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Wie es ist, Home Office heimlich aus dem Ausland zu machen

Daniel und Matt belügen ihre Arbeitgebenden seit Jahren – und das über verschiedene Klima- und Zeitzonen hinaus.
Ein Mann macht Home Office in einem anderen Land
Sym: Getty Stock Images

Daniel hasst es, wenn sein Chef einen Videocall machen will. Denn er hat ein Geheimnis: In seiner Firma glauben alle, dass er in der englischen Stadt Birmingham lebt. In Wirklichkeit wohnt Daniel seit zwei Jahren mehr als 9.000 Kilometer entfernt im thailändischen Chiang Mai. 

Am Anfang der Pandemie hatte seine Freundin gesagt, dass sie mit dem gemeinsamen Kind zurück in ihr Heimatland Thailand ziehen wolle. Weil er seine Familie nicht verlieren wollte, ging Daniel mit. Seinen Job als technischer Support eines Start-ups in England braucht er, um ihr Leben zu finanzieren. 

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Daniel kann problemlos aus Thailand arbeiten, doch seine Lüge macht Zoom-Meetings ziemlich schwierig: Neben dem Zeitunterschied von sieben Stunden muss Daniel auch die Temperaturunterschiede in den Ländern in sein Schauspiel mit einbeziehen. Während sich sein Chef "in England den Arsch abfriert", hat Daniel die Wahl: mitten im englischen Winter und in der Energiekrise den brummenden Ventilator einschalten oder vor der Kamera schwitzen. "Besonders schwer wird es, wenn draußen ein Tropensturm wütet", sagt er. 


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Um sich besser erklären zu können, überprüft er regelmäßig das Wetter in Birmingham und anderen englischen Städten. Doch manchmal fällt Daniel das Lügen schwer: "Es ist ermüdend, dauernd eine Fassade aufrechtzuerhalten", sagt er. 

Corona hat Home Office doch nicht so populär gemacht, wie alle dachten

Nach mehr als zwei Jahren Pandemie wollen immer mehr Arbeitgebende, dass ihre Angestellten zumindest an manchen Tagen ins Büro zurückkehren. Andere zwingen ihre Mitarbeitenden sogar dazu. Doch viele Arbeitnehmende haben sich inzwischen an die Vorzüge des Home Office gewöhnt: kürzere Arbeitswege, mehr Konzentration und mehr Zeit für Freizeitaktivitäten und Haushalt. 

Manche möchten deshalb nicht zurück ins Büro. Menschen wie Daniel dagegen können es schlichtweg nicht: Immerhin würde dann auffliegen, dass sie sich schon vor einiger Zeit ins Ausland oder einen anderen Teil des Landes abgesetzt haben. Was sie dann erwarten würde? Unklar.

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Viele Firmen wüssten nämlich gar nicht, wie sie damit umgehen sollen, dass ihre Angestellten "ohne Bescheid zu geben an einen schöneren Ort ziehen", sagt Robby Wogan, CEO eines Mobilitätsunternehmens. Tatsächlich kommt es sogar ziemlich oft vor, dass die Firmen überhaupt keine Ahnung haben, wo ihre Angestellten sich gerade herumtreiben.

In einer Umfrage unter US-amerikanischen und britischen Personalern und Personalerinnen gaben 40 Prozent an, erst kürzlich entdeckt zu haben, dass ihre Mitarbeitenden gar nicht wirklich von Zuhause aus arbeiten. In derselben Umfrage gaben nicht einmal die Hälfte der HRler an, sie wüssten "ziemlich sicher", wo sich die Angestellten während ihrer Arbeit im Home Office aufhielten. 

Das ergibt Sinn, wenn man sich die Gegenseite anschaut, denn die Studie befasst sich auch mit den Arbeitnehmenden. Von 1.500 befragten Angestellten aus den USA und Großbritannien erklärten 66 Prozent, sie würden ihrer Personalabteilung nicht darüber Bescheid geben, wenn sie aus dem Ausland oder einer anderen Stadt arbeiteten. 

Für Deutschland gibt es zwar keine vergleichbaren Zahlen. Doch auch hierzulande dürften die wenigsten Tina aus der Personalabteilung vorher eine Mail schreiben, wenn sie für ein paar Wochen zu ihrer Fernbeziehung nach München fahren.

Alles begann mit einer falschen Adresse in London

Als Matt zum ersten Mal aus dem Ausland arbeitete, ging er gegenüber seinem Arbeitgeber offen damit um. Er sah es nicht ein, den Großteil seines Gehalts für seine Miete in Manhattan auszugeben, und reiste direkt am Anfang der Corona-Pandemie nach Europa. 

Matt flog nach Großbritannien, fuhr mit der Bahn nach Frankreich und erklärte den französischen Grenzbehörden, er wohne offiziell in England. Natürlich wohnt Matt nicht in London, er heißt nicht einmal wirklich Matt. Doch damit er seinen Job nicht verliert, trägt er in diesem Text einen anderen Namen. 

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Matts Probleme begannen damit, dass er seinen Arbeitgeber um Hilfe für sein Visum in Europa bat. Die Firma verweigerte Matt die Unterstützung und forderte ihn dazu auf, sofort zurückzukommen. Matt dagegen wollte im Ausland bleiben, und so überlegte er sich eine ziemlich aufwändige Täuschung. 

Die Geschichte, wie Matt sie erzählt, geht so: Er kaufte sich ein Flugticket, schickte es per Mail an seinen Vorgesetzten und erklärte, er komme wie befohlen zurück in die USA. Allerdings würde er in einen anderen Bundesstaat ziehen, weit weg vom Standort der Firma. So wollte Matt Zeit gewinnen, falls er für den Job doch spontan mal vor Ort sein müsste. "Nach der Mail habe ich den Flug sofort gecancelt", sagt Matt, der fortan in Europa lebte. 

Denn auch für sein Visum war mit der Lüge gesorgt. Für den vermeintlich neuen Wohnort im fremden Bundesstaat holte sich Matt eine Arbeitsbescheinigung – und bekam sie diesmal auch. Das Dokument nutzte er allerdings nicht für einen Mietvertrag in den USA, sondern für ein europäisches Visum. 

Matt hat sich ein System ausgedacht, um nicht aufzufliegen

Geschichten wie die von Daniel und Matt sind der Albtraum vieler Arbeitgebenden in dieser Zeit. Durch das Home Office ist es für sie schwer zu überprüfen, von wo aus ihre Angestellten arbeiten. 

Manchmal hilft ihnen der Zufall dabei: Ein Start-Up aus San Francisco soll zum Beispiel nach den Adressen der Mitarbeitenden gefragt haben, um ihnen neue Firmen-Sweatshirts zuzusenden, erzählt Steve Black, Gründer eines HR-Unternehmens. "Dutzende der Angestellten hielten sich nicht dort auf, wo sie sein sollten", so Black. 

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Andere US-Firmen hätten herausgefunden, dass ihre Mitarbeitenden seit mehreren Monaten aus Italien arbeiteten. Black sagt, es käme sogar immer öfter vor, dass Unternehmen Arbeitnehmende feuern, weil diese auch dann noch im Ausland blieben, als ihre Vorgesetzten sie schon zur Rückkehr aufgefordert hatten. 

Bisher ist Matt mit seiner Lüge noch nicht aufgeflogen. Doch sie kostet ihn ähnlich wie Daniel viel Arbeit. Mit dem Wetterbericht ist es in diesem Fall aber nicht getan: Matt hat sich ein ganzes System gebaut, um seinen Standort zu verbergen. 

Weil das IT-System seines Arbeitslaptops schnell hinter seinen regulären VPN kam, kreierte er mit einem tragbaren Router ein "virtuelles Umfeld" in seinem Laptop. Er nutzt täglich verschiedene VPNs in Los Angeles, in Südafrika oder in Brasilien. So wird Matts Arbeitgeber hoffentlich nie herausfinden, wo er sich in Wirklichkeit aufhält. 

Bei den Zoom-Meetings hält Matt es einfach: Man sieht ihn nur vor einer gut beleuchteten weißen Wand ohne Fenster – oder gar nicht. Denn nach mehr als zwei Jahren Pandemie sind alle ohnehin derart genervt von Videocalls, dass Matt seine Kamera wie viele andere meist einfach aus lässt. 

Erst Steuern und Versicherungen machen die Sache richtig kompliziert

Glaubt man Robby Wogan, tun viele Personalabteilungen derzeit "alles", um den Home-Office-Wünschen ihrer Angestellten nachzukommen. Gleichzeitig verkaufen immer mehr Firmen das Büro als attraktiven Arbeitsort. Schließlich haben sie dort mehr Kontrolle über die Produktivität, können Mitarbeitende besser schulen und erhalten ein besseres Bild von der Stimmung im Team.

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Das Hauptargument für die  Arbeit vor Ort aber dürften bürokratische Ursachen wie Steuern und Versicherungen sein. "Wenn ein Angestellter zu lange am falschen Ort ist, kann das steuerliche Konsequenzen für den Arbeitnehmer und die Firma haben", sagt Steve Black. 

So dürfen Deutsche als EU-Mitglieder rechtlich gesehen zwar aus jedem anderen EU-Land arbeiten, sind aber in ihrem Wohnsitzland sozialversicherungspflichtig und müssen dort auch Einkommenssteuer zahlen. Für die Arbeitgebenden kann das dazu führen, dass sie im Ausland eine Betriebsstätte angeben und Steuern zahlen müssen. Ziemlich weit weg von der Fantasie, langweilige Konferenzen von einem thailändischen Strand aus zu führen. 

Daniels Vorgesetzter lädt ihn in letzter Zeit öfter nach London ein

Matt will dennoch nicht zurück an den Schreibtisch: Wenn seine Arbeit ihn dazu zwingen würde, vor Ort zu sein, würde er kündigen, sagt er. Die Pandemie habe sein Verhältnis zu seinem Job verändert: "Ich war total auf meine Karriere fixiert", sagt Matt. Heute wolle er vor allem im Ausland leben. 

Daniel dagegen weiß nicht, wie lange er die Lüge über seinen neuen Wohnort in Thailand noch aufrechterhalten kann. Immer öfter übt sein Vorgesetzter Druck auf ihn aus, er solle öfter nach London kommen und Zeit mit seinen Kollegen verbringen. "Ich benutze mein Kind als Ausrede oder sage, dass ich an dem Tag schon etwas vorhabe", sagt Daniel. 

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Doch was, wenn ihm das irgendwann keiner mehr abkauft? Daniel rechnet mit Sanktionen, sollte ihn das Management jemals erwischen. Aber selbst wenn – er würde seine Familie nicht im Stich lassen und zurück nach England gehen.

Sein geheimer Umzug sei zwar juristisch fragwürdig. Moralisch aber, zu diesem Schluss sei er in den vergangenen zwei Jahren gekommen, sei seine Entscheidung völlig in Ordnung. Er habe in Thailand gutes Internet, fange pünktlich mit der Arbeit an und sei dabei so effizient wie in England auch. 

Für Daniel ist all das Grund genug, so weiterzumachen wie bisher. So einfach ist das. Und vielleicht ist es das tatsächlich. 

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