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Diese VR-Erfahrung macht dich zum Opfer der Terroranschläge von 09/11

Virtual Reality soll dem Betrachter Erlebnisse ermöglichen, die er im echten Leben nicht machen würde. Doch wer braucht eine immersive Erfahrung der Terroranschläge des 11. Septembers?​
08:46. Bild: Screenshot YouTube

Manche Dinge im Leben werden wir nie verstehen. Was es bedeutet, mit einer Schizophrenie leben zu müssen zum Beispiel. Wie sich das Opfer eines sexuellen Übergriffs wirklich fühlt. Oder was es heißt, sich Tag für Tag in die Schlange der städtischen Essensausgabe stellen zu müssen.

Die menschliche Fähigkeit zur Empathie mit Betroffenen stößt bei Dingen, die man selbst nicht erlebt hat, schnell an ihre Grenzen. Da sie aber für eine tolerante Gesellschaft unerlässlich ist, beschäftigen sich zunehmend auch Virtual-Reality-Projekte damit, Situationen, die niemand erleben möchte, erlebbar zu machen—unter anderem die oben geschilderten.

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Wer braucht eine immersive Erfahrung der Terroranschläge des 11. Septembers?

Ein aktuelles VR-Projekt, das eine besondere gesellschaftliche Tragödie der Vergangenheit verständlich machen will, ist „08:46": Der Virtual-Reality-Simulator sechs französischer Studenten der Cnam-Enjmin-Hochschule transportiert uns mit einer Oculus Rift auf dem Kopf ins World Trade Center am Morgen des 11. September 2001. In einer gewöhnlichen Büroumgebung am Schreibtisch sitzend, finden wir uns unter den Angestellten in den Twin Towers wieder. Plötzlich lässt eine starke Erschütterung das Gebäude wackeln, Licht und Strom fallen aus und panische Kollegen versuchen verzweifelt, die verschlossene Bürotür zu öffnen.

Grafisch wirkt die Szenerie teilweise etwas unbeholfen, die Geräuschkulisse alles andere als immersiv und doch schafft es „08:46", zumindest ansatzweise die Grundstimmung zu transportieren, in der die ahnungslosen, aufgeschreckten und verwirrten Büroangestellten gewesen sein müssen, als die Boeing 767 in den Turm donnerte.

Viel zu unglaubwürdig, ja geradezu lächerlich sei die Umsetzung dieser Idee, eine immersive 09/11-Erfahrung zu kreieren, sagen nun viele User, andere—vor allem US-amerikanische—stören sich an der etwaigen Pietätlosigkeit der Anwendung. Doch eine wichtige, vielleicht die entscheidende Frage, die das Projekt aufwirft, wird äußerst selten gestellt: Wer braucht eigentlich eine immersive Erfahrung der Terroranschläge des 11. Septembers?

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Während es bei den eingangs erwähnten Beispielen für empathisches Erleben darum geht, mit Hilfe von Anwendungen aus dem Bereich Virtual Reality das Verständnis für stigmatisierte Bevölkerungsgruppen zu schärfen und letztendlich ein besseres gesellschaftliches Bewusstsein für diese Opfergruppen herzustellen, bringt „08:46" weder die politische oder gesellschaftliche Einordnung des 11. Septembers sonderlich voran, noch scheint es dafür geeinigt, bei einer etwaigen Traumaverarbeitung der Hinterbliebenen zu helfen

Das Video, welches die Macher absichtlich nicht als „Spiel" bezeichnen, deutet zaghaft an, wozu Virtual Reality in mittelfristiger Zukunft in der Lage sein wird—nämlich Menschen psychisch an Orte und in Situationen zu transportieren, die sie im echten Leben niemals aufsuchen könnten oder wollten—, greift dafür aber auf ein Ereignis zurück, für dessen gesellschaftliche Bewältigung eine derartige immersive Erfahrung gar nicht von Nöten ist. „08:46" liefert keine Antworten und wirft auch keine neuen Fragen auf.

„Wir haben versucht, die emotionalen Reisen der Opfer während des Ereignisses zu übermitteln, das um 08:46 Uhr begann. Und wir wollten dazu anregen, die Gefühle der Opfer, ihre Not und ihre Verzweiflung am Ende zu reflektieren", erklären die Macher gegenüber Esquire. Außerdem wolle man all jenen, die im Jahr 2001 noch zu jung waren, das ganze Drama des 11. September 2011 als ein zentrales politisches Ereignis der Gegenwart verständlicher machen.

Ob dieses Ziel erreicht wird, entscheidet wohl jeder Betrachter individuell—sicherlich abhängig von seiner Vorerfahrung mit Virtual Reality und individuellen Einstellung zum Thema 11. September. Doch die Begründung für eine derartige Gefühlsreflexion per Head-Mounted-Display bleiben sowohl die Entwickler als auch das Video selbst schuldig.

Stattdessen gerät „08:46" gefährlich nah an die Grenze zum Sensationalismus, die es aber alleine schon deshalb nicht überschreitet, weil die audiovisuelle Umsetzung für ein dreimonatiges Studentenprojekt zwar bemerkenswert, unter'm Strich aber ebenso wie die schauspielerische Leistung stark an Authentizität vermissen lässt.