Zu Besuch bei Tasmania Berlin, dem schlechtesten Bundesligisten der Geschichte

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Berlin

Zu Besuch bei Tasmania Berlin, dem schlechtesten Bundesligisten der Geschichte

Tasmania Berlin gilt als Inbegriff jeder ultimativen Grottensaison. Dabei hat der Verein in nur einem Jahr Bundesliga mehr als nur einen kuriosen Negativrekord aufgestellt. Unvergessen ist nicht nur der historische Zuschauerschwund.

Vor 51 Jahren ging für eine kleine Mannschaft aus Berlin ein nie zu träumen gewagter Traum in Erfüllung. Ein Traum, der sich schon nach kurzer Zeit als Albtraum entpuppen sollte. Die Rede ist von Tasmania 1900 Berlin, dem schlechtesten Verein der Bundesliga-Geschichte.

Wir schreiben das Jahr 1965 und der einzige Berliner Vertreter in der noch jungen westdeutschen Bundesliga, Hertha BSC, wurde der Bilanzfälschung überführt und aus der Liga geschmissen. 1965, das war auch und vor allem die Zeit des Kalten Krieges. Und auch wenn es von offizieller Seite niemand zugeben wollte: Gemäß der Logik des Kalten Krieges war es ausgeschlossen, dass Westberlin—Insel der Freiheit mitten in der unfreien Sowjetischen Besatzungszone—mit keinem Verein in der höchsten deutschen Spielklasse vertreten ist.

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So kam es, dass der Regionalligist Tasmania 1900 Berlin gefühlt von einem Tag auf den anderen als Hertha-Ersatz in der höchsten deutschen Spielklasse angekommen war. Dabei war man in seiner Regionalliga-Staffel hinter Tennis Borussia Berlin und dem Spandauer SV nur Dritter geworden (die Regionalliga war damals die zweithöchste Spielklasse). Doch TeBe war bereits in der Aufstiegsrunde gescheitert und Spandau verzichtete auf die Aufstiegschance. Bei Tasmania ließ man sich nicht zweimal bitten. Doch es gab ein Problem: Bis zum Saisonstart waren es nur noch zwei Wochen.

Die endgültige Entscheidung, Tasmania in die erste Liga zu hieven, wurde mitten im Sommer getroffen. Viele der Spieler waren zu dem Zeitpunkt im Urlaub—und deswegen gar nicht in Berlin. Der Mannschaftskapitän, Hans-Günther Becker, verbrachte gerade ein paar Tage an der Ostsee. Er hörte durch Zufall gerade Deutschlandfunk, als der Sprecher plötzlich—mit ernster und fast schon martialischer Stimme—verkündete: „Achtung, Spieler von Tasmania 1900. Begeben Sie sich umgehend nach Berlin." Und erst nach einer Pause: „bitte".

„Natürlich habe ich sofort meine Koffer gepackt und bin nach Hause gefahren", erinnert sich Becker. Wie die meisten seiner Mitspieler. Den Defensivspieler Helmut Fiebach informierte die Polizei auf einem Campingplatz in den österreichischen Bergen. Andere verließen fluchtartig ihre Urlaubsquartiere an den Stränden Spaniens und Italiens.

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In der kurzen Zeit bis zum Saisonstart konnte die Klubführung nur einen namhaften Spieler nach Berlin lotsen, Horst Szymaniak. Der 30-Jährige war der Starspieler der italienischen Mannschaft FC Varese und Nationalspieler der BRD.

„Ehrlich gesagt", gesteht der ehemalige Spielführer Becker, „wussten wir von Anfang an, dass wir keine Chance haben würden". Was nicht bedeutete, dass sie es nicht versucht hätten: „Wir hatten alle Lust auf dieses Abenteuer. Trotzdem habe ich allen gesagt: ‚Vielleicht wäre es besser, wenn wir den DFB in einem Brief um ein Jahr Aufschub bitten würden, so dass wir in Ruhe trainieren können'". Dieser Brief wurde am Ende nie geschrieben. Stattdessen baten die Spieler ihre Arbeitgeber um verkürzte Arbeitszeiten, um sich dem Fußball ernsthaft widmen zu können. Denn damals waren alle Spieler von Tasmania Amateure.

Becker, der in Berlin als Beamter arbeitete, hatte das Glück, einen sehr verständnisvollen Menschen als Chef zu haben. „Ich meinte zu ihm: ‚Chef, ab heute arbeite ich nur noch in Teilzeit, ok? Aber ich bin mir sicher, dass ich in acht Monaten wieder als Ganztagskraft zurückkommen werde'". Sein Chef willigte ein, und als sein Mitarbeiter dann nach acht Monaten tatsächlich wieder ganztags die Arbeit aufnahm, zeigte sich sein Chef sogar noch dankbar. „Ich freue mich, Sie wieder hier zu haben, Becker. Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen könnte".

Auf der steinernen Stehtribüne im Werner-Seelenbinder-Sportpark in Neukölln erzählt mir Ulrich Timm mit reichlich Nostalgie in der Stimme von den „guten alten Zeiten" mit Becker, Fiebach, Szymaniak und Co. Timm ist 66 Jahre alt und berentet. Schon Ende der 50er-Jahre war er Tasmania-Fan und erlebte die goldene Zeit seiner Mannschaft, als man die blöde Hertha noch schlagen konnte. In der Zeit krönte man sich gleich mehrfach zum Berliner Meister und Pokalsieger.

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Doch als Jugendlicher musste er dann mitansehen, wie sein geliebtes Team zum Gespött einer ganzen Nation wurde.

Fast so wie in der griechischen Mythologie kam Tasmania der Sonne zu nah und stürzte ab. Das eine Jahr in der Bundesliga—trotz des miserablen Abschneidens—veranlasste die Vereinsführung dazu, bei der finanziellen Planung einen Wiederaufstieg einzukalkulieren. Ein Aufstieg, der jedoch nie Wirklichkeit werden sollte. So kam es, dass der Verein 1973 mehr als 800.000 DM Schulden hatte. Tasmania 1900 meldete erst Insolvenz an und verschwand dann vollständig von der Bildfläche.

Timm gehörte zu jenen Fans, die sich für eine Neugründung des Vereins stark machten. So entstand am 3. Februar 1973 der SV Tasmania 73 Neukölln. „Uns gefällt das Bild des Underdogs", erzählt er mir. Das ist auch besser so, schließlich spielt seine Mannschaft in der Berlin-Liga—und ist damit nur sechsklassig. Trotz aller Rückschläge in den letzten Jahrzehnten verpasst Timm kein Heimspiel. „Jeder, der hier herkommt, weiß um unsere Geschichte. Es ist eine Geschichte gespickt mit viel Leid, aber sie gehört eben auch zum Verein dazu."

Zum Verein gehört auch die Verachtung für Hertha BSC, den mittlerweile uneinholbaren alten Lokalrivalen, den fast alle Tasmania-Fans einfach nur „seelenlos" finden. Die Verachtung hat auch historische Gründe. Als die Bundesliga 1962 gegründet wurde, fiel die Wahl auf Hertha BSC und eben nicht auf Tasmania—eine Entscheidung, gegen die Tasmania rechtlich vorging, letzten Endes aber den Kürzeren zog.

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Während mir Timm sein Herz öffnet, schallt von der Tribüne der Schlachtruf „Tasmaa-nia, Tasmaa-nia, TasMAA-NIAA, FAN-TAS-TI-CAA", gesungen mit der Melodie der italienischen Nationalmannschaft.

„Wir bedanken uns bei 78 Zuschauern, die auch heute wieder zum Spiel unserer Mannschaft erschienen sind", erfahren wir aus den Lautsprechern. Leider wurde die 100 wieder nicht geknackt. Doch was Zuschauerschwund betrifft, damit kennt man sich bei der Tasmania bestens aus. Vor allem während ihrer Bundesliga-Saison erlebte der Verein einen Zuschauerrückgang, der genauso rekordverdächtig ist wie die sportlichen Leistungen auf dem Platz in jenem Jahr.

Während beim ersten Heimspiel gegen den Karlsruher SC noch über 80.000 Zuschauer die Tasmania sehen wollten, waren es am Ende der Grottenspielzeit weniger als 10.000 Männeken. Dabei begann alles so gut für den großen Underdog aus Berlin. Denn den KSC konnte man im Auftaktspiel mit 2:0 besiegen. Es sollte einer von nur zwei Siegen in 34 Saisonspielen bleiben.

So kam es, dass der Verein in nur einer Saison eine unglaubliche Anzahl von Negativrekorden aufstellte, darunter den letzten Platz in der Ewigen Bundesliga-Tabelle, die schlechteste Saisonbilanz der Bundesliga, die wenigste Tore (15), die meisten Gegentore (108), die wenigsten Punkte (auch nach der Drei-Punkte-Regel), die wenigsten Siege (zusammen mit dem Wuppertaler SV aus der Saison 1974/75), die meisten Niederlagen (28) und das Bundesliga-Spiel mit den wenigsten Zuschauern. Denn am 15. Januar 1966 wollten gerade einmal 827 Zuschauern das Spiel gegen Borussia Mönchengladbach sehen. Innerhalb einer Saison von über 80.000 Zuschauern auf weniger als 1.000—das verrät, wie tief der Frust bei der Anhängerschaft gesessen haben muss.

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„Je länger die Saison voranschritt", erinnert sich der damalige Stürmer Jürgen Wähling, „desto qualvoller wurde es, einer von den elf Spielern auf dem Platz zu sein". Das damalige Regelwerk sah noch keine Auswechslungen vor, weswegen die 90 Minuten vor allem für Abwehr und Torwart zu einem regelrechten Spießrutenlauf wurden.

„Relativ schnell verlor ich die Freude am Fußballspielen", erinnert sich der damalige Torhüter Hans-Joachim Posinski. Den (immer weniger werdenden) Zuschauern ging es nicht viel anders. Ohne eine gehörige Portion Galgenhumor konnte man sich die Spiele seiner Tasmania nicht antun. Als am 30. April 1966 Heinz Rohloff, der zweite Torwart, zum dritten Mal im Spiel gegen Eintracht Frankfurt den Ball aus seinem Tor fischen musste, wurde auf den Tribünen ein riesiger Blumenstrauß mit Trauerflor gezeigt. Und nach den Blumen wurde ein Plakat mir der Zahl 100 hochgehalten. Das dritte Gegentor gegen die Eintracht bedeutete nämlich das 100. Gegentor der Saison.

Doch Ulrich Trimm zeigt sich trotzig. „Klar hat uns dieses eine Jahr in der Bundesliga zerstört. Andererseits hat es uns auch unsterblich gemacht".

Zumindest rein statistisch betrachtet hat es Timm perfekt auf den Punkt gebracht. Denn seine Tasmania ist der schlechteste Verein der Bundesligageschichte und wird es mit sehr, sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch für immer bleiben.