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Popkultur

Wie die Radikale Anti Smartphone Front dafür kämpft, dass du seltener auf dein Handy guckst

"Viele fühlen sich provoziert, wenn wir fragen, ob das Handy tatsächlich auf dem Kneipentisch liegen muss."
Foto: Lea Albring

Der Kollege will wissen, ob 13:00 Uhr Kantine passt (Heute gibt es Wurstgulasch!)? Anni schickt ihre Kontodaten für den Ostseetrip (Bitte schnell überweisen, bin blank!) und Mister Superstrong spammt Viagra-Werbung (Erektion ohne Ende!): drei Mails in fünf Minuten. Es ist neun Uhr morgens. Mittag ist erst in vier Stunden, der Ostseetrip in zwei Wochen und Viagra hoffentlich erst in 30 Jahren ein Thema. Was jetzt auf dem Plan steht, ist Arbeit. Eigentlich. Aber Anni soll nicht auf ihre Kohle warten und Daniel nicht Schleim-Jenny in die Mittagsrunde einladen. Zehn Minuten später kann es dann losgehen mit Arbeiten. Vorher noch schnell ein Blick aufs Smartphone. Oha. Twitter aktualisieren, das Foto von Vivis Baby mit Herzchen kommentieren und nochmal kurz checken, wie viele Schritte man heute schon gelaufen ist. Jetzt aber ran an die Arbeit. Wären da nicht drei neue Mails.

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Diese "Arbeitsorganisation" kennt jeder. Laut einer neuen Umfrage des Deutschen Gewerkschaftsbundes zum Thema regen sich 69 Prozent der Arbeitnehmer, die einen PC vor sich haben, über ständige Unterbrechungen auf. Bei Leuten, die nicht digital arbeiten, sind es nur 36 Prozent. Von 10.000 Befragten sagten 46 Prozent, dass ihre Arbeitsbelastung wegen der Digitalisierung angestiegen sei.

Digitalen Dauerstress gibt es, seien wir mal ehrlich, nicht nur auf der Arbeit: kein Kneipenabend mit Freunden, ohne dass nicht mindestens drei Handys auf dem Tisch liegen. "Sorry, Ben ruft an, da muss ich kurz ran." Normal. Dass keiner sein Handy dabei hätte, ist eine Vorstellung, so wahrscheinlich wie ein Revival des Faxgeräts. Genauso normal: mit dem Smartphone im Bett liegen, wenn der Partner dabei ist. Laut einer Studie des Wirtschaftsprüfungs- und Consultingunternehmens Deloitte gucken 18- bis 24-Jährige 82 Mal täglich auf ihr Smartphone, bei 16 wachen Stunden ist das fünfmal pro Stunde, heißt: alle 12 Minuten.


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Für die Konkurrenz zwischen Partner und Handy gibt es sogar ein Wort: "Phubbing", eine Zusammensetzung aus phone und snubbing (=abweisend).

Rückenwind bekommt dieser Neologismus aus einer Studie der Illinois State University. Das zentrale Ergebnis: Frauen sehen das Smartphone ihres Partners als stärkere Konkurrenz als umgekehrt, 70 Prozent der Frauen sagten, dass ein Smartphone ihre Beziehung negativ beeinflusse. Jede Vierte gab an, dass ihr Partner während einer Unterhaltung Nachrichten schreibt.

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Wenzel (27) und Benno (26) zucken bei diesen Studien nur mir den Schultern: "Ist doch klar", sagen sie. Dazu muss man wissen, dass die beiden mit Sprüchen wie "Ficken statt Facebook" oder "Emotion statt Emoticon" Menschen dazu bewegen wollen, über ihren Smartphone-Gebrauch nachzudenken. Vor zwei Jahren haben die beiden die Radikale Anti Smartphone Front gegründet, die Idee ist ihnen an einem Fluss in Lissabon gekommen. 13 Leute unterzeichneten das Gründungsmanifest. Heute haben sie gut 50 Leute in ihre Reihen. VICE haben sie erzählt, was sie an der Digitalisierung ankotzt und warum sie keine Smartphones haben.

Foto von der Autorin

VICE: Ihr seid also Smartphone-Abstinenzler aus Überzeugung?
Benno: Ja. Wir haben beide keine Smartphones. Ich bin viel lieber in der echten als in der digitalen Welt unterwegs. Was habe ich davon, wenn 50 Leute ein Bild von meinem Essen liken? Da unterhalte ich mich doch lieber mit einem Freund. Ich sitze gern im Park und beobachte Leute. Wenn man das tut, fällt einem auf, wie viele ihr Gesicht lieber im Smartphone versenken, als ihre Umwelt wahrzunehmen. Mein Problem mit den Smartphones: Im Grunde geht es doch nur um einen selbst in einem selbst konstruierten Mikrokosmos. Wem gefällt mein neues Profilbild, wer klatscht mir digital Beifall für meine 1,0 in der Masterarbeit und wer beneidet mich um das schicke Strandbild? Mit dem Smartphone konstruieren wir eine Welt, in der sich alles um uns selbst dreht. Das macht doch nicht glücklich. Ich pflege lieber meine Freundschaften als meinen Narzissmus.

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Aber dass ein Smartphone praktisch sein kann, könnt ihr nicht leugnen?
Wenzel: Klar verstehe ich, dass Google Maps oder WhatsApp praktische Tools sind. Aber: Es geht auch ohne – zumindest privat. Im Job ist das was anderes. Ich komme gerade von einem Vorstellungsgespräch, das völlig sinnlos war. Das war für einen Paket-Lieferservice. Um Aufträge anzunehmen, hätte ich ein Smartphone gebraucht, und zwar ein eigenes. Da war ich direkt raus. Ich finde es krass, wie selbstverständlich Leute davon ausgehen, dass man so ein Teil besitzt.

Was wollt ihr mit der Radikalen Anti Smartphone Front erreichen?
Benno: Wir wollen eine Diskussion anschieben, unter Freunden und Bekannten, aber auch in der Öffentlichkeit. 10.000 Flyer haben wir bisher gedruckt und überall in Berlin verteilt. Mit zehn Leuten haben wir mal so eine Art Pub-Crawl gemacht: rein in die Kneipe, Flyer verteilt, weiter zur nächste Kneipe. Keiner soll sein Smartphone in den Müll schmeißen. Aber die Leute sollen nachdenken, ob es beim Kneipenabend tatsächlich auf dem Tisch liegen muss. Das schadet sicher nicht. Wir merken bei solchen Aktionen: Es gibt einen riesigen Redebedarf. Jeder hat was dazu zu sagen. Und viele fühlen sich auch provoziert. Als würde man etwas völlig Abwegiges verlangen.
Wenzel: Durch solche Aktionen wollen wir einfach Menschen erreichen, wir wollen analog viral gehen. Und das funktioniert. Wir haben deutschlandweit Unterstützer, in Hamburg, Dresden und Karlsruhe. Aber auch aus Luxemburg oder einem kleinen Ort in Niederösterreich. Wir sind ein soziales Netzwerk, ohne ein soziales Netzwerk zu sein.

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Das kann man auf eurer Homepage nachlesen. Ist das nicht inkonsequent?
Benno: Nein, wir sind ja keine Internet-Gegner. Wir wollen nur nicht, dass Leute ihr Smartphone wichtiger finden als ihre Freunde. Anfangs hatten wir auch eine Facebook-Seite, aber das war uns dann doch zu widersprüchlich, die haben wir wieder gelöscht. Ich habe mein Facebook-Profil vor Kurzem auch gelöscht, und schon vor zwei Jahren habe ich meinen Laptop rausgeschmissen. Früher hatte ich eine Liste mit Dingen, die ich gerne machen möchte: mehr lesen, eine neue Sprache lernen, mich öfter mit Freunden treffen. Jetzt mache ich diese Dinge.

Welche Tipps habt ihr, um den Smartphone-Gebrauch runterzuschrauben?
Benno: Das ist so wie mit allen anderen Dingen, die süchtig machen. Du willst aufhören zu rauchen? Dann nimm dir vor, die erste Zigarette erst um 18 Uhr zu rauchen. Geh ohne Smartphone einkaufen, triff dich ohne Smartphone auf ein Bier mit Freunden, gucke nur alle zwei Stunden drauf – solche Dinge eben.

Warum ist das Leben ohne Smartphone besser?
Wenzel: Heute ist es doch so: Menschen inszenieren Momente, drapieren Dinge für das perfekte Instagram-Foto. Ist es nicht viel besser, einen Moment zu leben, statt ihn zu inszenieren?

Foto: RASF

Vielleicht ist es mit dem Smartphone ja so wie mit einem schicken Paar Schuhe: Sie machen was her, aber nicht, ohne zu drücken. Und nach einer gewissen Zeit sind sie ausgelatscht. Und dann merkt man: Barfuß kann man besser laufen.

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