend geht es darum, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Diese Entscheidung ist ein sehr wichtiger Schritt für die Patienten.

Du leidest an Depressionen oder sorgst dich um einen nahestehenden Menschen? Die Nummer der Telefonseelsorge in Deutschland ist 0800 111 0 111. In dieser Liste sind bundesweite Anlaufstellen für Menschen mit Depressionen aufgeführt. Die Nummer der Telefonseelsorge in der Schweiz ist 143. Die Nummer der Telefonseelsorge in Österreich ist 142. Den Notfallpsychologischen Dienst erreichst du hier unter 0699 18 85 54 00.

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