Wladimir Putin
Wladimir Putin | Bild: imago | ITAR-TASS

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"Prism auf Steroiden"

Wir haben uns mit dem russischen Geheimdienstexperten und Regimekritiker Andrei Soldatov über das Ausmaß des russischen Überwachungsstaates unterhalten – und darüber wie Putin den Cyberspace unter Kontrolle hält.

Als er sich 2010 zum dritten Mal zum russischen Präsidenten wählen ließ, galt Wladimir Putin nicht wenigen seiner Landsleute noch als Feindbild. Heute kann er sich auch der Zustimmung vieler damaliger Anti-Putin-Demonstranten sicher sein. Der Grund hierfür liegt schlicht in seinem machiavellischen Krisenmanagement der Ukraine-Krise—Putins Agieren auf der politischen Weltbühne macht ihn in den Augen vieler Russen zum Beschützer von Mütterchen Russland.

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Die gegenwärtige nationale Geschlossenheit und innenpolitische Ruhe kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Russland im europäischen Vergleich eines der repressivsten Länder in Sachen freie Meinungsäußerung ist. Einen entscheidenden Teil zu diesem schlechten Abschneiden trägt auch die aggressive Web-Politik Russlands bei, die ebenso rigoros wie geschickt gegen regierungskritische und oppositionelle Stimmen im Internet vorgeht.

Um mehr über die russischen Überwachungstaktiken und Netzpolitik zu erfahren, habe ich mich mit Andrei Soldatov unterhalten. Er lebt in Moskau und betreibt von dort aus die Webseite agentura.ru, die seit dem Jahr 2000 immer wieder über Programme von Geheimdienst und Behörden und über Korruptionsfälle berichtet hat. Sein Vater verfügt als ehemaliger Vize-Kommunikationsminister über gute Verbindungen zum russischen Staat und ist außerdem ein prominenter Wissenschaftler und Web-Pionier, der Anfang der 1990er die Verbreitung des Internets in Russland forciert hat.

Die Geheimdienste brauchen zwar eine gerichtliche Vollmacht. Aber sie müssen sie niemandem vorzeigen.

Das könnte durchaus einer der Gründe sein, warum Andrei Soldatov zwar schon einige Male vom FSB zu seinen Recherchen befragt wurde, aber insgesamt als investigativer Journalist bisher recht unbescholten über die Aktivitäten des Sicherheitsstaates berichten konnte. In jedem Fall ist er ein äußerst engagierter Verfechter für ein transparenteres Russland vor Ort und hat beispielsweise pünktlich zur Olympiade ein Programm enthüllt, dass der Geheimdienstexperte Rob Deibert als „Prism auf (anabolen) Steroiden" bezeichnet hat. Ich habe die Chance genutzt, um mit diesem renommierten Experten, der die Lage in Russland so gut wie kaum jemand anders kennt, über den aktuellen Stand der Überwachung in Russland zu sprechen.

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Motherboard: Wie schlägt sich die Ukraine-Krise in der russischen Medienlandschaft nieder? Ich habe gehört, dass es eine Seite gibt, auf der man unpatriotisches Gedankengut anzeigen kann.

Andrei Soldatov: Ja, diese Seite gibt es tatsächlich. Dort hat man die Warnung Wladimir Putins vor Vaterlandsverrätern sehr wörtlich genommen und stellt oppositionelle Politiker, Liberale, Intellektuelle und Andersdenkende jetzt gemeinschaftlich an den Pranger.

Vor allem das russische Fernsehen reproduziert das, was hochrangigen Politikern im Kreml und einer Schar von regierungstreuen Oligarchen nützt. Was das Internet betrifft, so kann man dort vor allem zwei Dinge beobachten: Zum einen ist es der Ort, an dem viele Menschen ihre Meinungskämpfe, z.B. zum Thema Ukraine, austragen. Dieses Thema wird in der Bevölkerung heiß diskutiert. Dabei findet der meiste Austausch in den sozialen Netzwerken statt— Facebook und LifeJournal sind hier wohl die wichtigsten Medien. Zum anderen findet hier die größte staatliche Zensur statt.

Wie hat sich die Zensur und Überwachung des Internets nach der Machtübernahme von Wladimir Putin entwickelt?

Prinzipiell kann man sagen, dass die Internetzensur und die Internetüberwachung nach Putins Machtantritt massiv ausgeweitet wurde. Allerdings trägt hier nicht nur Putin die Verantwortung. Während der Amtszeit von Dimitri Medwedew wurde 2009 ein staatliches Modernisierungsprogramm beschlossen. Dieses Programm beinhaltete zwei Programmpunkte, die insbesondere vom FSB forciert wurden. Es handelte sich dabei um die Entwicklung von Verfahren zur Stimmen-und Gesichtserkennung. Das zeigt, dass der russische Staat schon vor langer Zeit begonnen hat, seine Überwachungssysteme auszubauen.

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Sotschi war vor allem deswegen interessant, weil sich dort die ganze Bandbreite der Überwachungsmethoden zeigte.

Vor Kurzem hieß es aus dem Kreml: das Internet sei eine Erfindung des CIA. Die Argumentation dieser Leute läuft darauf hinaus, dass das Internet eine geheime Waffe des Auslands, speziell der USA, sei. Da Russland für die USA militärisch nicht angreifbar ist, wird das Internet zur neuen Geheimwaffe der Amerikaner stilisiert. Dabei verweist man häufig auf das Beispiel der Jasmin-Revolutionen in den islamischen Staaten Nordafrikas und in Syrien. Im Kreml glaubt man, dass die dortigen Gesellschaften durch die Mobilisierung von Massen über das Internet destabilisiert und ins Chaos gestürzt wurden.

Für Russland sind solche Ängste sehr real, denn 1917 erlebte Russland mit der Oktoberrevolution einen kompletten Umsturz der Verhältnisse, der zu einer 70 Jahre währenden Diktatur führte. Ähnliches ereignete sich 1991 als die Sowjetunion auseinander fiel. Daraufhin versank Russland in den 1990er Jahren im Chaos. Heute benutzen viele russische Politiker diese Bedrohungsszenarien, um Ängste in der Bevölkerung zu schüren.

Sie haben im Vorfeld der olympischen Spiele über eine beeindruckende Fülle von Überwachungsprogrammen geschrieben (SORM-1, SORM-2, SORM-3). Wie sieht es jetzt damit aus, wurden diese verschärften Maßnahmen abgebaut oder institutionalisiert?

Das Beispiel Sotschi ist vor allem deswegen so interessant, weil sich dort die ganze Bandbreite der Überwachungsmethoden des russischen Staates zeigte. Nicht nur, dass mit SORM-1, SORM-2 und SORM-3 alle Telefongespräche und die gesamte Internetkommunikation abgefangen, gespeichert und abgehört wurde. Es wurden auch Gesichtserkennung und Spracherkennung sowie Überwachungsdrohnen eingesetzt. Damit wurden die Spiele unter eine vollständige staatliche Kontrolle gestellt. Es handelte sich um ein totales Überwachungssystem. Insofern diente Sotschi nicht nur als grandiose Bühne für Putins Inszenierung seiner politischer Macht, sondern auch als Testlabor für ein totales Überwachungssystems.

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Was die Institutionalisierung angeht, so ist diese bereits im vollen Gange. Denn die Überwachungsprogramme SORM-1, 2 und 3 werden bereits jetzt landesweit eingesetzt. Außerdem war die Regierung sehr erfolgreich dabei, die Internetprovider dazu zu zwingen, die DPI-Technologie (Deep Packet Inspection) in ihre Systeme einzubauen. Dies kommt der Installation von Black-Boxen gleich.

Die staatlichen Organe können so in aller Ruhe das gesamte Internet nach Suchanfragen durchstöbern und so verdächtigen Nutzeraktivitäten nachgehen. Die Geheimdienste brauchen dafür zwar eine gerichtliche Vollmacht, diese müssen sie jedoch niemandem vorzeigen. Den Internetprovidern sagt man lediglich, dass ein gerichtlicher Beschluss vorliegt, einsehen dürfen sie diesen aber nicht, da er der Geheimhaltung unterliegt.

Wie kann man sich die Internetzensur in Russland vorstellen?

Du solltest dir die Internetzensur in Russland nicht wie einen vorgeschobenen Riegel vorstellen. Ja, es kommt vor, dass Seiten von einem Tag auf den anderen nicht mehr verfügbar sind, doch das ist nicht die bevorzugte Strategie des Kremls. Vielmehr basiert das Vorgehen auf Erpressung, Einschüchterung und Drohungen.

Es ist in Russland nicht ungewöhnlich, dass ranghohe Beamte im Fernsehen Gesetze androhen, mit denen die großen Content-Provider und Internetplattformen wie Google, YouTube, Facebook oder Twitter verboten werden könnten. Erst kürzlich wurdeYouTube auf Anordnung der staatlichen Behörden in einer Region Russlands komplett lahmgelegt. Für die Global-Player würde ein Verbot oder aber eine langandauernde rechtliche Auseinandersetzung nur unnötige Schwierigkeiten bedeuten, was wiederum schlecht für ihre Geschäfte wäre. Deswegen sind die großen Internetunternehmen schnell zu Konzessionen bereit.

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Die Selbstzensur ist gefährlicher als die staatliche Zensur.

Aber nicht nur die Großen sind betroffen, auch wir Journalisten stehen unter einem immensen Druck und fragen uns oft, was wir überhaupt noch problemlos veröffentlichen können und was nicht. Denn der FSB kann gegen sogenannte Staatszersetzer und Kollaborateure mit ausländischen Agenten sehr wirkungsvoll und schnell vorgehen. Hier liegt auch das Kernproblem: Es ist nicht nur die staatliche Zensur, die übel ist, viel schlimmer und gefährlicher ist die Selbstzensur.

Wie will der Kreml das Internet unter seine Kontrolle bringen?

Die Schlüsselidee ist die Verortung von Servern großer Content-Provider und Internetdienstanbieter auf russischem Boden. Öffentlich behauptet man natürlich, es gehe darum die Internetaktivitäten russischer Bürger vor der Überwachung durch ausländische Geheimdienste—den Five Eyes—zu schützen. Dabei bleibt jedoch unerwähnt, dass die eigenen Überwachungsorgane gewissermaßen ein Exklusivrecht bekommen, die eigene Bevölkerung zu bespitzeln.

Davon abgesehn gibt es in Russland seit November 2012 ein Gesetz, durch das sogenannte gesellschaftsgefährdende Seiten im Internet gesperrt werden können. Ein anderes Gesetz, das Anfang dieses Jahres in Kraft getreten ist, erlaubt es Internetseiten zu sperren, die zu ungesetzlichen Demonstrationen aufrufen. Die Opfer dieses neuen Gesetzes sind bekannt: Ej.ru, Grani.ru, Kasparov.ru.

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Wie würden sie die Rolle der Geheimdienste (FSB) in diesem Zusammenhang beschreiben?

Der FSB sieht das Internet als Bedrohung, die vor allem dem Ausland nützt. Deswegen tut man dort alles, um das Internet so weit wie möglich zu kontrollieren. Aber der FSB dient auch als Vorbild für andere öffentliche Behörden. So haben das Innenministerium, die Drogenaufsichtsbehörde, der Strafvollzug, die Sittenpolizei und andere staatliche Behörden alles unternommen, um ihrerseits Überwachungsprogramme in ihren Ressorts zu integrieren.

Die russische Spracherkennungssoftware ist international sehr gefragt.

Ein anderer interessanter Punkt ist, dass die Erfindungen der russischen Überwachungsindustrie mittlerweile auch außerhalb Russlands sehr gefragt sind. Zum einen natürlich in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion (Weißrussland, Ukraine, Kasachstan etc.). Dort sind die SORM-Programme nach wie vor Standard. Zum anderen haben sich Staaten Zentral- und Südamerikas, wie Ecuador und Mexiko, als äußerst gute Abnehmer erwiesen. Dort ist vor allem die Spracherkennungssoftware russischer Bauart sehr gefragt—tatsächlich ist Russland auf diesem Feld marktführend.

Mittlerweile gibt es in Mexiko eine riesige Datenbank mit Stimmenabgleichsmustern, so dass flächendeckend jedes Telefongespräch abgefangen und mit personalisierten Daten verglichen werden kann. Ein weiterer wichtiger Punkt ist hierbei, dass eben nicht nur die Technologie geliefert wird, sondern ganze Verfahren. Das betrifft Fragen bezüglich der Verwertung der gesammelten Daten z.B. als Beweismittel vor Gericht. Auf diese Weise kann der gesamte Sicherheitsapparat solcher Drittstaaten ganz unmerklich im Sinne eines Überwachungsstaats transformiert werden.

Für die Zukunft: Was glauben sie, sind die größten Hürden für eine freie Entwicklung des Internets in Russland und wie sehen sie die Rolle von Journalisten in diesem Zusammenhang?

Ich arbeite schon seit vielen Jahren als investigativer Journalist zum Thema Internet. Zu Beginn meiner Tätigkeit war ich idealistisch. Doch mittlerweile bin ich skeptisch geworden. Das liegt zum einen daran, dass ich sehe, wie hartnäckig die Beamten des Kremls daran arbeiten, das Internet einzuschränken.

Zum anderen liegt mein Skeptizismus in der Lethargie und Gleichgültigkeit großer Bevölkerungsschichten der russischen Gesellschaft begründet. Damit meine ich nicht nur die alte Generation der über 65jährigen, sondern auch die jungen Menschen, die sich nicht ausreichend für die Freiheit des Internets einsetzen.

Sie hören sich pessimistisch an.

Ich würde mich nicht als Pessimisten beschreiben, denn immerhin arbeite ich jeden Tag daran, das Internet als freies, globales Medium in Russland am Leben zu erhalten. Ich glaube, solange sich Menschen über Grenzen hinweg durch das Internet miteinander verbinden können, besteht immer noch Hoffnung.