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Dein Haus ist ein lukratives Investment geworden—also verpiss dich

In Hamburg mussten die Bewohner der Esso-Häuser über Nacht raus. Die Anwältin der Mieter ist nicht nur für die juristische Betreuung zuständig, sondern führt auch die psychologische Betreuung durch.

Ich stehe wieder vor den Esso-Häusern auf der Reeperbahn, dessen gesamtes Areal seit der nächtlichen Evakuierung um Weihnachten herum mit einem Bauzaun abgesperrt ist. Anwohner haben ihre Wohnungen über Nacht verloren und Gewerbetreibende ihre Bars, Restaurants, Einzelhandelsgeschäfte oder Hotels—anscheinend weil das Haus zu marode und einsturzgefährdet ist. Keiner durfte mehr rein, sie mussten alle ihre Möbel und sonstiges Inventar zurücklassen—bis letzte Woche. Am Montag schickte der Vermieter—die Bayerische Hausbau—ein letztes Mal Statiker durchs Haus, um sich ein „OK“ für den geplanten Auszug aller Mietparteien zu holen. Jetzt werden seit ein paar Tagen Kisten und Möbel aus dem Haus in große Umzugswagen getragen.

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Von den Mietern ist weit und breit nichts zu sehen. Nur die Möbelpacker und ein paar Security-Männer stehen hinter dem Zaun. Auch die Esso-Tankstelle wird gerade ausgeräumt. Der Geschäftsführer Lars Schütze unterhält sich hier mit einer Bekannten. „Es ist alles wirklich sehr traurig. Ich weiß gar nicht, wohin mit den ganzen Sachen“, höre ich ihn sagen. Aber so traurig kann er jetzt auch wieder nicht sein: Sein Vater, Jürgen Schütze, hat den gesamten Gebäudekomplex 1997 für fünf Millionen Euro gekauft und 2009 für 19 Millionen an die Bayerische Hausbau weiter verkauft.

Ich spreche kurz mit dem Wachmann hinter dem Bauzaun, der mir erzählt, dass selten einer der Mieter anwesend ist, wenn die Wohnung ausgeräumt wird. Die Bayerische hat eine Spedition angeheuert, die den gesamten Umzug stemmt—76 Wohnungen samt Kellerabteile in zwei Wochen, so ist der Plan, schreibt mir der Sprecher der Bayrischen, Bernhardt Taubenberger, in einer E-Mail. Wenn die Mieter wollen, dürfen sie dirigieren oder ein paar private Sachen einpacken, den Rest erledigen die Möbelpacker. Wer schon eine Ersatzwohnung hat, bekommt seine Sachen direkt dorthin geliefert, alles andere wird eingelagert.

Der überstürzte Auszug hat die Bewohner schwer getroffen. „Sie stehen kurz vorm Nervenzusammenbruch“, sagte die Anwältin Christiane Hollander vom Hamburger Mieterverein e.V., bei einer Pressekonferenz. Sie vertritt knapp die Hälfte der Bewohner. Ich treffe die bekennende St. Paulianerin heute in ihrem Büro, das mitten in der Schanze liegt. Sie ist nicht nur die Anwältin, sondern auch Seelsorgerin für die Mieter.

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VICE: Ich habe versucht, Kontakt zu den Mietern aufzunehmen, aber sie wollen nicht mehr mit der Presse reden. Wie geht es den meisten denn jetzt?
Christiane Hollander: Die sind immer noch traumatisiert. Viele haben Spätfolgen, können nicht richtig schlafen. Es macht ihnen zu schaffen, dass sie ihr Zuhause und ihre gewohnte Umgebung aufgeben müssen. Das Damoklesschwert, ein neues Zuhause zu finden, hängt die ganze Zeit über ihnen. Sie kommen hier bei mir vorbei oder rufen mich an und fragen, was sie machen sollen.

Dann führst du quasi die psychologische Betreuung für sie?
Auch. Eigentlich hätte der Bezirk Geld zur Verfügung stellen müssen, damit die Gemeinwesenarbeit St. Pauli (GWA) ein solches Programm erstellen kann, haben sie aber nicht. Die GWA hat hier viel geleistet, unterstützt von den Nachbarn und auch von uns—der Zusammenhalt ist ein Paradebeispiel für St. Pauli, besonders im letzten Jahr. Ich war damals außerhalb Hamburgs und habe nachts eine SMS bekommen, dass die Häuser evakuiert wurden. Am nächsten Morgen bin ich dann sofort dorthin gefahren und ins Zelt gegangen, in dem die Anwohner betreut wurden. Als sie mich sahen, hörte ich nur: „Gott sei Dank, sie ist da.“ Sie waren alle total fertig, die meisten hatten die Nacht in einer Turnhalle verbracht.

Wie lange vertrittst du die Mieter der Esso-Häuser schon?
Seit dem Vermieterwechsel 2009. Ein Koch, der in den Häusern wohnte, sprach kein Deutsch und hatte dieses Schreiben von der Bayerischen Hausbau in der Hand, das er nicht verstand. Es war die Ankündigung des Eigentümerwechsels. Ich hörte auch von den befristeten Mietverträgen und wurde skeptisch. Deshalb bin ich zur GWA St. Pauli gegangen und habe mit ihnen darüber gesprochen. Später ist auch die Initiative Esso-Häuser daraus hervorgegangen. Wir sind durch die Häuser gegangen und haben die Bewohner aufgeklärt und ihnen gesagt, dass sie nicht einfach alles unterschreiben sollen. Es gab einen Rahmenvertrag, nach dem die Mietverhältnisse ausgesetzt werden sollten. Zugesagt wurde lediglich eine Hilfestellung bei der Wohnungssuche von der Bayerischen Hausbau. Diesen Vertragsentwurf hielt ich für frech, da er einseitig zugunsten der Eigentümer war, was ich auch öffentlich sagte. Dies wurde mir sehr übel genommen. Danach war die Kommunikation erst mal dahin.

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Ist die jetzt besser?
Ja, es gibt jetzt einen neuen Ansprechpartner, Herr Taubenberger, der sich bemüht, die Angelegenheiten einvernehmlich zu regeln.

Was forderst du für deine Mandanten?
Ich suche erstmal nach pragmatischen Lösungen. Klar könnte ich auch sagen, ich verklage die Bayerische Hausbau für euch, aber das bringt den Mietern jetzt keine Erleichterung. Ein Klageverfahren dauert lange. Daher sorge ich dafür, dass die Mieter jetzt versorgt sind. Das sind dann aber fast alles Einzelschicksale. Einige Mieter haben in ihren neuen Wohnungen keine Böden, nur Estrich, oder es gibt nur eine Spüle, keine Küche. Dann sorge ich dafür, dass sie einen Boden bekommen, oder die Küche aus der alten Wohnung, auch wenn sie dem Vermieter gehörte.

Sind denn schon viele deiner Mandanten in neuen Wohnungen untergekommen?
Von meinen 35 Mandaten sind vier oder fünf schon richtig wohnhaft, zwei ziehen noch Mitte Januar um und einige im Februar.

Die Bayerische hat versprochen, sie alle möglichst in St. Pauli und Umgebung unterzubringen. Ist das gelungen oder wird das gelingen?
Nein, es wird nicht gelingen. Bis jetzt sind die meisten hier in St. Pauli oder in der Schanze untergekommen. Dies betrifft aber langjährige Mieter, diejenigen, die noch nicht solange hier wohnen, werden auch in anderen Stadtteilen leben müssen.

Wie sieht es mit den Gewerbetreibenden aus?
Die haben kein Rückkehrrecht.

Und Schadensersatz? Bekommen sie den wenigstens? Es hieß immer, dass die Bayerische nichts zahlen wird.
Das hat Herr Taubenberger zwar auf einer Pressekonferenz gesagt. Eine Stunde später wurden aber die ersten Entschädigungen gezahlt. Da die Mieter etwa in den Hotels einen Mehraufwand haben. Sie müssen zum Beispiel essen gehen, können dort nicht kochen.

Was hat Jürgen Schütze, also der vorherige Eigentümer, eigentlich für die Instandhaltung der Häuser getan?
Er hat nie ernsthaft instand gesetzt. Später hat er dann auf die Tränendrüse gedrückt, dass die Sanierungskosten so hoch sind und er das Gelände verkaufen muss. Er hätte kein Geld dafür. Dabei muss eigentlich jeder Vermieter stets einen Teil seiner Mieteinnahmen zur Seite legen, genau für solche Fälle. Ist nur die Frage, was er dann stattdessen mit den Mieteinnahmen gemacht hat. Billig waren die Wohnungen nicht.

Wieso hat das Bezirksamt nicht eingegriffen?
Das Bezirksamt hat auch geschlunzt. Andy Grote (Chef Bezirksamt Mitte) meinte sogar: „Die Mieter hätten sich selber nicht gemeldet, was im Keller passiert.“ Da ist uns aber der Hut hochgegangen. Das sind doch keine Bauingenieure. Das Bezirksamt hätte selber zwischendurch nachkucken müssen. Das ganze Gebiet um die Reeperbahn steht unter Beobachtungsdruck. Direkt neben den Esso-Häusern haben sie die neuen, schicken „Tanzende Türme“ gebaut und dann kucken die nicht mal bei dem Riesenkomplex nebenan? Das Haus am Nobistor 18 ist leer, da haben eine Menge südamerikanischer Frauen gewohnt—alle weg. Das Haus über und neben dem Penny-Markt, da brennt nur noch in zwei Wohnungen das Licht und eine davon ist die Hausmeisterwohnung. Da interessiert sich auch keiner für.

Hätte Schütze das Haus denn überhaupt noch retten können?
Das Gebäude hätte gar nicht so kaputt gehen können, wenn man das instand gehalten hätte.

Darf die Bayerische denn jetzt ihren geplanten Neubau schon bauen?
Es gibt noch nicht einmal eine Abrissgenehmigung.