
Die Jahre vergingen. Mit der Schüchternheit lief es schon besser. Ich war offener, hatte Freunde und konnte meinen Mund aufmachen. Doch schleppte ich noch viele Komplexe mit mir rum. In der siebten Klasse überkam mich von einem Tag auf den anderen die Angst, mich vor allen anderen zu übergeben. Ich erzählte niemandem davon und quälte mich durch die Stunden. Ich aß einfach nicht mehr. Damit mein Magen während der leisen Schulstunden nicht knurrte und mich so blamierte, lag auf meinem Schultisch ein Stück Brot, eingepackt in ein Küchentuch. Vorsorglich nahm ich während der Unterrichtsstunden kleine Bissen. Während andere rote Herzchen in ihre Hefte malten, schrieb ich unzählige Male „Hilfe!“. Jahre später erfuhr ich, dass diese Art von Angst Emetophobie bedeutet, die Angst vor dem Erbrechen.Diese Angst verschwand mit der Zeit, aber es kam eine neue. Eines Tages entdeckte ich meine Angst vor dem Erröten. Es war im Lateinunterricht und ich liebte Latein. Ich saß ganz vorne links. Mich sahen also nur die Lehrerin und meine Tischnachbarin. Ich wurde etwas gefragt und wußte die Antwort nicht. Kam zwar öfter vor, diesmal war aber etwas anders. Ich wurde knallrot. Ich fühlte die Hitze in meinem Gesicht, das grelle Licht im Klassenzimmer, das direkt auf mein Gesicht gerichtet zu sein schien.Die Hitze kroch an meinen Wangen hoch, und ich fühlte sie auf meiner Stirn. Meine Lehrerin blickte mich herablassend an, während sie mit ihren Fingern schnalzend auf meine Antwort wartete. Sie ließ nicht von mir ab. Meine Tischnachbarin starrte mich von der Seite an. Es herrschte Ruhe im Klassenraum. Wieso war es so totenstill? War die Zeit stehengeblieben? Irgendwann nach endlosen, grausamen Momenten wandte sich die Lehrerin ab und fragte jemand anderen. Die Angst namens Erythrophobie, die Panik vor dem Erröten.
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