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Sex

Wissen Jugendliche durch Internetpornos heute wirklich mehr über Sex als früher?

Warum in Klassenzimmern über Pornos gesprochen werden sollte.

Während zu meiner Schulzeit die meisten Jugendlichen noch versuchten, sich ihr Wissen über Sex durch die Bravo oder das nächtliche Binge-Watching von Sexhotline-Werbeclips anzueignen, kann sich heute jeder Pornos im Netz ansehen. Kinder und Jugendliche werden heutzutage immer früher mit Bildern von sexuellen Handlungen konfrontiert, trotzdem wird das Thema Pornografie im deutschsprachigen Raum nicht im normalen Sexualkundeunterricht behandelt.

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In dem Projekt „Mit Sicherheit verliebt" engagieren sich Mitglieder der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (BVMG) für eine bessere sexuelle Aufklärung von Jugendlichen. Sie informieren die Schüler über die Gefahren von sexuell übertragbaren Krankheiten und reden mit Jugendlichen darüber, was sie in puncto Sexualität am meisten beschäftigt. Das Thema Pornos wird dabei im Gegensatz zum normalen Sexualkundeunterricht nicht ausgeklammert, sondern als wichtiger Teil der sexuellen Aufklärung miteinbezogen. Ich habe mich mit Solveig Mosthaf, der Bundeskoordinatorin der AG Sexualität und Prävention des BVMG, über ihre Arbeit unterhalten und sie gefragt, ob Jugendliche durch Internetpornos heute mehr über Sex wissen als früher.

VICE: Worum genau geht es euch in diesem Projekt?
Solveig Mosthaf: Wir reden mit den Kindern und Jugendlichen über bestimmte Themen der sexuellen Gesundheit und Prävention und versuchen, mit ihnen spielerisch die Dinge zu erarbeiten und sie zum Reflektieren anzuregen. Wir machen keinen Frontalunterricht, wie es sonst in der Schule der Fall ist, aber wir sehen uns nicht als eine Alternative zum Sexualunterricht, der in den Lehrplänen vorgesehen ist, sondern eher als eine Ergänzung dazu.

Das Sex-ABC ist eine Methode, bei der die Studierenden mit den Schülern verschiedene Begriffe zum Thema Sexualität sammeln und sie anschließend erklären.

Das Prinzip, nach dem wir vorgehen, ist das Prinzip der Peer Education, das heißt man bleibt innerhalb der Peer Group, der sozialen Gruppe, die einem vom Alter, Kleidungsstil und so weiter am ähnlichsten ist. Wir sind an den Schülern viel näher dran, als es ein Lehrer durch den Altersunterschied jemals sein könnte. Das ist die Lücke, wo wir ansetzen. Wissen vermitteln, das können die Lehrer sehr gut, aber bei allem, was drum herum passiert, wird es schwierig bei so einem sensiblen Thema. Die Schüler haben Hemmungen, persönliche Fragen zu stellen, weil der Lehrer ihnen als Autoritätsperson begegnet und sie ja auch Noten von ihm bekommen. Bei uns bleibt alles anonym, wir sagen dem Lehrer nichts und geben auch nichts an die Eltern weiter. Die Schüler dürfen bei uns alles fragen, was sie sonst nicht fragen können.

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Was macht ihr für Erfahrungen? Wie gut sind die Schüler aufgeklärt?
Meistens ist es so: Am Anfang wird erst mal gelacht oder es wird rumgekichert, wenn man zum Beispiel das Wort Penis sagt, aber am Ende werden dann schon viele Fragen gestellt. Dann haben wir noch die Methode der Blackbox. Die Schüler können ihre Fragen aufschreiben und die Zettel in einen schwarzen Karton werfen und die Fragen werden dann von uns anonym vorgelesen und beantwortet.

Was das Wissen angeht, machen wir ganz unterschiedliche Erfahrungen. In manchen Klassen wissen die Schüler sehr viel über Dinge, die wir schon als fortgeschrittene Themen ansehen. In anderen Klassen wissen sie gar nichts, auch nichts von Sachen, von denen wir denken, dass sie zum Basiswissen gehören. Was von den Schülern oft kommt, ist die Frage: Ist das normal? Die Mädchen fragen, ob es normal ist, dass sie ihre Tage noch nicht haben oder keine Tampons benutzen. Die Jungs fragen, ob es normal ist, dass sie noch keinen Sex hatten und ab wann man eigentlich Sex oder eine Freundin haben muss. Das sind Fragen, die eigentlich alle Schüler beschäftigen.

Wie sieht es mit dem Wissen über sexuell übertragbare Krankheiten aus?
Man kann sagen, dass HIV und AIDS inzwischen in den Köpfen angekommen ist, da wissen die Schüler oft gut drüber Bescheid. Andere Krankheiten sind sehr viel weniger bekannt: Bakterielle Infektionen wie Chlamydien, Tripper, Syphilis oder Virusinfektionen wie das humane Papillomvirus, Herpesviren oder Hepatitis. STIs sind mit das wichtigste Thema für uns, da wir ja selbst aus der Medizin kommen. Wir machen immer was über HIV und AIDS, egal wie viel die Schüler wissen, und dann anschließend etwas zu den anderen Krankheiten. Dabei ist uns vor allem wichtig, dass die Jugendlichen wissen, wie man diese Krankheiten erkennt und dass sie behandelbar sind, aber dass man dafür natürlich auch zum Arzt gehen muss.

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Wir behandeln auch die Themen Pornografie oder Sexting—wo man Nacktfotos von sich ins Internet stellt oder über Facebook verschickt—das sind Themen die jetzt immer wichtiger werden, die waren früher nicht so aktuell.

Im Gegensatz zu der Zeit, als ich zur Schule gegangen bin, kann sich heute jeder Jugendliche Pornos im Internet ansehen. Wie gehen die Schüler damit um? Hast du das Gefühl, dass sie durch den Pornokonsum mehr über Sex wissen?
Ich habe den Eindruck, dass Pornos sehr früh gesehen werden. Wenn wir in eine Klasse mit 12-Jährigen kommen, ist Porno da auf jeden Fall schon ein Begriff. Wenn auch bestimmt nicht alle, sind mit Sicherheit Kinder dabei, die schon mit zehn anfangen, Pornos zu schauen, andere erst später, aber jeder weiß, was es ist. Das liegt natürlich daran, dass man durchs Internet ganz leicht rankommt. Pornos sind der einfachste Weg, an Informationen zu kommen und sich mit dem Thema zu beschäftigen, deswegen wird das Angebot so viel genutzt. Ob sie dadurch mehr wissen? Wahrscheinlich schon, es fallen mehr Begriffe aus dem Porno-Bereich, Sachen, die wir teilweise selbst gar nicht wissen, wenn wir nicht auf dem neuesten Stand sind. Gangbang war mir in dem Alter zum Beispiel kein Begriff, aber jetzt ist das sehr verbreitet.

Die Jugendlichen kennen durch die Pornografie mehr Praktiken, jeder weiß inzwischen, was Analsex ist. Das heißt aber nicht, dass sie mehr darüber wissen, was sie selber wollen. Ich glaube das Problem ist, dass Pornos Fantasieprodukte sind und realitätsfern und höchstens ein Pseudowissen vermitteln. Wir vergleichen das in der Methode, die wir haben, immer mit einem Hollywood Film. Nur weil jeder weiß, wer James Bond ist, heißt das nicht, dass jeder MI6-Agent die ganze Zeit durch die Welt jettet und Leute umbringt, sondern die sitzen ja auch hauptsächlich am Schreibtisch. So ist es mit Pornos auch, das ist nicht der Realität entsprechend. Ein ganz großes Problem ist, dass in Pornos nicht verhütet wird und dass da Dinge gezeigt werden wie Gruppensex oder Sex mit Fremden, während der Aspekt der sexuell übertragbaren Krankheiten komplett ausgeklammert wird, weil das natürlich keiner sehen will, der sich Pornos anschaut.

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MOTHERBOARD: Pornos sind keine Einbahnstraße.

Kannst du mir mehr über die Methode erzählen, die ihr zu diesem Thema anwendet?
Die Porno-Methode wurde vor etwa zwei Jahren von Schweizer Medizinstudierenden entwickelt. Wir malen dafür Strichmännchen an die Tafel, zwei Menschen die Sex haben, und fragen die Schüler, was sie sehen. Dann kommt meistens die Antwort: Die haben Sex, oder die ficken, oder Ähnliches. Dann malen wir eine Kamera davor und fragen: Und was ist es jetzt? Dann kommt in den meisten Fällen die Antwort: Jetzt ist es ein Porno. Wir fragen daraufhin dann, ob sie sicher sind, dass es wirklich ein Porno ist, und ob man sich nicht auch einfach so beim Sex filmen kann, wenn man das möchte. Dann fragen wir, was man eigentlich alles für einen Porno braucht und malen das an die Tafel: Drehbuch, Kulisse, Beleuchtung, Maske, Ton und so weiter.

Wir versuchen den Schülern klarzumachen, was alles dahintersteckt. Dass die Männer danach ausgesucht werden, wie groß ihr Penis ist, und dass es überhaupt nicht normal ist, dass der Penis so groß ist und dass man so lange durchhält, wie es gezeigt wird. Dadurch entwickelt sich vor allem bei den Jungs ein großer Leistungsdruck. Sie denken: Mein Penis muss auch so groß sein, sonst hat das Mädchen keinen Spaß. Und die Mädchen denken, sie müssen alles mitmachen, weil es zum Sex dazugehört. Das ist, was wir kritisieren. Nicht das Pornoschauen an sich, sondern den unreflektierten Umgang damit. Pornos haben ein Schema von Sexualität, an dem sich die Jugendlichen mitunter orientieren und die Individualität und Intimität geht verloren. Das Schöne ist ja eigentlich, dass jeder anders Sex hat und jeder andere Sachen mag—uns geht es darum, dass die Schüler wissen: Das ist nicht, was ich muss oder soll oder was jeder macht, sondern das sind auch nur Ideen von Leuten und ich kann das ausprobieren, wenn ich Lust darauf habe, aber wenn ich keine Lust habe, muss ich das auch nicht tun. Uns ist es wichtig, dass sie lernen, Nein zu sagen und nur das tun, was sie auch wirklich wollen.

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Die Penisparade: Nach einer Studie von Profamilia, bei der die Penisse von 1000 Männern im erigierten Zustand ausgemessen wurden, wurden Holzmodelle des längsten, kürzesten, dicksten, dünnsten und des Durchschnittspenis angefertigt. Dies soll zeigen, dass kein Penis „normal" oder „unnormal" ist.

Hast du den Eindruck, dass sich die Jugendlichen auch im Bezug auf ihren eigenen Körper unter Druck gesetzt fühlen?
Das ist kein Problem der Pornografie, sondern eher ein Problem unser gesamten medialen Welt. Das fängt ja schon in der Werbung oder der Mode an, da wird ein Körperbild vermittelt, das komplett unrealistisch ist. Lange Beine, kein Becken, kleine Brüste – so sieht ein Mädchen vielleicht aus, wenn sie sechzehn ist und kurz nach dem Wachstumsschub. Die weibliche Figur entwickelt sich erst danach, aber die wird nicht gezeigt. Und man merkt auch bei Jungs inzwischen, dass sie eher dünn sind, was auch mit der Mode zu tun hat. Bei Pornos ist es auf jeden Fall die Penisgröße, bei Mädchen ist es eher das, was in den sonstigen Medien vermittelt wird.

Parks and Recreations-Star Rashida Jones über ihre neue Doku über die Amateurpornobranche Miamis

Was ist mit den Rollenbildern, die vermittelt werden? Glaubst du, dass Jungs Mädchen, dadurch dass sie mit Pornos aufwachsen, weniger Respekt entgegen bringen?
Ich weiß nicht, wie es vorher war. Es gibt Klassen, wo sich alle respektieren. Dann gibt es andere, wo die Jungs auf jeden Fall eine Jungfrau heiraten wollen und sagen alle Mädchen, die vor der Ehe Sex haben, sind Schlampen. Aber genauso gibt es Mädchen, die sagen, ich will erst Sex haben, wenn ich verheiratet bin – auch ganz unabhängig vom religiösen Hintergrund.

Wie läuft es mit der Aufklärung in den Familien?
Dazu können wir schlecht etwas sagen, es gibt bestimmt Familien, wo das offen thematisiert wird, aber es gibt auch Familien, wo es überhaupt nicht verbalisiert wird und wo es ein riesiges Problem ist, den ersten Freund oder die erste Freundin mit nachhause zu bringen.

Gerade bei diesen Kindern und Jugendlichen dienen Pornos dann wahrscheinlich als Ersatzaufklärung.
Ja, das kann man so sagen. Früher war die Bravo ganz heiß zur Informationsbeschaffung, heute läuft es über das Internet, aber auch ganz viel über Freundschaften oder über Geschwister. Am meisten wird unter Gleichaltrigen darüber geredet, was einerseits gut ist, aber auf der anderen Seite auch nicht optimal, weil das natürlich keine Experten sind, sondern alle einen ähnlichen Wissensstand haben.


Titelbild: Flickr | Fnogues | CC BY-SA 2.0