Wie Ex-Häftlinge in Profi-Küchen eine zweite Chance bekommen

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Soziales Engagement

Wie Ex-Häftlinge in Profi-Küchen eine zweite Chance bekommen

Es geht um Teamwork, vor allem aber darum, wieder Selbstachtung und Selbstvertrauen zu gewinnen.

"Das Ding war so tiefgefroren wie Alaska, also haben wir unseren Plan geändert." Emanuel Silva spricht über ein Stück Rindfleisch, dass er zusammen mit seinen Teamkollegen Jessica Vargas und Dennis Wilson, für ihre heutige Aufgabe, einen Eintopf, bekommen hat. Stattdessen improvisieren Emanuel – eindeutig der Klassenclown der Gruppe – und Jessica für den Hauptgang und machen aus Hackfleisch, Eiern und Semmelbröseln Fleischbällchen. Sie kochen heute für die Bewohner der Wohneinrichtung des Doe Fund in Bedford-Stuyvesant, einer von vier Einrichtungen in New York.

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Emanuel, Jessica und Dennis sind drei von acht Teilnehmern des achtwöchigen Programms "Chef-in-Training" des Doe Fund. Die Non-Profit-Organisation versucht, mit solchen Ausbildungsprogrammen und Bildungsangeboten, die zu einer Beschäftigung führen sollen, Obdachlosigkeit, die Zahl der Inhaftierungen und die Rückfallquoten zu minimieren. Doch es ist weniger bekannt, dass die Teilnehmer des Programms, die in der Vergangenheit mit schwerem Diebstahl, Drogenabhängigkeit und Gefängnisaufenthalten zu kämpfen hatten, am Ende in einigen bekannten Restaurants der Stadt arbeiten werden – zum Beispiel in der Küche des The Shakespeare im William Hotel oder im Pondicheri in Flatiron.


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Das Programm "Chef-in-Training" gibt es seit 2015: Justin Fertitta, ein "sanfter Riese" mit schwarzen Locken und einer drahtigen Brille, hat früher im Aquavit und im Five Leaves in Greenpoint gekocht, dann überlegte er sich ein Ausbildungsprogramm, um die "Bewohner in die kulinarische Welt von New York einzuführen", wie er sagt.

Heute, es ist mittlerweile die zweite Woche für die Teilnehmer, werden sie in verschiedene Gruppen eingeteilt. Roland Shaw macht Rote-Bete-Salat mit Orangen, Rucola, gehobeltem ricotta salata und einer Vinaigrette. Justin Fertitta hat Manuel "Manny" Rios und Iric Webster aufgetragen, eine Vichyssoise zu machen, eine kalte Kartoffel-Lauch-Suppe. Drei "Schüler" kümmern sich um die erwähnten Fleischbällchen. Victor Chetti und ein anderer Teilnehmer – der anonym bleiben möchte – machen für den Abschluss des Essens einen Apfel-Crumble. "Einfacher Scheiß", meint Victor.

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Emanuel Silvia (links) und Jessica Vargas verquirlen die Eier, die an die Fleischbällchen für den Hauptgang kommen. Alle Fotos vom Autor

Die Schüler antworten auf Justin Fertittas Anweisungen mit einem "Ja Chef!" und sie arbeiten mit Bestellbons, wie es sie auch in Profi-Küchen gibt, um die Gerichte zur Essenszeit rauszuschicken. Bei so einer gestellten professionellen Arbeitsumgebung können unvorhergesehene Situationen eintreten, die den Teilnehmern viele Möglichkeiten zum Lernen bieten. Während ihrer sechsstündigen Schicht diskutieren sie, was eigentlich Sternanis ist, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede es zwischen den Sauerrahmarten gibt, wie man frischen Thymian richtig hackt und warum eine Mise en place so wichtig ist. "Ohne [die] werdet ihr auf die Schnauze fallen", meint Justin warnend.

Er erklärt seine Herangehensweise so: "Ich versuche meinen Schülern nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch zu erklären, warum. Wie [bestimmte Methoden] entstanden sind und warum sie immer noch funktionieren. Dadurch verstehen sie es viel besser." Er rechtfertigt die militärische Atmosphäre in vielen Küchen.

Für die Teilnehmer ist der harte Kurs eine Ehre. Victor kommt aus Brooklyn und hat italienische Wurzeln, ihm gehörte früher ein Tattoo-Laden. Er erklärt, dass es zwar einen offiziellen Bewerbungsprozess für das Programm gibt, "man es sich aber hart verdienen muss, hier sein zu dürfen und auf diesem Niveau zu lernen."

Ich höre, wie Justin Fertitta durch die Küche brüllt: "Manny! Jedes Mal, wenn ich rüberschaue, bist du am Quatschen und nicht am am Schneiden!" Er sorgt deutlich, aber immer mit einem Lächeln für Disziplin.

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Iric Webster (links) schaut zu, wie Justin Fertitta die Vichyssoise, eine der beiden Vorspeisen für das heutige Menü, püriert

Doch dass Manny kurz eine Pause gemacht hat, war eigentlich meine Schuld. Manny ist ein netter Mensch, der gerne redet. Er hatte seine Vorbereitungen unterbrochen, um mir Fotos seiner neuen Wohnung auf seinem Smartphone zu zeigen und stolz durch die Bilder seines neuen Fernsehers und seiner modernen Küche zu scrollen. Er und seine Frau waren 19 Jahre lang drogenabhängig. Mehrere kleine Delikte füllen das Strafregister des ehemaligen Lieferfahrers. Beide sind jetzt neun Monate clean. Über ihre Beziehung meint Manny: "Zum ersten Mal genießen wir unsere Zweisamkeit richtig. Nur über meine Leiche würde ich wieder anfangen."

Als trockener Alkoholiker weiß Justin, wie das ist. "Viele der Teilnehmer haben das Gefühl, dass ihre Familien und das System sie im Stich gelassen haben. Ich glaube fest an eine zweite oder dritte Chance. Ich habe auch in meinem persönlichen und beruflichen Leben bestimmte Brücken abgebrochen – und musste dann um eine zweite Chance bitten. Ich möchte, dass die Teilnehmer wissen, dass es nicht das Ende bedeuten muss, wenn man mal stolpert und Dinge vermasselt. Es ist eine Lernerfahrung."

Man könnte meinen, dass die Vergangenheit der Teilnehmer für Spannungen in der Küche sorgen würde. Justin meint: "Anfangs hatte ich ein paar Bedenken. Ich sollte mit ein paar Ex-Häftlingen in einer Küche mit über 15 Messern stehen." Doch beim ersten Kurs lösten sich Justins Ängste in Luft auf: "Wir haben, glaube ich, alle eine vorgefasste Meinung, wenn wir das Wort [Häftling] hören. Ich habe komplett andere Erfahrungen gemacht. Das hier sind die nettesten Jungs der Welt. Sie versuchen auch nur – wie jeder – zu überleben."

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Diese Programm – genauso wie die Teilnehmer – sind erfolgreich, weil sich alles ums Essen dreht. Das liegt zum einen an der Art, wie Leute in der Gastronomie eingestellt werden. Justin Fertitta meint, dass es den meisten Küchenchefs "egal ist, welche Vergangenheit man hat. Wenn man jeden Tag zur Arbeit kommt und bis zum Umfallen kochen kann, hat man den Job."

Er vergleicht Restaurants mit einem Piratenschiff. Durch den Arbeitsdruck drehen sich Gespräche um die jeweilige Aufgabe und nicht um das Privatleben des Kollegen, der die Zwiebeln zu langsam schneidet. Obwohl Gastrobetriebe bei der Einstellung die Identität überprüfen müssen, müssen sie die Echtheit des Ausweises nicht überprüfen. Dieses "Beide-Augen-Zudrücken" kann zu schlechterer Bezahlung für illegale Einwanderer führen, kommt aber Ex-Häftlingen und Obdachlosen zugute.

Victor Chetti fotografiert seinen fertigen Rote-Bete-Salat, bevor alle Teilnehmer ihn probieren

In einer Küche kann man verschiedene Fähigkeiten erlernen: Zeitmanagement, Organisation, ein Verständnis für Ursache und Wirkung und die Fähigkeit, unter Druck und als Team zu arbeiten. Vor allem Teamwork ist entscheidend, betont Justin Feritta: "In der Küche geht es nicht um mich. Es geht darum, als Team zu arbeiten."

Doch das wohl Wichtigste, das die Teilnehmer bei Chef-in-Training lernen, ist Selbstachtung, Selbstvertrauen und den Glauben daran, dass auch sie etwas bewirken können. Die Schüler von Justin sollen ihre Arbeit in der Küche als Teil Grundstein für ihre Zukunft sehen: "Wenn ich sie dazu inspirieren kann, dass sie Kochen nicht nur als einen Job, sondern als einen echten Beruf sehen, dann habe ich meine Arbeit richtig gemacht."

Und so haben viele Teilnehmer auch nach dem Kurs eigene Pläne. Iric Webster will aufs College gehen und sich einen eigenen Laden aufbauen – er will erst mal klein anfangen mit einem Food Truck. Victor Chetti will noch mehr Ausbildungskurse bei der Stiftung besuchen und, wie er sagt, "zwielichtigen Menschen" aus dem Weg gehen und nach Florida ziehen. Manny Rios sucht nach einem Job in der Gastronomie und will in seine Heimat nach Puerto Rico zurückkehren, um für seine Mutter zu sorgen.

Die Erfolgsstorys ehemaliger Teilnehmer sind ein positives Beispiel und Motivation für die derzeitigen Schüler. Zu diesen Alumni gehört auch Patrick Watts. Er kommt ursprünglich aus Guyana und hat 18 Jahre im Gefängnis gesessen, jetzt ist der Mann mit der sanften Stimme auf lebenslanger Bewährung draußen. Er kocht britische Küche im The Shakespeare.

Für ihn war die Teilnahme bei "Chef-in-Training" eine einschneidende Veränderung. Als ich frage, ob ihn das überrascht hat, antwortet er: "Ich war nur überrascht, dass ich mich echt gut damit fühlte. Und auch jetzt geht es mir wirklich richtig gut."