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Wir haben einen Experten gefragt, ob Deutschland die Troika-Sparmaßnahmen überstehen würde

Auch das dritte Rettungsprogramm verlangt den Griechen rigorose Sparmaßnahmen ab. Aber würden wir sie selbst aushalten?
Griechen stehen Ende Juni an Geldautomaten an. Foto: Panagiotis Maidis

Am frühen Montagmorgen einigten sich Griechenland und die restlichen Euroländer auf das dritte Rettungspaket für Griechenland in fünf Jahren. Die ersten beiden „Bailouts" waren vergleichsweise ruhig ausgehandelt und durchgewunken worden. Die Verhandlungen um dieses dritte Paket führten die EU diesmal aber an den Rand einer politischen Explosion—und auf dem Weg dahin lernten die Europäer einiges darüber, wie das neue deutsche Selbstbewusstsein aussieht (Spoiler: Es erinnert ziemlich an das alte).

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Die griechische Regierung um Premierminister Tsipras versuchte alles, um die Geberländer davon abzuhalten, ihnen eine neue Runde Kredite und Sparmaßnahmen aufzuzwingen, die sie für katastrophal für die Erholung der Wirtschaft halten. Aber am Ende nütze sogar ein Referendum nichts: Der deutsche Finanzminister Schäuble drohte den Griechen mit Rauswurf, und Tsipras hatte kaum eine Wahl, als sein Land auf eine dritte Runde Schulden-Rollercoaster zu verpflichten. Das Programm sieht unter anderem weitere Rentenkürzungen, eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, Erhöhungen der Fahrpreise in Zügen um 25 Prozent und Kürzungen der Ausgaben für Medikamente vor.

Leere Geste oder Verzweiflungsschrei? Im Referendum entschieden die Griechen sich gegen die Sparpolitik. Foto: Alexia Tsankari

Das bedeutet nicht nur, dass das Leben für einkommensschwache Griechen zukünftig nochmal härter wird (und mittlerweile hat Griechenland eine Jugendarbeitslosigkeit von 50 Prozent), sondern auch, dass die griechische Wirtschaft kaum eine Chance hat, sich irgendwie aus dem Loch zu strampeln, in das es erst die Krise und dann die Merkel'schen Sparmaßnahmen gedrückt haben. Denn wenn keiner mehr Geld hat, kann auch niemand Sachen kaufen.

Kann uns doch egal sein; „der Grieche hat genug genervt", wie ein hochranriger CDUler das ausdrückt? Was geht uns das an—schließlich haben die ihre Verträge zu erfüllen und nicht rumzujammern?

Wir haben uns gefragt, wie das eigentlich aussehen würde, wenn Deutschland in dieser Position wäre. Was würde hier passieren, wenn wir genau das durchmachen würden, was unsere Politiker von den Griechen verlangen? Um die Frage zu beantworten, habe ich Dr. Arne Heise von der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Uni Hamburg angerufen (ich wusste, dass er Fantasie hat, weil er uns schon einmal bei sowas geholfen hat).

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VICE: Herr Dr. Heise, erstmal vorweg: Wie hart sind die neuen Auflagen für Griechenland?
Arne Heise: Zu hart. In der Diskussion in Deutschland bekommt man ja immer den Eindruck, Griechenland hätte bisher noch nichts getan. Dabei sind die Griechen überhaupt nicht reform- oder sparunwillig. In den letzten fünf Jahren haben sie die Staatsausgaben—und das waren vor allem Ausgaben für Sozialleistungen wie Rente, Gesundheit, etc.—dramatisch gekürzt. Und zwar in einer Größenordnung von 4 bis 5 Prozent pro Jahr. Insgesamt sind die Staatsausgaben da zwischen 15 und 20 Prozent von dem Niveau vor der Weltwirtschaftskrise zurückgegangen.

Das ist eine Größenordnung, die Deutschland nicht mal Anfang der 30er Jahre in der damaligen Weltwirtschaftskrise erlebt hat. Und wir wissen, was dann aus der Weimarer Republik geworden ist.

Damals in Deutschland: Massenandrang vor einer Bank 1931. Foto: Bundesarchiv | Wikimedia | CC BY-SA 3.0 de

Griechenland hat da Größenordnungen erreicht, die in demokratisch verfassten Gesellschaften schwer zu legitimieren sind. Und das haben die jetzt schon hinter sich.

Was hatte das für einen Effekt auf die griechische Wirtschaft?
Wenn man über 5 Jahre 20 Prozent Rückgang am Bruttoinlandsprodukt hat, sind das Nachfrage-Rückgänge, die keine Volkswirtschaft vertragen kann. Die Folge davon war, dass Griechenland sich seit mittlerweile sechs Jahren in der Rezession befindet—ausgelöst durch die Weltwirtschaftskrise, verstärkt durch diese Maßnahmen.

Das ist ja auch klar, weil die Basis der Besteuerung immer mehr weggebrochen ist. Man hat versucht, die Ausgaben pro Fall zu reduzieren: Ein Kranker, ein Alter oder ein Arbeitsloser kriegt jetzt weniger, als es vorher der Fall war. Aber: Es gibt jetzt eben viel mehr Arbeitslose. Deshalb konnten die Ausgaben nicht reduziert werden, aber die Wertschöpfung ist dramatisch zusammengebrochen.

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Ist das neue Paket jetzt noch härter?
Nicht unbedingt, aber es verlängert den Effekt. Zusammengerechnet werden die neuen Maßnahmen wieder eine Belastung zwischen 3 und 4 Prozent des BIP ergeben—etwas weniger als die letzten Jahre, aber das ist ein weiterer Einschnitt in die Nachfrage. Ich wüsste nicht, durch was das ausgeglichen werden sollte.

Enttäuschte Griechen verbrennen nach der Einigung die Syriza-Flagge. Foto: Panagiotis Maidis

OK, dann zur Hauptfrage: Wie würde die deutsche Wirtschaft so ein Sparprogramm verkraften?
Also, die Größenordnung ist etwa das, was Deutschland an Belastungen durch die deutsche Einheit erlebt hat. Nur: Damals sind diese Belastungen nicht durch Kürzungen in anderen Bereichen aufgefangen worden, die hat man dann durch Kredite finanziert. Die Ausgaben wurden dann über mehrere Jahre hinweg langsam angepasst.

So viel Zeit haben die Griechen aber nicht bekommen, oder?
Genau, diese langsame Anpassung ist genau das, was man den Griechen jetzt nimmt. Das wird jetzt sofort in einem Schritt gemacht, das soll in einem Jahr erfolgen. Wenn man sich vorstellt, dass man 1991 die ganze Wiedervereinigung hätte finanzieren müssen, ohne dass die Staatsverschuldung hochgehen darf, hätte das eine ziemlich starke Kontraktion auch der westdeutschen Volkswirtschaft bedeutet.

Wie hätte die Bevölkerung das zu spüren bekommen?
Zuerst hätte man wohl die Investitionen runtergefahren, man hätte keine Straßen in Ostdeutschland mehr reparieren können. Aber vor allem wären Jobs verlorengegangen. Damals sind ja in Ostdeutschland Jobs verloren gegangen, aber in Westdeutschland welche entstanden. In so einem Fall wären aber auch in Westdeutschland Jobs verlorengegangen. Gleichzeitig wären vermutlich auch die Steuern noch mehr angestiegen, als sie durch den Soli tatsächlich gestiegen sind.

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Wie würde das zum Beispiel Rentner treffen?
Sozialausgaben haben ja gesetzliche Grundlagen, die müsste man dann erst verändern. Daran scheitert es ja auch teilweise in Griechenland, dass Gerichte die neuen Sätze als zu niedrig ablehnen. Einfacher ist es erstmal, einmalige Investitionen abzustellen.

Aber langfristige dauerhafte Einsparungen wären Sozialausgaben, Steuererhöhungen oder ein Mix aus beidem. In Griechenland steht jetzt auch eine Mehrwertsteuererhöhung auf dem Plan. Das trifft jeden, sofort, weil dann eben die Preise steigen.

Könnte so eine Situation dann dazu führen, dass Deutschland in einer Art Abwärtsspirale, in eine Rezession rutscht?
Ja klar, das würde das ganz sicherlich bedeuten. Wenn das dann weitere Verängstigung auslöst, würde das selbstverstärkend wirken. Aber das ist keine Abwärtsspirale, die nicht endet. In der Regel wird das irgendwann aufgefangen, weil die Leute irgendwann mehr ausgeben müssen, um zu überleben. Aber es würde eine tiefere konjunkturelle Delle auslösen.

Das ist auch das, was wir in Griechenland erlebt haben, fünf Jahre Rezession. Die waren gerade dabei, ein bisschen rauszukommen, aber das ist durch diese Politik abgewürgt worden. Es zeichnet sich jetzt schon ab, dass 2015 und 2016 deshalb weitere Jahre mit Minuswachstum sein werden. Fünf, sechs Jahre negatives Wachstum—das hat es in keinem Land je so gegeben!

Viele Ihrer Kollegen in Deutschland sprechen sich ja für diese Austeritätspolitik aus. Glauben Sie, die würden das anders sehen, wenn das in Deutschland angewendet würde?
Das ist eine gute Frage. Wenn sie konsistent argumentieren würden, dürften sie das eigentlich nicht anders sehen, sondern müssten das auch für Deutschland fordern.

Aber Sie würden dagegen protestieren?
Ja, massiv! Deutschland würde eben nicht in die Lage versetzt, seine Kredite besser zurückzahlen zu können, sondern die Verschuldung steigt im Zweifelsfall weiter an.

Es wurde ja immer gesagt: Wir müssen Griechenland diese Programme aufzwingen, damit sie ihre Schulden zurückzahlen können. Ich fürchte, dass sie es Griechenland aber immer schwerer gemacht haben.