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Warum am Tag der unschuldigen Kinder gewichst wird

Alle Jahre wieder am 28. Dezember ziehen kleine Kinder in Teilen Österreichs von Haus zu Haus, um ihre Nachbarn zu verhauen.

Foto: CC0 Public Domain

Laut dem Evangelium nach Matthäus ordnete König Herodes kurz nach der Geburt Jesu—dem vermeintlich neuen König Israels—die Tötung sämtlicher männlicher Kleinkinder Bethlehems an. Also nur, um auch wirklich sicher zu gehen, dass er ihm nicht eines Tages den Thron streitig machen würde. So viel dazu.

In liturgischen und mittelalterlichen Überlieferungen ist die Rede von über 100.000 erschlagenen Kindern, Theologen schätzen aufgrund der damaligen Größe der Stadt die Anzahl der ermordeten Jungen eher auf ungefähr zehn. In Gedenken daran begeht man in der römisch-katholischen Kirche am 28. Dezember jährlich den „Tag der unschuldigen Kinder". Und weil Österreich eben Österreich ist, feiert man das auf ziemlich österreichische Art: Es wird gewichst.

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Das klingt auf sehr vielen Ebenen sehr falsch, ist aber in vielen Teilen Österreichs ein weit verbreiteter Brauch (was es nicht weniger falsch macht, aber halt auf andere Art). „Frisch und gsund wichsen" ist eine Kärntner Tradition, bei der Kinder frühmorgens durch ihr Dorf ziehen, die Bewohner mit Ruten verdreschen, dabei ein Sprüchlein aufsagen und anschließend ordentlich dafür kassieren.

Das Ganze soll Glück und Gesundheit bringen. Folgendes Gedicht kann dabei, rhythmisch im Takt zur Arschprügelei, von Kindern aufgesagt werden:

Frisch und gsund, frisch und gsund! Long lebm, gsund bleibm! Nix klunzn, nix klogn, bis i wieder kumm schlogn!

Je nach Gegend weichen auch die Sprüche ab, ebenso wie die allgemeine Bezeichnung des Brauchtums. So ist das Wichsen in Kärnten und Teilen der Steiermark auch als Schappen, Pisnen oder Tschappen bekannt.

Die Gedanke hinter der Gepflogenheit ist mehr oder weniger eine Umkehrlogik—in Erinnerung an die Morde von Betlehem dürfen einmal im Jahr die Kinder die Erwachsenen schlagen. Also, zur Abwechslung. Die Rache der ermordeten Söhne quasi.

Als junger Bub war es einer meiner liebsten Feiertage im Jahr. Für nichts anderes wäre ich während meiner Weihnachtsferien freiwillig um 5:00 Uhr morgens aus dem Bett gekraxelt—endlich wieder frisch und gsund wichsen! Das Witzige an solchen Brauchtümern am Land ist ja, dass man ihren Ursprung eigentlich nie wirklich hinterfragt. Man macht sie halt einfach. Mit all den toten Babys im Hinterkopf (und einem Wissen um die doppelte Bedeutung des Wortes Wichsen) hätte ich es wohl nicht ganz so unbeschwert gefeiert.

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Der Bethlehemitische Kindermord. Kerald (Meister des Codex Egberti) | Public Domain

Die Rute musste schon ein möglichst dicker, aus Zweigen gebundener Knüppel sein, mit dem man gut prügeln konnte. Immerhin war es die perfekte Gelegenheit, der lokalen Klatschtante mal so richtig zu geben. Die liebe Dorf-Oma hingegen hat man eher nur gestreichelt, ganz zart. Bezahlen mussten beide.

Als kleiner Wichser musste man—wie auch im echten Leben—schnell sein. War man bis 10:00 Uhr (wiederum geographisch variabel) nicht mit allen Häusern durch, sollte man der Legende nach in einem Ofen gebacken werden und einen qualvollen Verbrennungstod sterben (Hab ich schon erwähnt, dass Österreich eine sehr seltsame Auffassung von Pädagogik hat?). Da hat man sich natürlich zweimal überlegt, ob man wirklich Zeit zum Trödeln hatte.

Am Ende hatte man meistens so viel Cash eingenommen, dass man den restlichen Tag damit verbrachte, sein Geld zu zählen. Einmal ging sich davon sogar ein Klapphandy aus—ich habe mich reich gewichst. Leider war man irgendwann einfach zu alt. Wenn da plötzlich so ein pubertierender Lulatsch daherkommt und einen gegen Bares vermöbeln will, ist das eben nicht mehr so süß, dass man dafür wirklich Scheine springen lässt.

Erwachsene würden „wichsen" wohl anderweitig assoziieren. Mit der Unbeflecktheit eines Zehnjährigen kann man darüber allerhöchstens rätseln. Alleine deshalb ist der 28. Dezember im wahrsten Sinn der Tag der unschuldigen Kinder. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie peinlich berührt die Omas und Opas jedes Mal sein müssen, wenn wieder die Nachbarsbrut anklopft und wichsen möchte.

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Auch in einigen oberfränkischen Dörfern wird um den 28. Dezember kräftig gewichst. Anders als in Österreich wird der Brauch dort nicht weniger treffend „pfeffern" genannt, ist jedoch ausschließlich jungen Männern vorbehalten. Geschlagen werden—man kann es sich schon denken—nur die Frauen.

Während Mädchen und Frauen „gepfeffert" oder „gefitzelt"—also geschlagen—werden, fragen die Burschen „Schmeckt der Pfeffer gut?" und hören damit nicht auf, bis ihre Opfer mit einem deutlichen „Ja, es schmeckt gut, ja, es schmeckt gut" antworten. Klingt nach Spaß. Oder nach einer Abramovic-Performance, man weiß es nicht. Am Neujahrstag sind an manchen Orten dann auch die Mädels dran.

Wie auch in Österreich können die Sprüche je nach Umgebung variieren. So gibt es durchaus auch liebevollere, weniger rapey Abwandlungen wie „Ich pfeffer' dich mein Liebchen, ich weiß du bist ein Diebchen. Letztes Jahr hast du mein Herz gestohlen, heut werd ich's mir wieder holen." Anschließend werden die Gesichter der Frauen schwarz bemalt, um sie zu kennzeichnen—„you been pfeffered". Ungepfefferte Frauen haben laut Überlieferung einen „schlechten Ruf".

Screenshot via BR

Kärnten scheint übrigens eine Vorliebe für seltsame Traditionen zu haben. So gibt es in der südlicheren Gegend offenbar die Legende der Pehtra Baba—eine gruselige Gestalt, die am Vorabend des 6. Jänner Familien besucht und ein seltsames Ritual abhält.

Zunächst mal hat die Pehtra Baba ein Paar Hauswürste auf einer zweizinkigen Gabel hängen, die sie im Austausch gegen ein Gebet an die Familie aushändigt. Anschließend schmeißt sie Nüsse und Dörrobst auf den Boden, für die Kinder zum Aufsammeln. Während der ganzen Prozedur schreit sie wie eine Wahnsinnige. Ich lüge nicht, fragt YouTube.

Traditionen sind so lustig. Vor allem dann, wenn sie einem 2015 so absurd und fragwürdig erscheinen, dass man sie eigentlich nur lieben kann. Nicht mehr ganz zeitgemäße Beispiele werden glücklicherweise ohnehin nicht mehr praktiziert. Hach, Österreich. Deine Bräuche sind so herrlich deppert. Viel Spaß beim Wichsen, ihr unschuldigen Kinder!

Franz ist mittlerweile zu alt zum Wichsen: @FranzLicht