Ich war für einen Tag wieder in meiner alten Schule

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Ich war für einen Tag wieder in meiner alten Schule

Meine letzte Mathestunde ist nun 10 Jahre her und ich kann mit Sicherheit sagen: Nein, den Sinus- und den Kosinussatz habe ich bis heute noch immer nicht im Alltag gebraucht.

Seitdem ich mit der Schule fertig und Teil der arbeitenden Bevölkerung bin, beziehungsweise versuche, die Uni noch irgendwie neben der Arbeit abzuschließen, denke ich manchmal darüber nach, wie vergleichsweise schön man es in der Schule eigentlich hatte. OK, man musste zu einer verdammt unchristlichen Zeit aufstehen, aber im Grunde verbrachte man den ganzen Tag mit seinen Freunden und kam nachmittags pünktlich zur täglichen Malcolm Mittendrin-Session nach Hause und ließ sich einfach ins Bett fallen. Hausübungen zu machen und zu lernen wurde mehr oder weniger erfolgreich auf später verschoben.

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Heute steht hingegen kein warmes, mit Liebe zubereitetes Essen mehr am Tisch, wenn ich am Abend nach Hause komme. Und darüber, wie oft ich meine Freunde sehe, will ich gar nicht nachdenken. Das Arbeitspensum hat sich auf der Uni deutlich verstärkt. Na gut, man muss vielleicht nicht mehr für lästige Matheschularbeiten lernen, sich aber dafür die Systemtheorie von Niklas Luhmann ins Hirn dreschen. Nach den ersten Prüfungen auf der Uni weiß man, dass der Stoff einer Schularbeit oder sogar der Matura, im Gegensatz zu dem einer Uni-Prüfung, ein absolutes Kinderspiel war.

Hat man sich dann erst einmal daran gewöhnt, dass man mit den Uni-Professoren nicht unbedingt über die Menge des Stoffs streiten kann, denkt man schon gerne an die Schulzeit zurück, in der nur das zum Test kam, das seit der letzten Leistungsüberprüfung durchgearbeitet wurde. Und nicht nur der Lernstoff war klar vorgegeben, sondern auch der Alltag war unheimlich durchstrukturiert. Heute müssen wir hingegen alles selbst organisieren und uns auf eigene Faust darum kümmern, zu halbwegs funktionierenden Wesen zu werden.

Um herauszufinden, ob früher wirklich alles besser war oder ob die nostalgische Erinnerung an unsere Schulzeit nichts als verklärter Blödsinn ist, habe ich beschlossen, einen Tag in meine alte Schule zurück zu kehren.

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Um den Tag auch wirklich so zu verbringen, wie damals vor neun Jahren, als ich das letzte Mal in die Schule fuhr, bemühe ich mich auch an diesem Montag, zu spät zu kommen. Ich starte mein Experiment um 7:40 Uhr am Schulparkplatz, wobei ich eigentlich schon in der Klasse sitzen müsste. Ich gehe also mit den letzten Zuspätkommern in Richtung des Eingangs meiner alten Schule, der Bakip in Hartberg. Mittlerweile hat sie einen anderen Namen – Bafeb, Bildungsanstalt für Elementarpädagogik. Dass die Schule mittlerweile einen völlig anderen Namen hat, lässt mich innerlich um neun weitere Jahre altern.

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Normalerweise würde ich auf dem Weg noch meine morgendliche Zigarette fertig rauchen und mich total badass fühlen, vor dem Eingang warten, bis der Typ, auf den ich seit Monaten stehe, endlich vorbeigeht und mit meinen Klassenkolleginnen das Wochenende nachbesprechen, an dem wir mal wieder viel zu viel Malibu Orange getrunken hatten.

Als ich die Aula des Bundesschulzentrums betrete, klingelt es gerade – ich hatte ganz vergessen, wie das ist. Die braunen Fliesen und die niedrigen Decken wirken erdrückend und es riecht noch immer gleich: eine Mischung aus abgestandener Luft mit Teenie-Schweiß, Putzmittel und irgendwie ein bisschen modrig. Falls ich jemals bei einer Neuauflage von Wetten, dass…? mitmache und dort absurde Gerüche erkennen muss – den meiner alten Schule würde ich aus 1000 anderen erkennen. Mein ehemaliger Pädagogiklehrer erwartet mich bereits und er sieht noch immer gleich aus: rote Löckchen, Converse, Thermoskanne in der Hand und die Lederschultasche voller Schularbeitenhefte. Er erinnerte mich immer ein wenig an Frodo, den er auch bei der Mitternachtseinlage eines Maturaballs außerordentlich gut dargestellt hat. Ich bin Sam und begleite ihn nach Mordor.

Ein Bankfach zu haben war früher das Wichtigste.

Als ich mit einem Deutschlehrer, den ich nicht kenne, die 4C betrete, stehen die 25 Mädchen auf. Ein kollektives und unmotiviertes "Guten Morgen" erklingt – eben so, wie es sich gehört. Ich setze mich neben Teresa in die letzte Reihe. Während ich mich der Klasse vorstelle, spiele ich mit meinen Händen im Bankfach herum. Ein Bankfach zu haben war früher das Wichtigste. Das Handy, die Schummelzettel, die verschimmelte Jause von vor drei Wochen und überhaupt das halbe Leben konnte hier verstaut werden. Damals konnte ich übrigens SMS ohne hinzusehen unter dem Bankfach schreiben. Ich erinnere mich an das kleine Universum, das meine Schulfreundinnen und ich auf den Tischen errichtet hatten und mir fällt ein, dass wir sogar einen Mini-Mistkübel hatten, weil wir zu faul waren, unseren Müll im großen Papierkorb der Klasse zu entsorgen.

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Ein paar Minuten später schaue ich bereits das erste Mal auf die Wanduhr. Die Schülerinnen erwarten gespannt das Ergebnis ihrer Textinterpretation, die sie zur Hausübung hatten. Den Text hatten die Schülerinnen dem Deutschlehrer per E-Mail geschickt und ich fühle mich wieder alt. Zu meiner Zeit schrieben wir noch mit Füllfeder auf die linierten Einlageblätter (mit Rand!). Ich will mir gar nicht ausmalen, wie viel Zeit die Lehrer damals damit verschwendeten, unsere Sauklauen zu entziffern.

Es klingelt. Die beiden Kaffees vom Morgen wollen raus. Trotz der Renovierung der Waschräume riecht es auch hier noch immer gleich, nämlich unangenehm – nach Urin und altem Dachboden. Als ich die Papierhandtücher in den Mistkübel werfe, fällt mir ein, wie wir vor einer Matheschularbeit die Übungshefte unter dem Papiermistkübel versteckten. Nach der Schularbeit waren sie plötzlich verschwunden. Ob es meine Mathelehrerin war, wissen wir bis heute nicht.

Wortlos geht sie an mir vorbei, als sie in der zweiten Stunde die Klasse betritt und ich habe Angst, dass sie die Übungshefte vielleicht doch gefunden hat. Ihre Methoden, um den Schülerinnen den Sinus- und den Kosinussatz einzutrichtern, haben sich bis heute nicht geändert. Ich würde gerne laut "Und ich hatte Recht, das habe ich bis heute nicht gebraucht!" rufen, aber ich halte mich zurück. Zum einen, weil ich meine Mathelehrerin eigentlich ganz süß finde und zum anderen, weil sie nichts dafür kann, dass Sinus- Kosinussatz im Lehrplan steht.

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Meine Sitznachbarin holt plötzlich einen riesigen Taschenrechner aus ihrem Rucksack. Und wenn ich riesig sage, meine ich es auch. Teresa erklärt mir, man könne in den Rechner die Formeln eingeben und erspare sich so den Rechenvorgang – soweit ich es verstanden habe. Ich bin kurz traurig, weil man dieses immense Teil aus der Zukunft sicher gut nutzen kann, um zu schummeln, aber eine Schülerin zerschmettert die Utopie: "Schummeln kann man eh nicht damit, weil der einen Schularbeitenmodus hat". OK.

Meine Blicke kreuzen sich bereits mehrfach mit denen meiner Mathelehrerin. Ich bin mir nicht sicher, ob es ein gutes oder schlechtes Zeichen ist, dass sie noch nicht mit mir geredet hat. Malt sie sich gerade aus, wie sie sich für die Hefte unter dem Mistkübel an mir rächen wird? Sie muss mich doch erkennen, schließlich saß ich damals die meiste Zeit ganz vorne am Seitentischchen des Overheadprojektors, um ihr und der Tafel so nah wie möglich zu sein und so die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, irgendetwas zu verstehen. Und zurückhaltend war ich auch nicht wirklich. Als ein Mädchen rausplatzt: "Frau R., haben Sie nicht gesehen, dass wir heute Besuch haben?", beginnen wir dann doch miteinander zu reden. Sie erinnere sich noch genau an mich und es fühle sich so an, als wäre ich nie weg gewesen, meint sie. Ob das gut oder schlecht ist, weiß ich nicht so ganz.

Große Pause. Ich war schon vor neun Jahren zu faul, mir morgens ein Brot zu schmieren und gab den Rest meines Taschengeldes immer für Essen aus – sofern vom Malibu-Exzess vom Wochenende noch was übrig war. Auf das "kleine Baguette" freue ich mich, seit ich beschlossen habe, diesen Artikel zu schreiben. Nichts hat sich an dem Baguette geändert, es ist ein schinkenbelegter Traum aus Weißmehl mit Mayonnaise.

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Als ich gemeinsam mit Teresa durch die Schulaula gehe, bemerke ich, dass sich über die Jahre nicht nur mein Kontostand verbessert hat, sondern auch mein Selbstbewusstsein. Damals machte ich mir Gedanken darüber, wen ich möglicherweise am Buffet antreffen könnte – schließlich konnte ich mich an Situationen, in denen ich Leuten auf einer Party meine halbe Lebensgeschichte erzählt habe, nur bruchstückhaft erinnern und überhaupt war mir einfach alles unangenehm. Heute spaziere ich einfach durch die Aula, ohne mich vor lauter Unsicherheit an meine beste Freundin klammern zu wollen.

Ich beschließe, meine ehemalige Werklehrerin zu besuchen. Frau G. erinnert sich ebenfalls noch genau an mich. Mittlerweile wirkt ja das Stricken sehr entspannend auf mich – fast schon meditativ. In der Schulzeit war die Stricknadel die Inkarnation des Bösen. In Wirklichkeit habe ich die ganze Stunde nur so getan, als würde ich die Maschen nacheinander abarbeiten und übergab das ganze Ding dann meiner Oma, die mir so zu Bestnoten verhalf.

Nach der Werkstunde spaziere ich zurück in die 4C – Pädagogik steht am Stundenplan. Mit dem Lehrer, Frodo, konnte man immer Witze reißen und er wollte nicht, dass Schülerinnen aufstehen, wenn er reinkommt oder aufzeigen, wenn sie etwas zu sagen haben. Pädagogik war nicht nur deswegen immer eines meiner Lieblingsfächer. Herr R. erklärt den Utilitarismus, fragt mich was, ich scheitere kläglich.

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Es ist nun 14 Uhr und mein Körper schmerzt vor Müdigkeit. Ich spreche innerlich ein Dankbarkeitsgebet an mein Uni-Leben und an die Redaktion, die mich täglich erst um 9 Uhr erwartet und merke langsam, dass mich das frühe Aufstehen ziemlich fordert. Ich schleppe mich zur letzten Stunde in den Keller des Gebäudes – Flötenunterricht. Die schrillenden Töne der Sopranflöte wecken mich ein wenig aus meinem Koma, aber die Augen brennen immer noch. Das war auch damals schon so. Verflucht sei der, der sich ausgedacht hat, dass Schule früh anfangen muss.

Was mich in meiner Schulzeit jeden Tag zum Aufstehen motivierte, war die Gewissheit, am Nachmittag ein Nickerchen machen zu können.

Der Tag verging trotz mehrmalig sinnlosem Auf-die-Wanduhr-Starren ziemlich schnell. Im Grunde hat sich nicht viel verändert – neue Lehrer an der Schule, neue Möbel und ein renoviertes Schulklo schwächen keineswegs das Gefühl von Vertrautheit mit dem Ort, an dem ich den Großteil meiner Teenagerzeit verbracht habe. Um 15 Uhr verlasse ich die Schule. Diesmal wirklich. Ich kann nicht sagen, dass ich wehmütig bin, denn trotz der Erinnerungen an Klapphandys, gelbe Reklamhefte und Schummelzettel bin ich froh, nicht jeden Tag acht Stunden mit Fächern verbringen zu müssen, die jeder einzelne Lehrer als das Wichtigste überhaupt ansieht.

Und vor allem muss ich nie wieder um 4 Uhr aufzustehen, um zu lernen, weil Grey's Anatomy gestern so spannend war und sich das Kurzzeitgedächtnis alles eh viel besser merkt. Ich weiß jetzt meinen Uni- und Arbeitsalltag mehr zu schätzen als vor meinem Besuch in meiner alten Schule und erinnere mich während der Autofahrt an die weisen Worte meiner Oma: "Man ist nie mit dem zufrieden, was man hat". Während meiner intensiven Studienzeit dachte ich daran, wie toll es wohl wäre, zu arbeiten. Als ich dann einen 40-Stunden-Job hatte, fiel mir plötzlich auf, wie schön es war, statt der Vorlesung mit Studienkolleginnen frühstücken zu gehen.

Und auch wenn man durch das Studium oder die Arbeit mehr Verantwortung trägt, ist es schön, Pause machen zu können, ohne auf die Klingel warten zu müssen und einfach von der Vorlesung aufzustehen, wenn man will. Ich hatte ganz vergessen, dass es einen guten Grund dafür gab, dass ich damals bei der Maturafeier laut "Nie mehr Schule" gegrölt habe – nämlich Freiheit.

Was mich in meiner Schulzeit jeden Tag zum Aufstehen motivierte, war die Gewissheit, am Nachmittag ein Nickerchen machen zu können. Um dieser Gewohnheit Tribut zu zollen, begebe ich mich zurück in mein ungemachtes Bett, nachdem ich mir das Mittagessen aufgewärmt habe und bin froh, nach meinem Nap keine Hausübung machen zu müssen.

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