Ich war dabei, als Techno in China „atmen“ lernte
Mitten in der Blumenvorstadt der Metropole Chengdu fand das erste Aus-atmen Festival statt. Alle Fotos von der Autorin.

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Ich war dabei, als Techno in China „atmen“ lernte

Xiang Xiang und Su entdeckten in Berlin Techno. Mit ihrer Freundin Kristen bringen sie die Musik nun in verträumte chinesische Gartensiedlungen.

Google Maps ist in China nicht dein Freund. Wenn es mal funktioniert, dann meistens nur halbrichtig—Faustregel: Das eigentliche Ziel liegt 500 Meter weiter nach links oder nach rechts. Und so stolpern wir halb in drei Pool- und Familienfeiern mit bereits am Nachmittag fröhlich-betrunkenen Menschen in Sonntagskleidern oder mit Dreads. Weder die Taxifahrer noch die Besucher der Gartenanlage wollen so recht etwas von unserem gesuchten Festival wissen. Doch wir folgen weiter den Bässen, bis sie nicht mehr falsch klingen.

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Wir sind in der „Flower Town" der Metropole Chengdu. Und wir sind auf der Suche nach einem Festival namens „Aus-atmen". Von Freunden hatte ich davon erfahren, der deutsche Name machte mich neugierig. Seit Wochen im trocken-heißen Peking gestrandet, sehnte mich nach frischer Luft, Natur und Bergen. All das versprach ein Trip in die Provinz Sichuan, in der sich auch Chengdu befindet. Die „Freie Stadt" nannte sie Tutu, ein chinesischer Freund. Von Kommerz hatte in Peking ich bisher genug gesehen—ein Undergroundfestival organisiert von ein paar Frauen kam mir sehr entgegen.

Seit zwei Jahren legen Su und Xiang Xiang alias atmen auf und veranstalten Techno-Partys. Für ihr erstes Aus-atmen Festival sind sie dem grauen Smogschleier der Großstadt entflohen, haben sich nach Dongli Guangchang abgesetzt. Das Venue ist so groß wie ein Freibad mit zwei Becken—eins für die Großen und ein kleines mit offener Stage. Neben den zwei Bambusbühnen gibt es kleine Essensstände, eine Bar und ein weißes Tipi, indem ich mich wieder finde.

Vielleicht mag es an dem subtropischen Klima liegen, doch die Leute in Chengdu sind wirklich so entspannt, wie es mir erzählt wurde. Nur dass sie faul sind, würde ich jederzeit bestreiten. Die 15 Millionen-Stadt liegt in der Mitte von China, ist Tor für Tibetreisende und circa zwölf Flugstunden entfernt von Berlin. Trotzdem fühlt es sich nicht so weit an: Ich sitze in diesem Tipi, auf einem Festival mit deutschem Namen und es läuft Techno. Oxia mit seinem zehn Jahre alten Track: Domino.

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Im Hintergrund klopfen die Bässe, doch es gibt erst was zu essen. Mao Cai—Bohnen, Fleisch und Reis aus runden Pappschüsseln, Gin Tonic aus Plastikbechern. Neben mir sind Su, Xiang Xiang und Kristen. Vor Sonnenuntergang trifft sich hier die atmen-Crew—DJs, Visuals, Freunde und Helfer. Sie haben über dreißig Leute zusammengebracht, um ihr DIY-Festival aufzuziehen. Leute, die elektronische Musik lieben, sich als Teil einer Szene begreifen.

Die Mitorganisatorinnen Xiang Xiang (Mitte) und Kristen im Gespräch mit einem Freund. Su ist als DJ weiter unten zu sehen.

„Ich habe einst angefangen, auf Deep House-Tracks zu tanzen", sagt Su. Doch als sie nach Berlin kam, lief Techno. „Ich war damals in der Wilden Renate. In dieser Nacht spielte ein DJ aus Japan. Ich habe für Stunden getanzt—so eine Erfahrung habe ich in China nie davor gemacht. Es war wie eine Zeremonie, wie eine Meditation zu Musik", erinnert sie sich an ihre erste Begegnung mit Techno. Durch Freunde machte sie Bekanntschaft mit der Berliner Feierszene. Nach ihren Deutschlanderfahrungen kündigt Su ihren Job. Eröffnet mit Freunden den Club „Tag" und gründet mit Xiang Xiang ein Label. Die beiden fangen an, zu produzieren.

„Wir teilen ähnliche Ansichten über die Welt und Musik", findet Su. Vor vier Jahren haben sie sich gefunden, das war auf einer Party. Seit dem transportieren die Freundinnen das, was ihnen gefällt, was sie in Europa kennengelernt haben, in ihre Heimatstadt. „Musik ist mein Leben, meine Arbeit", sagt Xiang Xiang. „Vor fünf Jahren habe ich in Bernburg, einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt studiert". An den Wochenenden ist sie nach Berlin gefahren. Xiang Xiang wirkt schüchtern, was weniger zu ihrer Erscheinung passt: Sie ist schlank, fast zierlich. Ihr Pony fällt fast bis über die Augenlieder und auf ihrer Handfläche tanzt ein tätowiertes Einhorn.

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Techno ist in China zwar beliebt, doch was abends aus den meisten Boxen auf öffentlichen Plätzen schallt, klingt mehr nach Autoscooter als Berghain. Seit dem Beginn der grausamen Kulturrevolution vor 50 Jahren hat sich das Land massiv verändert. Das durchschnittliche Einkommen hat sich seit der Öffnung in den 80ern mehr als verzehnfacht. Damit kann sich etwa ein Viertel der Chinesen einen Lebensstil leisten, der dem Westlichen fast gleich kommt. „Viele Leute lassen sich vom gesellschaftlichen und ökonomischen Mainstream lenken. Vieles ist auf Entertainment zugespitzt", sagt Su. In die Unterhaltungsindustrie wird investiert, dennoch ist die elektronische Musikindustrie in China noch nicht so weit entwickelt.* „Was uns pusht, weiter zu machen, ist die Leidenschaft zur Musik und auch die Verantwortung."

Manman-lai", nennt Kristen diese Haltung, take your time. Sie ist vor drei Jahren nach China gezogen. Ihre Stimme klingt unter den dreien immer am lautesten. Langsam kommt Techno nach Chengdu, für die, die sich auch für Musik interessieren und nicht nur für billige Drinks. „Viele Frauen machen hier Events, legen auf", das sei anders als im Rest des Landes. „In Chengdu werden Frauen respektiert. Hier heißt es nicht: Oh, heute ist Ladys Night". Es ist egal, wer die Events macht, Hauptsache sie sind gut, fügt sie hinzu. Kiwese, wie sich die chinesischstämmige Neuseeländerin nennt, mischt seit zwei Jahren als Promoterin, Musikerin und Bloggerin mit. Mit 25 Jahren ist sie das jüngste atmen-Mitglied.

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Zwei Besucher lassen Luftballons und eine Drone steigen

Über der Bühnen baumeln dreieckige Plastikballons, die sich über die Tanzfläche ziehen. Luftkissen auf dem Boden, Heliumluftballons in den Händen. Das Line-up ist gemischt, die meisten Acts stammen oder leben jedoch in Chengdu, so wie der DJ Chamberlain oder sein marokkanischer Kollege Bchir. Ein paar Residents aus dem Tag-Club sind auch dabei.

Der erste Besuch der Freunde und Helfer in Schwarz (der Farbe der örtlichen Polizeiuniformen) bleibt folgenlos. Und die Zeit verfliegt zwischen Drinks, halbphilosophischen Gesprächen und Tanzen, bis sich die drei Frauen auf der Bühne zum atmen-Live-Set zusammenstellen. Xiang Xiang an den Synthesizern, Su am Mac, Kristen steuert experimentelle Gitarreneffekte bei 125 bpm bei. Zweihundert Leute unter freiem Himmel. Technokids und Anwohner, laowai (Ausländer) und Chinesen. Dazwischen schwirrt eine weiße Drohne über uns, die zwei Jungs mitgebracht haben.

Danach spielen Su und Xiang Xiang solo. Jedoch keinen Marek-Hemmann-Mädchen-House, sie stehen vielmehr auf cleanen Techno—basslastige, schnelle und maschinelle Beats wie die von Abdullah Rashim. Dunkel gefärbte Klangcollagen bauen sich bei ihren Sets auf, durchdringender Bass taktet die Bewegungen, Störgeräusche schleichen sich darunter und lösen sich wieder. Sie fordern ein tiefes Ein- und langsames Aus-atmen.

Ein ganz neues Phänomen sind Elektropartys im Reich der Mitte nicht. Laut der Dokumentation „Minimal China" gab es den ersten bekannten Rave 1997 auf der Großen Mauer. Doch auch wenn die Großstadtclubs derartige Partys am Wochenende anbieten, bleibt Techno hier vorerst Rand- und Subkulturmusik. In den gesellschaftlichen Rahmen passt er bisher nicht. Wenngleich am Abend eigentümlicherweise Omas an jeder Ecke zu Pop bis Schranz tänzeln, um beim öffentlichen Platztanz Körper und Geist fit zu halten: Von der neuen Mittelschicht werden beide Szenen skeptisch betrachtet.

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Das Festival hielt die Besucherinnen bis zum nächsten Nachmittag warm

Mit „the sound of Berlin and Amsterdam" labeln Clubs hier ihre Veranstaltungen. Europa als progressive Protestnische zu sehen, verwundert zuerst. Doch von der Freiheit unzählige Nächte vertanzt zu haben, statt in einem autoritären System aufzuwachsen, das sich zwar wirtschaftlich öffnet, doch seine Bevölkerung genauso gerne vor westlichen Einflüssen bewahren möchte, können manche nur träumen.

Der einsetzende strömende Regen stört die Frauen so sehr wie ein Fußbad. Ein paar, die dann doch keine nassen Füße mögen, brechen ihre Zelte ab. Doch unter Regenschirmen und Planen wird weiter getanzt. Brennende Tonnen heizen die Stimmung bis in den Morgen an. Ein Teil der „Freien Stadt" meditiert zum Rhythmus der Musik.

„Ich mag den Vibe von Berlin, doch Chengdu hat seinen eigenen Charakter", sagt Su. Ihre Stadt nennen sie „Chamsterdam", sie lachen dabei. Chengdu hat den Vorzug, nicht so sehr im Fokus der Behörden zu stehen wie Peking, wo die nationale Verwaltung sitzt, oder das Expat-Shanghai. Beide Städte haben bereits die 20-Millionen-Einwohnermarke überschritten. Die Berlin-Einflüsse sind zu spüren, doch eine Szene kann man nicht exportieren, sie entsteht. Und diese Szene gibt es hier, sie ist bereits entstanden, auch wenn sie überschaubar sein mag.

Nach dem letzten Besuch der Ordnungshüter setzt die Tipimusik gegen zwei Uhr nachmittags aus. Uber-Taxis rollen über die noch nasse, geteerte Straße an hinter Zäunen versteckten Gartenvillen und -Häuschen vorbei. Sie lassen schwingende Körper und Blumen zurück, verschwinden im Grau der Straßen. Ein warmes Gefühl bleibt noch für ein paar Stunden, bis es wieder verschwindet.

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*Ein lesenswertes Blog über chinesische Subkultur heißt pangbianr.com.

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