FYI.

This story is over 5 years old.

Jamaika

Bewusster als Rastafaris kann man sich fast nicht ernähren

Du denkst, dass dich deine „Vegan Vor 6 Uhr“-Ernährung, deine kaltgepressten Säfte und deine Bio-Shoppingtouren zum bewusstesten Esser der Welt machen? Dann hast du offensichtlich noch nichts von der Ital-Küche gehört.
All images courtesy of the author

Zur Zeit ist die Bio-Landwirtschaft in Jamaika ein heiß diskutiertes politisches Thema. Dank den ganzen funkelnden, an der Küste liegenden Hotelresorts, die ihr Essen aus den USA importieren, ist das Dasein als Anbauer von jamaikanischen Nutzpflanzen ohne chemische Keule kein Kindergeburtstag. Aber immer mehr Landwirte, Köche und Aktivisten der Insel wollen die Rastafari- und Ital-Anbaupraktiken voran bringen und hoffen, die Obst- und Gemüse-Essgewohnheiten zu verändern.

Anzeige

Ein Fünftel der Jamaikaner ist in der Landwirtschaft tätig. Das erzählt mir Dool, der seinen echten Namen nicht verraten will („Das macht mich cooler, oder?"), als wir einen verdammt steilen Pfad auf seiner Farm in den jamaikanischen Pedro Plains hinunter stolpern. Das Gebiet ist auch bekannt als der „Brotkorb" der Insel.

Dool and son

Es gab mehrere Gründe, warum ich Dool treffen wollte. Man spricht nicht nur in Kingston über die Mahlzeiten auf seiner Farm—sein Essen wurde mir sowohl in Brooklyn als auch in London empfohlen. Anscheinend ist schon seine gebratene Brotfrucht mit Butter, ganzen Knoblauchzehen, Schalotten und breiten Streifen Scotch Bonnets Grund genug, um nach Jamaika zu reisen. Der wichtigste Grund, der mich an einem Abend voller Moskitos zu dem Wegbereiter der Basis geführt hat, waren jedoch Dools Aktivitäten in der Ital Farmers Organic Association.

Um das Prinzip zu erklären, sagt er: „Alles, was wir anbauen, ist bio, wie man es so schön nennt. Für mich bedeutet es einfach nur ‚frei von Chemikalien'." Trotz dem schrecklich seriös klingendem Namen sorgt die Ital Farmers Organic Association gerade für sozialen und politischen Aufruhr in ganz Jamaika—eine Insel, auf der du nur schwer Obst und Gemüse findest, das nicht mit Pestiziden behandelt wurde. Der Name ist eine Abwandlung von ‚vital', der erste Buchstabe wurde nur entfernt, um die Gesamtheit des Ichs (‚I') zu betonen. Ital gehört zu den Kernprinzipien der Rastafari-Religion. Um Babylon—die westliche Welt—von sich zu weisen und den Körper so tugend- und tempelhaft wie möglich zu halten, besteht die Ital-Ernährung aus Obst, Gemüse, Körnern, manchmal etwas Fisch und oftmals keinem Salz.

Anzeige
Dool's farm

Ital kam zum ersten Mal in den 1930ern auf und war im Grunde Veganismus, bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Schon lange vor den Zeiten von Quinoa-Müsli, Chia-Eintöpfen, kaltgepressten Säften und „Spaghetti" aus roher Zucchini ernährten sich jamaikanische Rastafaris komplett von unbehandelten Pflanzen, um Schadstoffe zu vermeiden und gesunde Inhaltsstoffe zu sich zu nehmen. Cannabis wird in der Rastafari-Kultur übrigens als Kraut angesehen. Ital ist jedoch nur in der Nyabinghi-Gemeinde wirklich Pflicht und den genauen Ort und das genaue Datum der Gründung festzulegen, ist schwer. Generell geht man davon aus, dass das Interesse des Anführers Leonard Howell an den Traditionen der bediensteten Hindus auf der Insel der ausschlaggebende Grund war. Die Hindus aßen gewürztes Gemüse, um Krankheiten und Verunreinigungen des Körpers zu vermeiden.

Dools Farm ist vielleicht eine Farm für gediegenen Aktivismus, aber in Ocho Rios (Spitzname: „Ochie") sind die Ital-Landwirte militant. „Wir finden auf den Märkten oder in den Geschäften nicht das, was wir brauchen", erzählt mir Dino, der Besitzer eines Lokals namens Reggae Pot Restaurant. „Ich arbeite mit spezialisierten Farmen zusammen, die keine Chemikalien benutzen und ich verwende so viele Bio-Produkte wie möglich—Okraschoten, Maniok, Pak Choi, Mais, Süßkartoffeln, Schalotten und Frühlingszwiebeln."

Der Mann boykottiert die örtlichen Supermärkte so lange, bis die jamaikanische Regierung die Bio-Landwirtschaft ernst nimmt. Aber die begrenzten Ressourcen schmälern Dinos Gerichte nicht im Geringsten, sie sind erstaunlich abwechslungsreich. Ein normales Gericht inklusive einem frisch gepressten Saft kostet dich 400 jamaikanische Dollar, also ungefähr drei Euro. Das tägliche Angebot reicht dabei von Nusssuppen (hier auch „sips" genannt) über gebratenen Knoblauch-Eintopf, Curry-Ackee, gedünsteten Maniok mit Bohnen, frittierte Yamswurzeln und Sauerkleesaft bis hin zu Frühstück mit Teigtaschen, sautiertem Maniok und gesalzenem Fisch. Bei Dino bekommst du quasi ein endloses veganes Festmahl, immer mit Rohkost (Bananen, Kartoffeln und Yams), Reis oder Erbsen serviert. Jedes Mal, wenn du dort bist, hast du das Gefühl, du würdest dich einmal komplett durch die Speisekammer einer Farm essen.

Anzeige
An ital plate of food

Die Gründe, warum die Regierung nur zögerlich mit Ital-Landwirten zusammenarbeitet, sind unklar. „Sie könnten mehr die Initiative ergreifen", erzählte mir Gyva, ein 24 Jahre alter Bananen-Landwirt. „Ein paar der Ratsmitglieder denken progressiv, aber die ganze Bewegung geht eigentlich von der Bevölkerung aus." Ich lernte auch Ricardo kennen, einen von Gyvas Freunden. Er war einer der militantesten Ital-Köche, die ich je getroffen habe. „Dir muss klar werden, dass dies ein tropisches Land ist", sagt er, „und Insektenplagen lassen sich nur schwer bekämpfen, da es in Jamaika keinen Winter gibt. Die Viecher sterben einfach nicht!" Ist die Annahme also richtig, dass für die Farmer der Anbau mit Pestiziden dann günstiger ist? „Stimmt, und das weiß auch die Regierung. Vieler der Landwirte sind sehr arm und mit Hilfe einer kleinen Menge Pestizide können sie ihre Familie ernähren."

Fast jeder, der in der Ital-Welt unterwegs ist, sieht nachhaltigen Anbau als Herausforderung an. Charlie, Bewohner der Blue Mountains und Ital-Koch, redet von einem landwirtschaftlichen System, das für die meisten Farmer nur schwer umsetzbar ist. „Ital-Landwirtschaft hat eine wirklich komplexe Struktur", sagt er. „Wenn du dir die Farm als Körper vorstellst, dann willst du sie fit machen, aber von Grund auf. Du verpflichtest dich einem Lifestyle, bekommst aber bei richtiger Ausführung dein ganzes Leben lang bessere Pflanzen."

Anzeige

Charlie war einer der wenigen Ital-Köche, die es überhaupt in Erwägung zogen, mich in ihre Küche zu lassen. Nach viel Überzeugungsarbeit durfte ich eintreten, aber nicht, bevor ein von ihm angesprochenes „kleines Problemchen" gelöst wurde. Ich war nicht passend gekleidet. Also betrat ich die Küche mit Leihgaben von Charlie: ein T-Shirt mit dem Gesicht von Haile Selassie drauf, eine Ikone der Rastafari-Religion, und eine Rasta-Mütze in den Farben der jamaikanischen Flagge. Charlie machte keine Faxen und ich wollte ihn beeindrucken. In der Küche brodelten Kokosnuss- und Gemüsebrühe auf dem Herd, dazu ein wenig vom Morgen übrig gebliebener Erdnussbrei und siedende Tomatensoße. Kein Ting (Jamaikas beliebtester Softdrink) war zu sehen—Säfte sind Charlies Spezialität. Seine Favoriten? Rote Beete, Salatgurke und Salbei.

All images courtesy of the author

Wenn du die gehobene Küche von Ital erleben willst, dann musst du nach Downtown Kingston. Ich ging in eine Lokal namens Dr. Spice, wo in Pak Choi-Blätter gewickeltes Tofu und Kidneybohnen-Brot mit Zucchini und Honigsoße auf feinen Tellern serviert und von kosmopolitischen Bewohnern Kingstons gegessen werden. Interessanterweise habe ich vor einem Beauty-Salon eine Gruppe Frauen und Männer getroffen, die mir erzählten, dass sie regelmäßig auf ‚Ital umsteigen', um für Partys oder spezielle Anlässe schlank zu werden. Anscheinend ist die temporäre Annahme von nachhaltigen Ernährungsstilen nicht nur ein Ding des Westens.

Die meisten internationalen Ital-Köche holen sich ihre Inspiration aus Kingston. Ram, der Besitzer des Restaurants „Ital'N'Vital" in Londons Bezirk Tottenham, erzählt mir, dass es in Äthiopien viele Ital-Cafés und -Restaurants gibt und in London beachtlich viele vegane Rastafaris leben. In seiner Heimatstadt St. Mary hat Ran eine Farm gebaut, denn er „konnte kein Gemüse frei von Chemikalien finden". In London ist Dalstons Ridley Road-Markt seine erste Adresse. Jeder Londoner, der je durch Ridley Roads Gänge voller exotischer Waren gegangen ist, wird dir bestätigen, dass es nirgendwo besser ist.

Ital'n'vital chef

Die Nahrungsmittelpreise und fehlendes Wissen über Ernährung und Inhaltsstoffe führen in Jamaika weiterhin dazu, dass die Leute frittiertes Fleisch dem Callaloo-Eintopf vorziehen. Aber irgendwo muss die Revolution anfangen. Da die Ital-Landwirte und -Köche immer weiter danach streben, ihr Essen bio, gesund und authentisch zu halten, hat man—zumindest in Kingston—wirklich das Gefühl, dass das Bewusstsein anfängt, sich zu verschieben. Und eines steht fest: Sie werden nicht aufgeben. „Ich werde immer Ital kochen", grinst Charlie. „Das ist der Weg der Rastas."

Alle Bilder: Grace Banks