Der Fotograf, der die Ultras von Marseille sechs Jahre begleiten durfte
Alle Fotos: Lionel Briot

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zwölfter mann

Der Fotograf, der die Ultras von Marseille sechs Jahre begleiten durfte

Zwischen 1996 und 2000 kam niemand mit einer Kamera so nah an die Fans von Olympique Marseille heran, wie der Fotograf Lionel Briot. Er erzählt, wie er sich das Vertrauen der „Commando Ultra" sicherte.

Der Fotograf Lionel Briot ist gebürtiger Marseiller. Als er noch ein kleiner Junge war, machte er es wie etliche Kinder aus Marseille: Er ging ins Stadion Velodrome. Aber im Laufe der Zeit und mit dem Älterwerden haben sich die Dinge nach und nach geändert. „Mein Blickwinkel wanderte während der Spiele oft vom Rasen zu den Rängen voller Supporter", verriet er uns. Die Fans von Olympique Marseille, die sich, manchmal auch extrem, ihrem Verein hingaben, waren und sind für ihn eine Quelle der Bewunderung und der Inspiration. Von diesem Zeitpunkt an wollte Lionel Briot näher an die Fans herankommen, um über ihre unerschütterliche OM-Leidenschaft, ihre Einstellung und ihre Rituale auf den Tribünen des Velodrome zu berichten. Nach sechs Jahren, die er auf der Tribüne Fotos schoss und Spiele durch die Augen der Fans sah, veröffentlichte Lionel Biot mehrere seiner Bilder in dem Fotoband Vélodrome, le douzième homme, der im Mai 2016 im Verlag Le Garage photographie erschien. Uns hat er sie gezeigt:

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VICE Sports: In deiner Jugend warst du häufig selbst auf den Rängen des Velodrome. Was hat dich dazu bewegt, die Zuschauer, die ihr Leben für die Kurve opfern, in deinen Fotos einzufangen?
Lionel Briot: Mir gefällt das Wort „Zuschauer" nicht besonders. Ich habe mich dazu entschieden, die Tribünen im Velodrome zu fotografieren, weil ich mitten im Geschehen sein wollte und nicht, weil ich ein Spektakel erleben wollte. Ich habe mir einen Zugang zur Szene verschafft und beschäftige mich mit denen, die dazu gehören. Als ich selbst noch als Zuschauer im Stadion war, war ich nie nur passiv dabei, wie ein Großteil der Leute im Velodrome zu der Zeit.

Ich wollte mich in meiner Fotografie auf die Anhänger von OM konzentrieren, ich wollte aktiv mitmischen. Aus der Zeit, in der ich noch mit Erwachsenen ins Stadion ging, habe ich noch Kindheitserinnerungen. Zu dieser Zeit konnte ein Erwachsener ein Kind umsonst mit ins Stadion nehmen. So konnte ich damals immer ins Stadion. In dieser Zeit hat mich die Stimmung im Stadion in den Bann gezogen, sie hat mich geprägt. Es war schon damals echte Leidenschaft zu spüren, auch wenn die Ultras noch gar nicht da waren. Diese Zeiten haben sich geändert. Als ich 1993 nach Marseille zurückkam, bin ich wieder ins Stadion zurück und erkannte, dass ich mich viel mehr für die Fans als für das Spiel interessierte. Damit fing im Prinzip alles an.

In deinem Buch sagst du auch, dass du „das Bedürfnis verspürtest, Fotos zu machen. Vielleicht als eine Art Notwendigkeit, um dir eine neue Identität aufzubauen". Inwiefern wird dieses Bedürfnis durch das Fotografieren der Fans befriedigt?
Ich wollte andere damit erreichen und ein Foto schafft diesen Spagat. Ich habe Marseille 1983 verlassen und als ich zurückkam, hatte ich die Orientierung verloren. Ich wollte wieder zu einem echten Marseiller werden und dafür bot sich nichts besser an als das Velodrome.

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Außerdem wollte ich aus meiner Komfortzone raus und wieder Menschen in den Mittelpunkt meiner Arbeit stellen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich gerade viele Fotos im Studio gemacht.

Wie gestaltete sich deine Aufnahme bei den Anhängern von Marseille?
In dieser Zeit war es viel schwieriger, in dieser Welt Fuß zu fassen, weil sie viel mehr Untergrund war als heute. Damals gab es ja noch keine sozialen Netzwerke, keine Bilder, die ständig in Umlauf gebracht wurden. Als ich dort an den harten Kern herantrat, war ich kein Journalist. Ich war nur ein Fan mit einer Kamera über der Schulter im Stadion.

Das war am Anfang der Saison 96/97. Ich war in der Südkurve unterwegs, hatte meine Kamera dabei und bin auf die Capos zugegangen. Durch die Stufen im Block stand ich ungefähr auf Höhe ihrer Füße, sah quasi aus der Froschperspektive zu ihnen hoch. Das war die Situation, in der man mir sagte: „Wenn du auch nur ein Foto mit dieser Kamera machst, werde ich dir einen Tritt verpassen". An diesem Tag habe ich also keine Fotos gemacht, wir haben uns stattdessen auf ein Treffen an einem anderen Tag geeinigt. Als ich mich dann mit der Commando Ultra getroffen habe, habe ich ihnen ein Buch mit meinen Fotos gezeigt, die nichts mit dem zu tun hatten, was ich im Stadion machen wollte. Sie schlugen mir daraufhin vor, wiederzukommen. Ich kam wieder, zusammen mit dem Capo. Das lief alles vor der Öffentlichkeit ab und war deren Art und Weise, mir und allen Anderen zu zeigen, dass meine Anwesenheit akzeptiert wird.

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Danach gab es sowohl schöne als auch angespannte Momente. Die Wogen haben sich aber immer wieder von selbst geglättet.

Das heißt, für Fotografen, oder sagen wir für Journalisten, ist der Zugang zu einer Gruppe leichter, wenn man von Anfang an den eigenen Ansatz klar macht…
Genau, das hast du richtig rausgehört. Darüber hinaus habe ich Vertrauen aufbauen können, weil meine Arbeiten von einem Verlangen getragen wurden. Ich war aufrichtig und ehrlich in meinem Ansatz. Und als ich damit begonnen habe, das so umzusetzen, haben die Anhänger gesehen, dass ich ihr Vertrauen nicht missbrauche. Es war klar, dass ich nicht dort war, um diese Bilder für Andere zur Verfügung zu stellen, für die Presse beispielsweise.

Du hast beinahe sechs Jahre im Herzen der Fans von Marseille verbracht. Wonach hast du die Fotos letzten Endes ausgewählt?Da ich keine Erfahrungen mit dem 24x36-Format hatte, musste ich mich erst daran gewöhnen. Dadurch entstand ein bisschen Müll, weil ich herumexperimentieren musste, bis ich herausgefunden hatte, wie man es am besten verwendet. Wir mussten auch auswählen, wie wir die Bilder behandeln wollten, also in Farbe oder Schwarzweiß. Die Fotos an sich waren nicht schwierig zu machen, ich wusste schon mal, dass ich kein Foto vom Maskottchen "Footix" machen wollte. Außerdem habe ich mich dafür entschieden, keinen Blitz zu benutzen. Mir ging es darum, beim Fotografieren vollkommen unentdeckt zu bleiben. Niemand sollte meine Anwesenheit bemerken.

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Die Auswahl der Fotos für das Buch kommt Verdauungsarbeit gleich. Man muss sie mit etwas Abstand betrachten. Ich habe meine Fotos auch Depé (Patrice De Peretti, Gründungsmitglied der mächtigsten Ultra-Gruppe von Marseille, verstorben im Juli 2000, A.d.R.) gezeigt, der jemand sehr Offenes war. Er hat sich meine Fotos angesehen wie ein Kurator. Zuerst traf er eine grobe Vorauswahl, dann half er mir dabei, die richtigen auszusuchen. Das entsprach wirklich dem, was ich machen wollte: Fotos zeigen, auf denen das Leben zu sehen war, aber auch Wut. Depé zeigte richtiges Einfühlungsvermögen. Er brachte die gleiche Leidenschaft für dieses Unterfangen auf wie für seine eigentliche Leidenschaft. Ich glaube, damit wollte er mir zu verstehen geben, dass ich Teil der Familie war.

Auf den Fotos sticht vor allem die raue, beinahe brutale, Seite heraus. Man sieht kaum einen lachen. Man könnte fast denken, dass die Fans kaum Spaß haben und vor allem im Stadion sind, um ihre Ressentiments abzubauen.

Natürlich sieht man im Stadion auch lachende Menschen, vor allem in Momenten der Freunde. Wenn die Mannschaft ein Tor schießt oder eine klare Chance herausgespielt wird. Ich habe mich bewusst nicht auf die Suche nach Fotos von Kindern und Familien gemacht. Die sind viel einfacher zu schießen. Ich wollte vielmehr Wut und Emotionen in meinen Bildern übermitteln.

Ein Stadion ist nicht nur heile Welt. Das Stadion ist auch ein Ort, an dem man Dampf ablassen kann.

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Wie haben die Ultras, oder besser Anhänger von Marseille, deine Arbeit aufgefasst?
Am Abend der Vernissage habe ich deutlich gespürt, dass die Leute damit zufrieden waren, dass jemand eine derartige Arbeit umgesetzt hat. Ich habe viel Zuspruch in diese Richtung bekommen.

Für Menschen aus Marseille war das eine andere Zeit. Es ist ein Geschichtsband einer vergangenen Ära. Die Älteren fanden sich darin wieder, in der „guten alten Zeit", in der Nostalgie. Der Kontext hat sich heute in Marseille geändert. Man schaut ein Fußballspiel nicht mehr auf die gleiche Weise an wie damals. Es ist zu einem Event geworden.

Darüber hinaus finde ich, dass der Geist der Tribünen ein wenig gebrochen ist. Die Anhänger verschaffen sich zwar immer noch Gehör, aber es hat sich trotzdem etwas geändert. Ich glaube aber auch, dass dieser Geist wieder aufleben kann, weil die Menschen aus Marseille ihn in ihren Genen haben.

Was nimmst du persönlich, über die Veröffentlichung deines Fotobandes hinaus, aus deinen Abenteuern im Herzen des Velodrome mit?

Es war einfach wunderbar, einen unbekannten Ort zu entdecken. Mir sind in all dieser Zeit Menschlichkeit, Brüderlichkeit und Wahrhaftigkeit begegnet; eben genau das Gegenteil von dem, was versucht wird zu verkaufen. Ich habe große Momente des Glücks und der Freude erlebt, die ich lange nicht mehr so im Stadion gesehen habe. Alle waren eine Einheit, ungeachtet ihrer Hautfarbe oder ihres Alters. Im Velodrome und in der Kurve habe ich unterschiedliche und abwechslungsreiche Typen getroffen. Ich habe außerdem gespürt, dass die Menschen unter sich sehr großherzig zueinander waren.

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Aber davon abgesehen hat mich dieses Abenteuer näher an den Menschen gebracht. Für viele dort bin ich jetzt der Mensch mit der Kamera.