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Was es bedeutet, mit einem depressiven Elternteil aufzuwachsen

Ich bin kein Scheidungskind. Mein Vater hat die Familie nicht verlassen. Doch obwohl er jeden Abend mit uns am Esstisch saß, war er nie anwesend.

Nicht die Autorin, sondern irgendein Mädchen, das hoffentlich kein depressives Elternteil hat | Foto: anthony kelly | Flickr | CC BY 2.0

Niemand wirft seinen Eltern gerne vor, dass sie einem die Kindheit oder am besten noch das ganze restliche Leben versaut haben. Gerade in der eigenen Familie, unter den Menschen, die einem eigentlich am nächsten stehen sollten, fällt es oft schwer, Probleme anzusprechen. Weil man Angst hat, jemanden, den man liebt, zu verletzen oder weil es einfach bequemer ist zu schweigen. Dass das Schweigen aber auf die Dauer alles noch viel schlimmer macht, fällt einem dabei leider meistens erst auf, wenn es längst zu spät ist.

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Ich bin nicht ohne Vater aufgewachsen. Ich bin kein Scheidungskind, mein Vater hat die Familie nicht verlassen, als ich noch ganz klein war, und er war auch nicht ständig auf Geschäftsreise, sondern saß jeden Abend zum Essen mit dem Rest der Familie am Tisch. Nur wirklich anwesend war er selten, denn die Depression hatte ihn schon damals fest im Griff. Mein Vater war oft ausschließlich mit sich selbst und seinen eigenen Gedanken beschäftigt, überladen mit Sorgen und Zweifeln und gefangen in seiner eigenen Welt, über die er nie sprach und in die ihm niemand folgen konnte. Nicht seine Frau und erst recht nicht seine Kinder.

Der Kinder- und Jugendlichenpsychologe Daniel Führer, der an der Berliner Charité Kinder psychisch kranker Eltern behandelt, kennt dieses Phänomen der „anwesenden Abwesenheit". Es ist ein typisches Symptom bei an Depressionen erkrankten Menschen, die oft nur physisch, aber nicht psychisch anwesend sind und daher nicht mitbekommen, was um sie herum geschieht. Gerade für jüngere Kinder, die viel Aufmerksamkeit von ihren Eltern brauchen, kann dieser Zustand sehr schädlich sein. Kinder haben sehr feine Antennen und merken, wenn etwas mit ihren Eltern nicht stimmt—auch wenn sie es nicht benennen können. Diese Art der emotionalen Vernachlässigung kann dazu führen, dass schon kleine Kinder selbst antriebs- und teilnahmslos werden, oder im übertriebenen Maße versuchen, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

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Was tun, wenn ein geliebter Mensch an einer Depression erkrankt?

Dass ein Elternteil unter Depressionen oder einer anderen psychischen Krankheit leidet, bedeutet allerdings nicht, dass man als Kind oder später als Erwachsener automatisch ebenfalls eine psychische Störung entwickelt. Im Vergleich zu Kindern gesunder Eltern ist die Wahrscheinlichkeit je nach Studie lediglich um das Zwei- bis Vierfache erhöht. Obwohl es bei der Depression auch eine genetische Komponente gibt, heißt es nicht, dass die Krankheit vererbt werden muss. Es handelt sich vielmehr um eine Disposition, eine Veranlagung, die genetisch weitergegeben wird. Entscheidend dabei ist, auf welche Umweltbedingungen dieser Genotyp trifft und welchen psychosozialen Belastungen er ausgesetzt ist. Finanzielle Schwierigkeiten, Arbeitslosigkeit oder starke Konflikte zwischen den Eltern können das Risiko deutlich erhöhen, während ein stabiles Umfeld, ein Kind davor bewahren kann, selbst zu erkranken.

Als Kind eines depressiven Elternteils kämpft man gegen einen unsichtbaren Feind.

Oft passiert es, dass Kinder psychisch kranker Eltern ihre eigenen Sorgen hinten an stellen und selbst die Elternrolle übernehmen, weil die Eltern sich wiederum wie hilflose Kinder benehmen. Diese Parentifizierung kann mitunter sogar einen positiven Effekt haben, weil Kinder dadurch lernen, Verantwortung zu übernehmen und die Familie in akuten Krisensituationen stärker zusammenhält. Wenn dieser Zustand allerdings länger anhält, wird die Situation für alle zum Problem.

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Wenn sich alles nur noch um die kranke Person dreht und alle Angehörigen immer mehr darunter leiden. Jugendliche, die im Rahmen einer Studie dazu befragt wurden, wie sie die Depression ihrer Mutter oder ihres Vaters erlebt haben, berichten davon, wie schwer es für sie war, mit den eigenen Gefühlen, der eigenen Wut und der eigenen Traurigkeit umzugehen. Als Kind eines depressiven Elternteils kämpft man gegen einen unsichtbaren Feind.

Foto: Imago / Thomas Eisenhuth

Wahrscheinlich durchlebt jeder Teenager einmal die Phase, in der er seine Eltern für sein eigenes Unglück verantwortlich macht. Eltern sind Menschen und machen Fehler, und man kann ihr Verhalten kritisieren, aber was ist, wenn die Eltern für ihr eigenes Verhalten nichts können? Es ist schwer, auf jemanden wütend zu sein, der krank ist und niemandem mit Absicht schaden will, und was bleibt, ist nicht Wut, sondern eine lähmende Hilflosigkeit. Man fühlt sich hilflos, weil man der Person, die man liebt, nicht helfen und gleichzeitig niemanden für das eigene Unglück zur Rechenschaft ziehen kann.

Der Psychologe rät allen Angehörigen trotzdem, offen über ihre Gefühle gegenüber der betroffenen Person zu sprechen: „Viele Betroffene berichten nachträglich, dass sie es als besonders belastend empfunden haben, wenn sie nicht richtig über die Situation informiert wurden. Wenn sie nicht wussten, warum die Mutter oder der Vater ins Krankenhaus musste, wenn plötzlich Notärzte da sind oder die Kinder den Elternteil nach einem Suizidversuch finden, ohne vorher ausreichend informiert oder vorbereitet worden zu sein, kann das sehr traumatisierend sein.

Allgemein ist Information wichtig—auch wenn Depression für die wenigsten Eltern ein Thema sein dürfte, das sie mit ihren Kindern besprechen möchten. Wenn dieser offene Umgang mit der Krankheit allerdings funktioniert, kann die Situation auf die Kinder sogar einen positiven Einfluss nehmen. Sie lernen, dass sich Probleme gemeinsam lösen und Krisen bewältigen lassen. Kinder können vielleicht nichts mit psychologischen Fachbegriffen anfangen, aber sie können eine Menge verstehen. Wenn das Problem hingegen totgeschwiegen und tabuisiert wird, ist es wahrscheinlicher, dass die Kinder ihr Leben lang mit Folgeerscheinungen zu kämpfen haben.

Das Schweigen macht alles noch viel schlimmer.

Über die Krankheit zu sprechen, ist allerdings nicht einfach. Meinem Vater fiel es wie vielen anderen Betroffenen schwer, sich um psychotherapeutische Hilfe zu bemühen, weil Depressionen gerade unter Männern immer noch als ein Zeichen von Schwäche gelten. Oder weil es einfacher ist, jeden Tag Tabletten zu schlucken, als sich mit seinen Problemen auseinanderzusetzen. Vielleicht stimmt es, dass unsere Generation offener und toleranter mit psychischen Erkrankungen umgeht als die unserer Eltern. Und obwohl Depression gesellschaftlich immer mehr als Krankheit akzeptiert und wahrgenommen wird, nehmen viele von ihnen noch immer keine professionelle Hilfe in Anspruch. Auch wenn das Thema in den Medien immer häufiger diskutiert wird, ist im Einzelfall die Angst davor, als schwach oder verrückt abgestempelt zu werden, immer noch sehr groß.

Auch wenn es im Bezug auf Depressionen inzwischen eine verstärkte Sensibilität in der Gesellschaft gibt, ist es noch ein weiter Weg, bis psychische Erkrankungen tatsächlich soweit akzeptiert werden, dass niemand mehr aus Scham oder der Angst davor, stigmatisiert zu werden, schweigen muss. Denn das Schweigen macht alles noch viel schlimmer.