Warum Dynamo-Fans nicht einfach genießen können
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Dynamo-Land

Warum Dynamo-Fans nicht einfach genießen können

Was im Dynamo-Land passiert, grenzt an ein modernes Fußball-Wunder. Doch die Dresdner halten sich lieber an Nebensächlichkeiten auf. Ist das eine bipolare Störung irgendwo zwischen Europacup und Zwangsabstieg?

Ein Beitrag über Dynamo Dresden kommt dieser Tage nicht am „Football Army"-Fanmarsch von Karlsruhe vorbei. Je nachdem, aus welcher Sicht man es betrachtet, findet man die Aktion entweder daneben und fordert jetzt mal wieder härtere Strafen oder man findet sie genial und fühlt sich in den Medien mal wieder falsch dargestellt. Rein sportlich betrachtet, kostet diese Diskussion aber vor allem Zeit und vernebelt den Blick, und zwar auf ein echtes sächsisches Fußballwunder in dieser Saison. Aber warum vermag es der gemeine Dresden-Fan nicht, diesen größten Erfolg seit den Bundesliga-Zeiten Anfang der 90er zu genießen? Die Gründe dafür liegen nicht in den militarisierten Zonen rund um den Karlsruher Wildpark, sondern weitaus tiefer.

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Zwei Tage nach den Vorkommnissen von Karlsruhe sitzt Sportgeschäftsführer Ralf Minge im Dresdner Schillergarten, neben ihm drei Sportjournalisten, vor ihm ein erwartungsvolles Publikum. Ein Fußballtalk, bei dem er eigentlich gar nicht eingeplant war, aber das Dresdner Urgestein hat etwas zu sagen. Er sei enttäuscht, sagt er. Enttäuscht, weil wieder mal Grenzen überschritten wurden und weil ein fader Beigeschmack zu einer beeindruckenden Saison hinzukommt. Minge hat aktuell eigentlich auch Besseres zu tun. Für ihn ist es die wichtigste Phase der Saison. Jetzt geht es um Verträge, Top-Spieler müssen gehalten, Abgänge kompensiert werden. Er hat die Fäden fest in der Hand. Deswegen, und natürlich wegen seines Corleone-Looks, nennt man ihn in Dresden anerkennend den 'Paten'.

Das echte Fußballwunder von Sachsen

Im Mai 2014 war Dynamo mit einem dramatischen 2:3 gegen Bielefeld im eigenen Stadion abgestiegen. Die Mannschaft war in Grüppchen zersplittert, die Fans enttäuscht und der Verein noch immer mit beiden Füßen tief in den Schulden. Im Mai 2017 geht es am letzten Spieltag der zweiten Liga wieder gegen Arminia Bielefeld. Dynamo steht sicher auf Rang fünf, spielte bis kurz vor Saisonende um den Aufstieg mit und ist seit einem Jahr schuldenfrei. Das ist ein echtes sächsisches Fußballwunder. Allen RB-Fans, die jetzt schon wutentbrannt in die Tastatur hacken, sei gesagt: Es kommt darauf an, aus welchen Mitteln man etwas macht. Viel Spaß in der Champions League! Ihr habt ja nun schon ganze acht Jahre darauf gewartet.

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RB sorgte ungewollt auch für das frühe Dresdner Saisonhighlight. Ein Sieg in der ersten Pokalrunde, der irgendwie viel mehr war. Sogar bei manchem grundpessimistischen Traditionalisten keimte Hoffnung auf. Vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren im deutschen Fußball. Und dann noch ein 5:0-(in Worten: FÜNF zu NULL)-Heimsieg gegen den Ligakrösus aus Stuttgart. Wer soll denn jetzt noch kommen? „EUROBABOGAL, EUROBABOGAL!", schallte es durchs Stadion. Mal wieder wurde die Vereinschronik um einige Anekdoten ergänzt, die man sich noch jahrelang in den stadionnahen Fankneipen Ackis und ToWi erzählen wird. Irgendwie aber auch der ganz normale Wahnsinn.

Überfordert mit der neugewonnen Kontinuität

Ein Dresdner Wunder aber ist es, weil es eine derartige Kontinuität nach der Wende noch nie gab. Das Konzept ist größer als einzelne Personen. Spielerabgänge sind weiterhin ärgerlich, werfen aber keinen mehr aus der Bahn. Don Mingus und Trainerfuchs Neuhaus haben die Sache im Griff. Es ist Ruhe eingekehrt.

Don Mingus inspiziert das Trainingszentrum, das im Sportpark Ostra entstehen soll: Foto: Imago/Robert Michael

Doch die Freude über diese Entwicklung und die beste Zweitligasaison des Vereins ist in der Stadt aktuell kaum greifbar. Das hat mit einer gestiegenen Erwartungshaltung und den in Dresden sehr beliebten Nebensächlichkeiten zu tun. Sobald es sportlich einigermaßen läuft, sucht man händeringend nach Aufregern. Überall da, wo keine Titel rekordgemeistert oder Champions-League-Teilnahmen einfacher erspielt werden als damals beim Fußball Manager 2010, geht man aus einem Grund ins Stadion: Man will sich aufregen. In Dresden echauffierte sich das Fachpublikum diese Saison über Randthemen. Fragen, die man sich in früheren Krisenzeiten nie gestellt hätte. Muss Marvin Schwäbe eigentlich immer im Tor stehen? Muss dem wechselnden Marvin Stefaniak die Liebe der Fans entzogen werden oder ist er mit einem Umzug nach Wolfsburg nicht schon genug bestraft? Und wie viele Tore muss ein Stürmer mit einem Schönheitsfehler in der Vita eigentlich erzielen, um sich vollständig zu rehabilitieren? Stefan Kutschke weiß es. Es sind 16 in der Liga und zwei Stück im Pokal.

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Der Klassenerhalt interessierte spätestens seit der erfolgreichen Halbserie keinen Fan mehr in Dresden, aber als dann am 28. Spieltag in Braunschweig der Aufstieg verspielt wurde, verloren Mannschaft und Umfeld jede Freude am Spiel. Die Dresdner Gefühlslage schwankt ohnehin ausschließlich zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Eine bipolare Störung irgendwo zwischen Europacup und Zwangsabstieg.

Denn so wie die Stadt Dresden ihre Wunden bis heute trägt und zelebriert, so knabbert auch der Verein Dynamo Dresden in seinem Selbstverständnis noch immer am Zwangsabstieg aus dem Jahre 1995. Es ist bezeichnend, dass gerade Ralf Minge, der sich damals als Interimstrainer mit aller Kraft gegen den sportlichen Abstieg stemmte, heute wieder der entscheidende Mann bei der SGD ist. Vernünftig wie er ist, will er die Mannschaft erst einmal in der zweiten Bundesliga etablieren. Wer die eigentlichen Ziele in Dresden kennen will, muss allerdings mal ältere Dresdner nach ihren Plänen für den Lebensabend fragen. Kreuzfahrten und Bingoabende sind da nicht hoch im Kurs, aber noch einmal Europacup mit Dynamo, da glänzen die Augen.

Die SG Dynamo ist auf dem richtigen Weg. Das erste Mal seit der Wende plant man sportlich über das nächste Lizensierungsverfahren hinaus. Die Sportgemeinschaft wird, so der Fußballgott es will und der DFB es zulässt, mittelfristig den Weg in die Bundesliga gehen. Es bleibt zu hoffen, dass trotz dieser Professionalisierung ein Stückchen Chaos und eine Brise Skandal erhalten bleiben. Dynamo ist kein normaler Verein und das bleibt hoffentlich auch so.

Andere Nebensächlichkeiten könnt ihr mit unserem Autor auf Twitter austauschen: @soeinalbrecht