Menschen

Ich liebe meinen Partner, aber wünschte, wir würden nicht zusammenleben

"Manchmal beneide ich Freundinnen, die alleine wohnen. Ist es überbewertet, als Paar zusammenzuwohnen?"
Giulia Trincardi
Milan, IT
Ein Paar liegt zusammen in einem Doppelbett, um sie herum sind Klamotten verstreut. Hatten sie gerade Sex? Oder sind sie einfach sehr unordentlich? Man weiß es nicht. Manche Beziehungen funktionieren besser, wenn man nicht zusammenlebt.
Illustration von AdobeStock

"Frag VICE" ist eine Artikelreihe, bei der uns Leserinnen und Leser bitten, ihnen bei verschiedenen Problemen zu helfen – egal, ob es sich um nicht erwiderte romantische Gefühle oder den Umgang mit nervigen Mitbewohnern handelt. Heute hoffen wir, einer Leserin zu helfen, die nicht mehr so viel Spaß an ihrer Beziehung hat, seit sie mit ihrem Partner zusammengezogen ist.

Hallo VICE,

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Ich bin seit fünf Jahren in einer wunderbaren Beziehung. In den ersten beiden Jahren haben wir eine Fernbeziehung geführt, weil ich im Ausland studiert habe. Seit drei Jahren leben wir zusammen. Mein Partner und ich haben uns das immer gewünscht. Doch als es irgendwann so weit war, wurden die Dinge kompliziert.

Ich habe davor mit Freunden in einer WG gewohnt, mein Freund ist bei uns eingezogen. Das hat die gesamte Dynamik mit meinen Mitbewohnern verändert. Dabei ist mir und meinem Partner auch ziemlich schnell aufgefallen, dass wir sehr unterschiedliche Vorstellungen von einem Zuhause haben.


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Mein Zuhause ist für mich ein heiliger Ort. Jeder Gegenstand darin trägt eine Bedeutung. Mir ist es wichtig, dass alles sauber und geordnet ist – so behalte ich einen klaren Kopf. Er sieht das anders. Für ihn ist ein Zuhause eine Art Aufbewahrungsort für seinen Kram. Im ersten Jahr unseres Zusammenlebens haben wir uns ständig über Ordnung gestritten. 

Ich bin dabei einige Kompromisse eingegangen und wir sind aus der WG ausgezogen. Doch mir fällt immer öfter auf, dass ich erleichtert bin, wenn mein Partner und ich wegen der Arbeit oder unseren Familien getrennt sind. In diesen Momenten ist zwischen uns alles wieder wie in der Fernbeziehung. Damals haben wir uns noch nicht über den Abwasch, den Müll oder darüber gestritten, wer heute kochen soll. 

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Manchmal beneide ich meine Freundinnen, die alleine wohnen. Ist es überbewertet, als Paar zusammenzuwohnen? Kann man eine starke Liebesbeziehung führen, wenn jeder sein eigenes Zuhause behält?

O.


Liebe O.,

du hast in deinem Brief beschrieben, dass du und dein Partner unterschiedliche Vorstellungen davon habt, was ein Zuhause ausmacht – und wie man sich darum kümmern sollte. Es ist wichtig, dass ihr nun herausfindet, woher diese unterschiedlichen Werte kommen. Immerhin sorgt dieser Zustand für viel Stress in eurer Beziehung. 

Raffaele Simone, ein Psychologe und Paartherapeut aus Mailand, sagt: Wie Menschen zu ihrem Zuhause stehen, habe viel mit ihrer Vergangenheit und ihrer familiären Situation zu tun. "Nehmen wir eine Person aus einer Familie, die oft umgezogen ist", sagt Simone. "Sie hat vielleicht gelernt, dass das Gefühl eines Zuhauses mit dem Schmerz verbunden ist, es wieder verlassen zu müssen." Um damit besser umgehen zu können, würden manche es unbewusst vermeiden, sich zu sehr an einen Wohnort zu binden. 

"Wenn zwei Menschen zusammenziehen, treffen manchmal sehr unterschiedliche Gewohnheiten und Perspektiven aufeinander", sagt Simone. "Das kann zu Konflikten führen oder dazu, dass man gemeinsam wächst." Selbst Probleme und Streit könnten Paare und ihre Gewohnheiten im neuen Zuhause am Ende näher zueinander führen. 

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In eurer Paarbeziehung können sich diese unterschiedlichen Ansichten in ganz alltäglichen Situationen zeigen. Ein Beispiel: Euer Küchentisch hat mal deiner verstorbenen Großmutter gehört. Dieses Möbelstück hat für dich eine wichtige und positive Bedeutung. Jemand anderes könnte mit demselben Tisch Trauer verbinden. 

Auch die Corona-Pandemie könnte dazu beigetragen haben, dass es bei euch Probleme gibt. Viele haben in dieser Zeit sehr extreme Gefühle zu ihrer Wohnsituation entwickelt. "Unser ganzes Leben hat sich in unser Zuhause verlagert", erklärt Simone. Die Wohnung sei jetzt auch ein Büro, ein Fitnessstudio oder eine Bäckerei. Viel mehr Menschen als sonst wollen sich ein eigenes Haus oder eine eigene Wohnung kaufen. 

"Andere haben dagegen angefangen, ihr Zuhause zu hassen, weil sie so lange darin eingesperrt waren", sagt Simone. Für dich bedeutet ein gepflegtes Zuhause auch Self-Care. Dein Partner legt vielleicht mehr Wert auf Aktivitäten in der Außenwelt: weggehen, verreisen, in der Natur sein. Womöglich sieht er den Haushalt sogar als Zeitverschwendung. Und vielleicht ärgert es ihn sogar, weil er in den letzten Jahren so viel Zeit drinnen verbringen und das Leben draußen pausieren musste. 

In heterosexuellen Beziehungen erledigt bis heute die Frau die meiste Arbeit im Haushalt. Das liegt vor allem daran, wie unterschiedlich Frauen und Männer von der Gesellschaft geprägt werden. Erst vor Kurzem hat diesbezüglich ein Wandel begonnen. Egal wie frustrierend es für dich sein mag: Dein Partner hat vielleicht nie gelernt, wie manche Dinge im Haushalt funktionieren. Wenn ihr in der Arbeitseinteilung einen Kompromiss finden wollt, musst du ihm möglicherweise einige Dinge zeigen und erklären. Achte dabei darauf, dass du ihm kein Schuldgefühl vermittelst – zumindest beim ersten Mal.

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Wenn du aber trotz alledem davon überzeugt bist, dass es für eure Beziehung besser wäre, wenn ihr getrennt lebt, ist das total in Ordnung. "Nur weil die meisten Menschen etwas tun, heißt das noch nicht, dass dem jeder folgen muss", sagt Simone. 

Ihr solltet euch fragen, wie sehr ihr das Zusammenleben genießt – unabhängig von wirtschaftlichen Überlegungen oder den sozialen Ansprüchen an Paare. Wenn ihr euch etwas anderes wünscht, könnt ihr euch andere Optionen überlegen. Ihr könntet zum Beispiel eine Zeit lang auf Probe getrennt leben und schauen, was euch besser gefällt. 

Doch wie bringt man seinem Partner solche Überlegungen behutsam bei? "Du solltest ihm deutlich machen, dass eine persönliche Vorliebe – etwa in Bezug auf deinen Rückzugsort – keinen Einfluss auf deine Gefühle für ihn hat", sagt Simone. "Ein eigener privater Bereich erlaubt dir auch Raum für deine persönliche Entwicklung, unabhängig von deinem Partner." 

Unsere Generation ist sehr daran gewöhnt, alternative Lebensentwürfe auszuprobieren. Sich als Paar für eine gemeinsame Wohnung zu entscheiden, ist anders als früher. "Wir sind in einer Beziehung, weil wir Vertrauen in unsere Verbindung haben", sagt Simone. "Das allein kann das Paar glücklich und zufrieden machen. Auch wenn es sich nicht täglich sieht oder zusammenlebt."

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