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Dinge, die Schweizer über das Transatlantische Freihandelsabkommen wissen müssen

Du solltest darauf hoffen dass Chlorhühnchen, unzureichend getestete Medikamente oder Privatkrankenhäuser lediglich Hirngespinste irgendwelcher Verschwörungstheoretiker sind.

Seit Juli 2013 verhandeln USA und EU über ein Freihandels- und Investitionsabkommen. Die beiden grössten Handelspartner der Schweiz haben es sich zum Ziel gesetzt, die Verhandlungen bis 2015 zu beenden. Die Öffentlichkeit hat bis jetzt weitgehend keinen Einblick in die Zusammenkünfte zwischen US-Handelsministerium und EU-Kommission erhalten und ist somit nicht darauf vorbereitet, welche Auswirkungen das Abkommen mit sich bringt.

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Nicht umsonst wurden bereits zahlreiche Spekulationen laut: soziale und ökologische Standards würden abgebaut, das Abkommen sei demokratiefeindlich, der Rechtsstaat würde ausgehöhlt und Arbeitnehmer hätten durch das Abkommen keine Vorteile. Es macht sich bereits reger Widerstand bemerkbar: Über drei Millionen Europäer haben bis jetzt eine Petition gegen das Abkommen unterschrieben.

Die Petition wurde vor einem Jahr ins Leben gerufen und war ursprünglich in Form einer Europäischen Bürgerinitiative eingereicht worden. Mit dieser können Bürger der Europäischen Union bewirken, dass sich die EU-Kommission mit einem bestimmten Thema befasst. Innerhalb eines Jahres müssen dafür eine Million Unterstützer aus einem Viertel aller EU-Staaten zusammenkommen. Die Kommission unterliegt aber keiner Handlungspflicht, sie muss lediglich innerhalb von drei Monaten zur Initiative Stellung beziehen.

Foto von Mehr Demokratie | Flickr |CC BY-SA 2.0

Obwohl die Initiative genügend Stimmen beisammen hatte, lehnte sie die EU-Kommission im September 2014 mit der Begründung ab, dass EU-Bürger zwar befugt seien, Gesetze vorzuschlagen, jedoch nicht, die Kommission vom Unterschreiben eines Gesetzes abzuhalten.

Bei Annahme von TTIP würde die weltweit grösste Freihandelszone entstehen, da der Handel zwischen USA und EU global einen Drittel des Welthandels ausmacht. Profitieren würden davon laut Nationalrat Balthasar Glättli vor allem multinationale Konzerne, da Handelshemmnisse abgeschafft und der Handel vereinfacht würde. Gemäss den Befürwortern würde die Wirtschaft in der EU und den USA insgesamt profitieren, da TTIP das Wirtschaftswachstum ankurble.

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Die grüne Fraktion sieht das anders: „Auf der Strecke blieben die europäischen Verbraucher und Arbeitnehmer sowie die Umwelt, da der Verbraucherschutz in der EU und der Schweiz in vielen Bereichen weiter geht, als derjenige in den USA. Dasselbe gilt für den Umweltschutz und das Arbeitsrecht. Durch das Abkommen gerieten gewisse Standards unter Druck, da sich ohne Schutzmassnahmen der tiefere Preis als der stärkste Konkurrenzfaktor erweisen würde.

Arbeitnehmerrechte könnten also durch eine Angleichung an niedrigere US-Standards ausgehöhlt werden, ebenso wie Lebensmittelstandards und der Verbraucherschutz bei Kosmetika und Arzneimitteln. Dadurch könnte sich billige Massenware wie zum Beispiel Chlorhühnchen und Hormonfleisch ungehindert auf dem europäischen Markt ausbreiten. In den USA angewandte Risikotechnologien wie Fracking oder Gentechnik könnten ausserdem in der EU zugelassen werden. Schiedsgerichte wären imstande, den Staat auf hohe Schadensersatzzahlungen zu verklagen, nur weil ein Konzern seine Gewinne zum Beispiel durch „einschränkende" Umweltgesetze gefährdet sieht.

Foto von Gump Stump |Wikipedia |Gemeinfrei

Im Juni 2014 hat die Grüne Fraktion unter Balthasar Glättli eine Interpellation an den Bundesrat eingereicht, in welcher er diesen um Einsicht in das Vorhaben der Schweiz bittet, am Transatlantischen Freihandelsabkommen teilzuhaben. Der Bundesrat entgegnete in seiner Antwort, nicht in die laufenden Verhandlungen integriert zu sein, diese aber aufmerksam zu beobachten. Eine Benachteiligung der Schweizer Wirtschaft sei möglich und es „sollen konkrete Optionen geprüft werden, um die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft und die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Schweiz zu bewahren. Zu diesen Optionen könnte auch die Möglichkeit zur Aushandlung eines Freihandelsabkommens mit den USA oder ein Andocken an die TTIP gehören."

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Das World Trade Institut der Universität Bern hat unter dem Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft mögliche Konsequenzen auf die Schweiz untersucht und kommt zu unterschiedlichen Ergebnissen: diese reichen von einer Senkung des Schweizer BIP um 0.5 Prozent (falls die EFTA-Staaten mit den USA einen Deal aushandeln und sich das Abkommen auf die Reduktion von Tarifen zwischen EU und USA konzentriert) und einem Anstieg des BIP um 2.9 Prozent (falls die EFTA-Staaten einen Deal mit den USA aushandeln).

„Wenn man in diesen Märkten mit von der Partie sein will, dann wird man die vorgegebenen Normen mehr oder weniger annehmen müssen", meint der Schweizer Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann zu den Einheitsnormen, die der Schweiz bei einem Abkommen mit den USA drohen könnten.

„Uns würde niemand fragen, ob uns das passt und wir müssten uns auf diese neuen Normen einstellen." Und Freihandelsexperte sowie Leiter der Studie des World Trade Instituts, Thomas Cottier meint auf Radio SRF, dass traditionelle Agrarstaaten wie Frankreich und Spanien ihren Widerstand gegen ein transatlantisches Abkommen inzwischen aufgegeben hätten. „Dort hat ein Wandel stattgefunden, der in einigen Jahren wohl auch die Schweiz erreichen wird."

Am 28. September wurde jedoch bekannt, dass sich Frankreich aus den Verhandlung zurückziehen wird, wenn die USA nicht bereit ist, Kompromisse einzugehen. Damit würde TTIP scheitern.

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Der Französische Handelsminister Matthias Fekl kritisiert unter anderem den Verhandlungsstil der Amerikaner: "Es ist nicht normal, dass europäische Abgeordnete die Verhandlungstexte nur in gesicherten Räumen in der US-Botschaft lesen dürfen, ihre amerikanischen Kollegen aber zum Teil an den Verhandlungen teilnehmen." Fekl fordert ebenso, dass private Schiedsgerichte durch öffentliche Gerichte ersetzt werden und die Amerikaner sich in puncto Agrarpolitik, Auftragsvergabe und Transparenz bewegen.

Foto von O'Dea | Wikipedia | Gemeinfrei

Die Geheimhaltung ist tatsächlich intensiv. Nationale Parlamentsmitglieder bekommen die Dokumente direkt übermittelt, Europa-Abgeordnete aber dürfen diese lediglich in einem Leseraum durchgehen und nichts davon veröffentlichen resp. öffentlich zu spezifischen Aspekten Stellung nehmen.

In den Verhandlungsprozess sind sie nicht eingebunden. Am Verhandlungstisch sitzen hingegen rund 600 Lobbyisten welche das Abkommen mitbeeinflussen. Während Europa-Abgeordnete die Dokumente also lediglich in einem Leseraum anschauen dürfen, nehmen US-Abgeordnete teilweise aktiv an den Verhandlungen teil. „Das ist extrem undemokratisch und sicherlich auch korrupt", meint Nationalrat Balthasar Glättli. „Die EU-Kommission verhandelt stellvertretend für Europa, obwohl die Kommissionsvertreter keine öffentlich gewählten Personen sind."

Laut Didier Chambovey, Leiter des Bereichs Welthandel und Delegierter des Schweizer Bundesrates für Handelsverträge, hat die Schweiz bereits Gespräche mit den USA aufgenommen. Es geht um die Frage, ob auch Drittstaaten dem Abkommen beitreten können, bisher bekam er jedoch keine Antwort. Der Reaktion des Bundesrates auf die Interpellation des Nationalrats Balthasar Glättli ist zu entnehmen, dass der Bundesrat es als verfrüht erachtet „Aussagen über die möglichen Konsequenzen eines erfolgreichen Verhandlungsabschlusses auf die in der Schweiz geltenden Umwelt-, Verbraucher- und Sozialstandards zu machen."

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Das US-Gesundheitssystem könnte laut Kritikern EU-Standards beeinflussen:


Auch der Schweizer Wirtschaftsminister Johann Schneider-Amann bestätigte gegenüber Radio SRF, dass sich die Schweiz an TTIP beteiligen könnte. „Was ganz klar ist, ist, dass wir uns keine Diskriminierung leisten können."

Die beiden Verhandlungsparteien hätten die Schweiz bisher jedoch nicht an den Verhandlungen teilhaben lassen, zu einem ersten Treffen zwischen den USA und der Schweiz sei es aber bereits im Dezember 2013 gekommen.

Seit 2010 gilt für die Schweiz das sogenannte Cassis-de-Dijon-Prinzip, welches in der EU zugelassene Produkte automatisch auf dem Schweizer Markt zulässt. Nach dem Eintritt eines Abkommens zwischen der EU und der USA könnten sich die Standards bezüglich Zulassung von Produkten in der EU ändern—und somit auch in der Schweiz. Unabhängig davon, ob sich der Bund an TTIP beteiligen wird oder nicht.

Der Widerstand mancher Parteien und der europäischen Bevölkerung sowie die zunehmend kritische Haltung Frankreichs gegenüber TTIP könnten das Abkommen zum Stillstand bringen. Wenn dem nicht so ist, kannst du nur noch hoffen, dass Chlorhühnchen, unzureichend getestete Medikamente oder Privatkrankenhäuser lediglich Hirngespinste irgendwelcher Verschwörungstheoretiker waren.

Nora auf Twitter: @nora_nova

Vice Switzerland auf Twitter: @ViceSwitzerland


Titelbild von Julle |Wikipedia| CC BY-SA 4.0