Könnte ein Rapper jemals den Literaturnobelpreis bekommen?

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Könnte ein Rapper jemals den Literaturnobelpreis bekommen?

Zwischen Bob Dylan und Nicki Minaj, Kendrick oder Eminem liegen doch auch nicht gerade Welten, oder?

Foto: Imago

Als Bob Dylan letztes Jahr mit dem Literaturnobelpreis geehrt wurde, ging es im Internet drunter und drüber. Dabei kursierte bereits seit 1996 fast jährlich das Gerücht, dass Dylan in der engeren Auswahl des Komitees steht, was viele jedoch als Wunschdenken abtaten. Sara Danius, die Vorsitzende des Auswahlgremiums der Schwedischen Akademie, verteidigte die Auszeichnung des Musikers und verglich Dylan mit Sappho und Homer. Poesie und Musik seien früher Eins gewesen – überhaupt gehen die homerischen und sapphischen Gesänge dem Konzept der Literatur voran. Sie wurden erst schriftlich festgehalten, nachdem sie lange genug als mündliche Überlieferung überdauert hatten.

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Aus heutiger Perspektive betrachtet, stammt Dylans Werk aus einer anderen Zeit, in der es noch Vinyl und gedruckte Zeitungen gab. Trotzdem sind die Bemühungen zur Kanonisierung seines Schaffens keineswegs neu. In seinem 2003 erschienen Buch Dylan's Visions Of Sin hält Autor Christopher Ricks ein feuriges Plädoyer dafür, Dylans Songtexte auf eine Stufe mit dem Werk des britischen Dichters John Keats zu stellen. Die Inklusion ausgewählter Dylan-Texte in der Norton Anthology of Poetry und dem Oxford Book of American Poetry haben ihm zusammen mit der Publikation seiner kompletten Lyrics einen festen Platz in den Englisch-Fakultäten dieser Welt verschafft.

Im Rap haben wir eine ähnliche Entwicklung gesehen. Black Noise von Tricia Rose, erschienen 1994, und die Norton Anthology of African American Literature von 1998 holten Rap von den Straßen und Konzerthallen aufs Papier. Darüberhinaus ist das Genre seit den 90ern ein fester Forschungsgegenstand der African-American Studies und bereits 1988 verkündigte der Popkulturtheoretiker und Cultural Studies Dozent Lawrence Grossberg dass Rap durch und durch postmodern sei. In seinem Aufsatz "Putting the Pop Back into Postmodernism", argumentierte er, dass Rap neben anderen Dingen durch seine laute und prahlerische Selbstversicherung einer Existenz unterhalb der Machtstrukturen, die ihr das Dasein erschweren, letzten Endes postmodern sei.

Für Dr. Andrew Warnes, Dozent für amerikanische Literatur an der Leeds University, der Postgraduiertenseminare zu Public Enemys Fear Of A Black Planet gibt, fangen Rap und die afro-amerikanische Literaturtradition gleichermaßen das Wesen des schwarzen Lebens in Amerika ein. "Die afro-amerikanische Kulturtradition ist oftmals im Ausdruck einer menschlichen Identität verwurzelt, die sich in einer denkbar schlechten Ausgangslage befindet. Genau so geht es der afroamerikanische Kultur oft", sagt er mir. "Die Künstler behaupten darin nicht nur ihr Recht zu existieren, sondern auch ihr Recht auf Gefühle und Emotionen angesichts weitreichender rassistischer Unterdrückung. Wenn ich das auf einem allgemeinen kulturellen Ethos destillieren müsste, würde ich sagen, dass es etwas mit Überleben und einem Beharren auf Menschlichkeit zu tun hat. Ich glaube, du kannst das im Blues hören, in den Texten von Richard Wright, bei Langston Hughes und auch im HipHop."

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Nun zum Preis selbst. Alfred Nobels Testament zufolge soll der Preis an die Person gehen, "die in der Literatur das Herausragendste in idealistischer Richtung produziert hat." Auch wenn diese Definition in den letzten hundert Jahren durchaus offen für Interpretationen war, werden es Yung Thug, Lil Wayne und Drizzy in diesem Leben wohl nicht mehr in die engere Auswahl schaffen. Ihre unpolitische Nabelschau wird unter den Akademikern, die im HipHop nach sozialem Idealismus suchen, eher wenig Anklang finden. Elleke Boehmer, Professorin für Weltliteratur und Nobelpreisexpertin an der Oxford University, sagt: "Von Zeit zu Zeit überrascht uns das Nobel-Komitee, aber üblicherweise verleihen sie den Preis an jemanden, der nicht nur als wichtiger Schriftsteller, sondern auch für seinen Stil oder die Kohärenz seiner Prosa anerkannt ist. Der Preis wird auch an Autoren verliehen, deren Visionen politisch in einen bestimmten Moment passen. Tatsächlich sind die Auswahlkriterien nicht so weit von denen des Friedensnobelpreises entfernt."

Als Produkt und wohl einflussreichster Akteur bei der Erschaffung des Literaturkanons kührt das Nobelpreis-Komitee manchmal auch unbekanntere Autorinnen wie Svetlana Alexievitch 2015 und rückt sie so ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Aber überhaupt ist die ganze Sache mit dem "Kanon" ziemlich tricky. Kanons sind unglaublich vielschichtig und werden über Generationen hinweg von denjenigen geprägt, die am meisten Zugang dazu haben. Über Jahrhunderte hinweg waren das im globalen Norden gebildete weiße Männer europäischer Abstammung, die mindestens aus der Mittelschicht stammten. Die Auszeichnung des nigerianischen Schriftstellers Wole Soyinka 1986 brachte erstmals die afrikanische Literatur ins Rampenlicht. Der heißgehandelte Anwärter Ngugi Wa Thiong'o aus Kenia ist in den letzten Jahren allerdings immer wieder leer ausgegangen. Darüberhinaus hatte zwischen Dylan und Toni Morrison, der 1993 geehrt wurde, kein einzigen amerikanischen Schriftsteller den prestigeträchtigen Preis gewonnen. Dieser Umstand verleitete sogar einige dazu, dem Komitee Anti-Amerikanismus vorzuwerfen. Der damalige Ständige Sekretär der Schwedischen Akademie, Horace Engdahl, konterte 2008 mit einer Reihe von Generalisierungen über die amerikanischen Literatur. Für afro-amerikanische Musiker stehen die Chancen also denkbar schlecht.

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Rap steht sich aber vielleicht auch selbst im Weg. Auch die idealistischsten Künstler dürften Probleme haben, ihre weitreichende Begriffspalette zu rechtfertigen, die selten ohne homophobe, frauenfeindliche und rassistische Schimpfworte auskommt. Eminems ausgiebiger Gebrauch der Beleidigung "faggot" ist fast schon legendär und nicht alle sind vom sorglosen Umgang mit dem Wort "nigga" im Post-NWA-Zeitalter begeistert. "I Don't Wanna Be Called Yo Nigga" von Public Enemy war eine Absage gegen den schamlosen Gebrauch des Worts und 2014 veröffentlichte Swiss von der So Solid Crew einen Track, in dem er vor der Mainstream-Verwendung des Begriffs "nigger" angesichts seiner schrecklichen, historischen Vergangenheit warnt (ein Move, den Akala unterstützte). Neben diesem komplexen semantischen Disput gibt es noch eine andere Debatte um Frauenfeindlichkeit und ob diese ein Teil der Sprache des Genres geworden ist. Kendrick Lamar repräsentiert wie kein anderer Rapper den Zeitgeist der Obama-Ära. Seine Alben verleiten immer wieder zu tiefgreifenden Interpretationsversuchen und seine Lyrics wurden zu Schlachtrufen für die Proteste gegen Polizeigewalt an Schwarzen in den USA. Nichtsdestotrotz dürfte K.Dot mit Obszönitäten wie "Bitch Don't Kill My Vibe" für manche Mitglieder des Nobelpreiskomitees problematisch werden.

Wenn man es allerdings den Arbeiten vorangegangener Gewinner gegenüberstellt, erscheint Lamars Werk dann doch ziemlich harmlos. Ein flüchtiger Blick auf die Liste der Preisträger offenbart ein paar umstrittene Kandidaten: Rudyard Kiplings Gedicht The White Man's Burden ist ein chauvinistischer Aufruf zu den Waffen für den weißen Imperialismus; William Faulkner wollte, dass die De-Segregation lieber "langsam" ablauft, und um potentiell antisemitische Elemente im Werk von T.S. Eliot streitet man sich noch heute. Von weißen Westen oder Makellosigkeit kann hier keine Rede sein. Und auch wenn die Sprache des HipHop oft vor den Kopf stößt, so hat sie auch die Macht, Kritiker zum Schweigen zu bringen, die den Literaturnobelpreis einen aufgeblasenen, zweiten Friedensnobelpreis nennen.

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"Sollte der Preisträger immer eine artige und höfliche Figur sein?", fragt Warnes von der Leeds University. "Die Antwort lautet ganz klar: Nein. Es muss sich um eine ziemlich umstrittene Figur handeln, damit sie überhaupt so wichtig werden kann. Wenn bloß die sprachliche Unzüchtigkeit des HipHop-Texters als Problem postuliert wird, das den Rapper für den Preis disqualifiziert, würde ich das nicht unterstützen. Damit würde man die Vorstellung fördern, dass die Preisträger alles artige und makellose Personen sind. Sollte das der Fall sein, verliert es seine Leidenschaft für die Literatur selbst. Literatur funktioniert so nicht."

Die größte Hürde im Wettlauf um die begehrte Auszeichnung ist für Rap am Ende wohl, dass das Genre noch relativ jung ist. Bob Dylan führte schließlich schon die Charts an, bevor es das Genre überhaupt aus den New Yorker Bezirken herausgeschafft hatte. "Wenn es tatsächlich der Fall wäre", sagt Professorin Boehmer, "dass ein Rap-Künstler auf ein Gesamtwerk zurückblicken kann, das sich über vier oder fünf Jahrzehnte erstreckt und das diese Genialität, Brillanz oder soziale Schärfe in dieser Zeit auch beibehalten hat, dann könnte ich mir durchaus vorstellen, dass ein Rapper mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wird. Meiner Meinung nach sind wir allerdings noch lange nicht so weit. Ich wüsste gerade auch niemanden, der dem entsprechen würde." Sie stimmt allerdings zu, dass Rap und Poesie aneinander sehr ähnlich sind. "Viel Poesie stammt aus einer Lied- und Folktradition. Besonders interessant ist an diesen Traditionen, wie Reime die Bedeutungen miteinander verbinden oder uns dabei helfen, das Gedicht oder Lied im Kopf zu behalten. Rap-Texter bewegen sich ebenfalls in dieser Tradition."

Eine Ehrung mit dem Nobelpreis stellt aber auch die HipHop-Kultur vor Probleme. Da, wo Dylans Balladen wie "Boots of Spanish Leather" fast perfekt in das gängige jambische Versmaß passen, wie es anschaulich in Wordsworth und Colerdiges Lyrical Ballads zu sehen ist, sind die Flows im Rap natürlich an die Beats gebunden. "Wenn du diese Wörter einfach so auf einer Seite abdruckst, geht etwas verloren", sagt Warnes. "Präsentiert als Poesie ist das Werk auf seinen starren Zustand reduziert. Aber es ist keine Poesie, es ist tanzbare Lyrik. Wenn du darauf bestehst, dass ein HipHop-Texter als Dichter gelesen wird, dann impliziert das doch, dass er kein HipHop-Texter sondern ein Dichter ist. Die beiden Dinge schließen sich gegenseitig aus."

Theoretisch könnte Rap den Nobelpreis also gewinnen. Chuck D, Ice Cube, Rakim, Kendrick, Killer Mike, Kano, Mike Skinner, Little Simz und unzählige andere bewegen sich alle auf dem etablierten Pfad in diese vermeintlich "ideale Richtung". Es wird aber wahrscheinlich noch Jahrzehnte dauern, bevor einer von ihnen überhaupt in Erwägung gezogen wird. Und würde eine Würdigung durch das ehrbare Komitee überhaupt etwas zählen? Videos von Demonstranten, die Kendricks "Alright" bei einem Protest gegen Polizeigewalt rufen oder Anti-Trump-Demonstranten, die "T5" von den Swet Shop Boys singen, entsprechen dem wahren Spirit des Rap doch eigentlich viel mehr als ein skandinavisches Festessen mit Medaillenvergabe. Anstatt sich zu fragen, wie HipHop besser in die Nobelpreis-Welt passen könnte, wäre es vielleicht besser, zu überlegen, wie die Nobelpreis-Welt etwas mehr HipHop werden könnte. Ya feel me?

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