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Wie es ist, in einer 23er-WG zu leben

Wie vollgeschissen ist das Klo? Wie schimmlig die Dusche? Wie lange muss man für den Kaffee morgens Schlange stehen? Lektionen aus einem Leben mit 22 Mitbewohnern.
Schild an einer Tür ,,occupied"
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Als sich in meinem Freundeskreis herumzusprechen begann, dass ich vorhabe, in eine WG mit über 20 Mitbewohnern—22, um genau zu sein—zu ziehen, fielen fast alle Reaktionen ähnlich aus: Warum will er sich das antun? Ist er zum Hippie geworden? Kommune 2.0? Ist er verrückt? Zumindest Letzteres kann ich bejahen, allerdings hat das nichts mit meiner Wohnentscheidung zu tun.

Natürlich hört es sich erst einmal ziemlich heftig an, mit mehr als 20 Menschen zusammenzuleben. Ich hatte bis dato nur in meinem Elternhaus und während meines Studiums in einer 3er-WG gewohnt, wobei meine zwei Mitbewohnerinnen meistens ohnehin nicht da waren. Trotz all dieser Fragen habe ich mich für meine 22 Mitbewohner entschieden. Warum? Weil das Leben in einer derart großen WG zwar anstrengend sein kann, man hier aber auch etwas findet, das insbesondere in einer Stadt wie Wien sehr selten ist: Nachbarschaft.

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Für viele Wiener bedeutet dieses Wort vermutlich, dass man ungefähr weiß, wann die alte Frau im ersten Stock normalerweise einkaufen geht und man, wenn man sie plötzlich seit drei Wochen nicht mehr im Stiegenhaus getroffen hat, vielleicht einmal an ihrer Wohnungstüre schnuppern sollte. Ich, als Kind vom Lande, verbinde mit Nachbarschaft aber ein besonders kitschig romantisches Bild von gemeinsamen Unternehmungen, gegenseitigem Aushelfen mit Milch und sonstigen Lebensmitteln und gelegentlichem Klatsch und Tratsch darüber, was diese und jene Person über eine andere gesagt hat.

Nachdem ich jetzt seit gut zwei Monaten im sozialen Ausnahmezustand wohne, habe ich beschlossen, ein kleines Resümee zu ziehen, um euch kleinbürgerlichen Spießern in euren 8er-WGs da draußen zu zeigen, warum verstopfte Waschbecken und gammliges Geschirr ein angemessener Preis für die coolste aller möglichen Wohnformen sind.

Toilette

Um gleich vorweg eine der wichtigsten Fragen im Stile einer ehemaligen österreichischen Justizministerin zu beantworten, das Klo ist nicht jeden Freitag vollgeschissen. Aber regelmäßig. Und natürlich kann insbesondere das Thema Sauberkeit bei so vielen Leuten unter einem Dach zum Problem werden. Denn wenn der geschätzte Mitmensch zu geschwächt ist, um die schwere Klobürste heben zu können, kann man das leicht als rücksichtsloses Verhalten fehlinterpretieren. Für diese Wohnform braucht man tatsächlich ein bestimmtes Maß an Geduld und seelischer Gelassenheit.

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Man könnte selbstverständlich jedes Mal den Schmierfink verfluchen, wegen dem man zuerst selbst zu Bürste und Desinfektionsmittel greifen muss, um sich anschließend ohne die Gefahr einer multiplen Infektion erleichtern zu können. Aber auch wenn es für Außenstehende nur schwer nachvollziehbar scheint: Man lernt damit umzugehen. Und vor allem beginnt man auch selbst, das Leben etwas gelassener zu sehen und sich nicht in jeden Scheiß (im wahrsten Sinne des Wortes) hineinzusteigern.

Küche

Man muss kein Klaustrophobiker sein, um sich angesichts von 22 Mitbewohnern Sorgen darüber zu machen, wie man mit einer einzigen Küche regelmäßig Mahlzeiten zubereiten soll. Doch in einer so großen und heterogenen WG kommen derart unterschiedliche Lebensgewohnheiten und folglich auch Tagesrhythmen zusammen, dass es oft so scheint, als lebe man „nur" mit fünf Leuten zusammen. Dass es tatsächlich doch deutlich mehr sind, merkt man meistens nur am dreckigen Geschirr.

Das hat auch mit einem großen Vorteil dieser Lebensform zu tun: Der Gemeinschaft in der Wohngemeinschaft. Denn da sich häufig mehrere zusammentun, um gemeinsam zu kochen, kommt man sich am Herd nur selten in die Quere. Und wenn einmal in der Woche zum gemeinsamen WG-Essen geladen wird, bei dem eine kleine Gruppe die Gemeinschaft gegen einen Unkostenbeitrag bekocht, fühlt man sich beinahe wie in einer großen Familie. Insbesondere dann, wenn es sich um exotische Leckereien handelt, wie zum Beispiel Straußen-Eierspeise.

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Bad und Dusche

Für viele dürfte der Gedanke, Bad und Dusche mit so vielen Leuten teilen zu müssen, ein Horror-Szenario sein. Doch mit immerhin zwei Bädern und vier Duschen scheitert man nur selten daran, der Körperpflege nachzugehen. Eine Herausforderung stellt allerdings die einzige Waschmaschine dar. Wenn man keine sauberen Klamotten mehr hat, sollte schon früh aufstehen, um nicht einen ganzen Tag lang in regelmäßigen Abständen die Restdauer des aktuellen Waschgangs prüfen zu müssen, nur um festzustellen, dass einem letztendlich schon wieder jemand zuvorgekommen ist.

Reparaturen

Abseits dieser Problemfelder hat es aber tatsächlich viele Vorteile, mit 22 Leuten einen gemeinsamen Wohnraum zu teilen. Wenn wieder einmal ein Waschbecken verstopft ist—was häufig vorkommt—oder Teile der Dachterrasse wegbrechen, finden sich stets einige handwerklich begabte Individuen, die das Problem zu lösen wissen.

Als einmal in den Klos (es gibt immerhin drei) der Abfluss des Waschbeckens den Durchlass verweigerte und selbst giftigste Chemikalien und Gewaltakte mit der Saugglocke keine Verbesserung herbeiführten, war die Verzweiflung groß. Bis ein Mitbewohner mit besonders beeindruckendem Lungenvolumen der Verstopfung wie im Märchen vom Wolf und den drei kleinen Schweinchen den Garaus machte. Allfällige Reparaturen an der Terrasse werden auch schon mal nach der „russischen Methode" vorgenommen. Mit einem Lattenrost sind gefährliche Löcher schließlich schnell und sicher zugenagelt.

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WG-interne Beziehungen

Einsam fühlt man sich hier eigentlich nie, für Singles auf der Suche kann der soziale Überfluss aber auch zum Problem werden. Wer nur ins Wohnzimmer zu gehen braucht, um unter die Leute zu kommen und sich zu betrinken, spart zwar viel Geld, findet allerdings immer nur die selbe, wenn gleich erlesene Auswahl an verfügbaren Vertretern des bevorzugten Geschlechts vor. Um auf Dauer die Gefahr des wiederholten WG-Inzests zu bannen, muss man sich von Zeit zu Zeit aus der Geborgenheit der Wohnfamilie lösen. Das fällt allerdings nicht unbedingt leicht, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat.

Konflikte

Eine WG dieser Größe produziert natürlich auch sehr viel Müll, nicht nur in den dafür vorgesehenen Behältern, sondern auch am Gang. Und im zwischenmenschlichen Sinn. Wortgefechte über in den Zimmern gebunkertes Geschirr und „für später" auf die Seite gestellte Mahlzeiten, die bereits als vierundzwanzigstes WG-Mitglied betrachtet werden könnten, bleiben zwar im zivilisierten Rahmen. Eifersuchtsdramen und gemeinschaftliche Intrigen können aber schon mal den Hausfrieden gefährden und Mitbewohner dauerhaft entzweien.

Wenn sich diese Konflikte auswachsen und auch schon mal zu klebrigen Überraschungen an manchen Türklinken führen, treten zum Glück jene unbesungenen Helden und Heldinnen des WG-Lebens in Aktion, die als besonnene Vermittler auch tief sitzende Konflikte zu schlichten wissen. Denn es gibt diese unersetzbaren Menschen, die sich mit jedem zu verstehen scheinen und damit für eine gewisse Ruhe und Gelassenheit sorgen, die auf die Gemeinschaft ausstrahlt. Die gleichsam als Psychiater und Paartherapeut fungieren. Ohne die eine solche Großkommune nicht überleben könnte.

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Party

Das Leben in einer WG ist bekanntlich nicht die endlose Party, die man sich als Neuling vielleicht ausmalt. Wenn aber eine Party stattfindet, fühlt sich das in einer Gemeinschaft von 23 Leuten ungefähr so an, wie auf einem kleinen Underground-Festival. Wenn das Wohnzimmer zur Diskothek umgebaut und mit Bierzapfanlage ausgestattet wird, um rund hundert feierwütige Gäste bei Laune zu halten, kann die Party nur durch die Polizei beendet werden. Beziehungsweise durch die werten Nachbarn, die sie spätestens im Morgengrauen rufen. Wenn dann die freiwilligen Spenden in der Haushaltskasse nicht einmal ausreichen, um die entstandenen Kosten zu decken, ist man wenigstens um eine Anekdote reicher, die man für den nächsten Artikel verwenden kann.

Fazit

Was ist mein Resümee aus den vergangenen zwei Monaten, die ich in dieser WG der Superlative verbracht habe? Bereue ich meine Entscheidung? Nein. Ist es so, wie ich es mir vorgestellt habe? Nein—es ist viel besser. Man muss vermutlich eine ganz spezielle Sorte Mensch sein, um das hier schätzen zu können. Aber glücklicherweise bin ich das. Natürlich lebt die vermutlich größte WG Österreichs nicht nur von Luft, Liebe und Alkohol, sondern in erster Linie davon, dass sich die richtigen Leute gefunden haben. Hier wohnen Studierende, leitende Angestellte und Langzeitarbeitssuchende mit unterschiedlichen Persönlichkeiten, Störungen, Biografien und Vorlieben zusammen unter einem Dach. Und vielleicht funktioniert diese Wahnsinns-WG gerade deshalb. Zwar nicht immer perfekt, aber doch.