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Warum der FC Liverpool die Nachbarschaft rund um Anfield verkommen ließ

Die Idee, ein neues Anfield zu bauen, war schon idiotisch. Dreist war allerdings die Entscheidung, dafür ein ganzes Viertel vor die Hunde gehen zu lassen.
Foto: Imago

Wenn große Sportvereine ein neues Stadion wollen, gehen sie fast immer gleich vor: Zuerst verkündet der Klub seine Pläne, gibt dann ein paar Stadionentwürfe in Auftrag und zahlt schließlich für eine Studie über die wirtschaftlichen Folgen eines neuen Stadions, wobei natürlich unterm Strich stehen muss, dass die neue Spielstätte ein wahrer Segen für den Standort wäre. Allerdings ist es so: Manche Vereine schrecken auch nicht davor zurück, die Gegend rund um das gewünschte Bauland solange verkommen zu lassen, bis sich die (scheinbaren) Vorteile aus einem Stadionneubau auch dem letzten Skeptiker erschließen.

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Im vergangenen Jahr gehörten dem FC Liverpool 150 Gebäude rund um sein legendäres Stadion an der Anfield Road. Und die befanden sich, gelinde gesagt, nicht gerade in einem guten Zustand. Kein Wunder also, dass fast alle von ihnen leer standen. „Dort wurde sogar schon das Blei von den Dächern gestohlen", erzählte Chris Coyle, dessen Mutter Mieterin in einer der Wohnanlagen ist, im Gespräch mit Liverpool Echo. Doch das war nur die Spitze des Eisbergs: Denn wie der Guardian berichtete, haben Unbekannte in den letzten zehn Jahren mehrere der heruntergekommenen Häuser angezündet und die wenigen verbliebenen Mieter mit Ziegelsteinen beworfen. 2001 wurde dort sogar eine Hausbesetzerin getötet. Und hört man Graham Jones, einem der betroffenen Anwohner, zu, wird schnell klar, dass aus seiner Sicht die Vorfälle der letzten Jahre dem FC Liverpool sehr zupass kamen: „Was hier passiert ist, ist doch Verfall mit Ansage". Den Reds wird nämlich von vielen Seiten vorgeworfen, Grundstücke rund um die Anfield Road aus nur einem einzigen Grund erworben zu haben: um sie absichtlich verfallen zu lassen. So könnte man nämlich die Grundstückspreise nach unten treiben, viele Anwohner zum Auszug bewegen und letztendlich die Kosten für einen Stadionneubau erheblich senken.

Laut dem Guardian hat der FC Liverpool sein erstes Grundstück 1996 an der Lothair Road—gleich neben dem Stadion—gekauft. Im Anschluss daran haben die Reds Dutzende weitere Häuser in der näheren Umgebung aufgekauft. Als dann die Gegend zunehmend den Bach runterging (sogar für Liverpooler Bedingungen in der Nach-Thatcher-Ära), waren mehr und mehr Anwohner bereit, ihre Grundstücke zu veräußern—was dem FC Liverpool wiederum ermöglicht hat, über verschiedene Tochtergesellschaften eine große Zahl an Grundstücken günstig aufzukaufen.

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In den USA gibt es ein umfangreiches Enteignungsgesetz, das dem Staat erlaubt, Privateigentum gegen eine Entschädigung zu Marktpreisen zu entziehen und dieses an Unternehmen—unter dem Vorwand wirtschaftlicher Entwicklung—weiterzuverkaufen. Von diesem Enteignungsrecht wird gelegentlich bei Stadionbauprojekten Gebrauch gemacht. Ein besonders kontrovers diskutierter Fall in diesem Zusammenhang war der Bau des Barclays Center im New Yorker Stadtteil Brooklyn, dem ein neunjähriger Gerichtsmarathon—sowie eine Zwangsumsiedlung von Tausenden Anwohnern—vorausging.

Im Gegensatz dazu sind die Möglichkeiten der Enteignung in Großbritannien deutlich beschränkter, was dazu führt, dass der Bauträger selbst als Käufer auftreten muss—und zudem den üblichen Marktmechanismen unterliegt. Diese Tatsache kann jedoch für die Käufer extrem teuer werden—umso mehr, sobald die Anwohner von den Plänen eines finanzstarken Unternehmens Wind bekommen. Aus diesem Grund halten manche Käufer nach anderen Möglichkeiten Ausschau, die Transaktion still und leise—und vor allem kostengünstig—über die Bühne zu bringen. Nur führt genau eine solche Entscheidung bisweilen zu Zuständen, die einen fast schon wünschen lassen, die Regierung hätte die Anwohner lieber gleich selbst—und auf geordnetem Wege—enteignet. Wie eben in Liverpool, wo ganze Straßenzüge im Namen eines teuren Bauprojekts dem Verfall preisgegeben wurden.

Heruntergekommene Häuser auf der Lothair Road. Foto von Alan Murray-Rust via geograph.org.uk

Während man die Häuser mehr und mehr verfallen ließ, bemühte man sich zur gleichen Zeit eifrig darum, ein neues Stadion zu bauen—und scheiterte dabei spektakulär. Nachdem das erste Bauprojekt im Jahr 2000 relativ schnell im Sande verlief, verkündeten die Reds drei Jahre später ein neues Vorhaben: Im Stanley Park, also gleich neben der Anfield Road, sollte die neue Spielstätte des FC Liverpool errichtet werden. Die Planer rechneten damit, dass das erste Match im neuen Stadion schon 2006 ausgetragen werden könne (was nicht passiert ist). Bis Februar 2007 fand jedoch nicht mal der erste Spatenstich statt, weswegen die neuen Besitzer Tom Hicks und George Gillett versprachen, dass man mit dem Stadionbau innerhalb der nächsten 60 Tage beginnen werde (was nicht passiert ist). Hicks' genaue Absichten waren relativ undurchsichtig, hatte er doch Anfang 2000 beim brasilianischen Traditionsverein Corinthians eine ganz ähnliche Strategie gefahren und Stadt und Fans den Bau eines neues Stadions versprochen (was nicht passiert ist).

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Doch zurück in den Westen Englands. Dort ließ man—Überraschung—die angekündigte 60-Tages-Frist fruchtlos verstreichen. Dafür gab der Verein im Juli desselben Jahren einen neuen Bauplan bekannt: Pünktlich zum Saisonbeginn 2010 sollte im Stanley Park für insgesamt 300 Millionen Pfund ein neues Stadion fertiggestellt werden (was nicht passiert ist). Doch schon im Oktober wurden die geplanten Kosten auf 400 Millionen Pfund nach oben revidiert (die Schuld dafür sah Hicks in Chinas unersättlicher Nachfrage nach Stahl). Im Januar 2008 war mal wieder Zeit für die Verkündung eines neuen—und, so versprachen die Reds, auch kostengünstigeren—Bauprojekts, das bis zur Saison 2012/2013 abgeschlossen werden sollte (was nicht passiert ist). Als schon jedermann wusste, dass auch dieser Termin nicht eingehalten werden würde, betonte Hicks—mit typisch texanischer Bescheidenheit und ganz ohne Trotz—dennoch: „Sie werden sehen: Wir werden den Mistkäfer noch bauen" (was nicht passiert ist). Im Dezember 2009 erklärte dann ein Reds-Offizieller der Liverpooler Stadtverwaltung, dass man spätestens bis April 2010 mit dem Bau des neuen Stadions beginnen werde (ihr wisst schon, was jetzt kommt).

Als Hicks und Gillett schließlich einsehen mussten, dass auch diese Frist nicht eingehalten werden könne—gepaart mit der Tatsache, dass ihr glückloses Unterfangen in Liverpool den beiden einen riesigen Schuldenberg beschert hatte—warfen sie das Handtuch und boten den Klub zum Verkauf an (ironischerweise genau in dem Monat, als—mal wieder—der Stadionbau beginnen sollte). John Henry und die Fenway Sports Group (FSG) haben den Klub dann im Oktober 2010 übernommen und dem FC Liverpool zur Abwechslung eine ganz neue Strategie verordnet: erst mal in Ruhe alle möglichen Stadionpläne durchgehen, bevor man großspurig mit Versprechen und einem fixen Eröffnungsdatum an die Presse geht.

Zwei Jahre nach Übernahme des Vereins erklärte die FSG, man beabsichtige, im altehrwürdigen Stadion an der Anfield Road zu bleiben. Anstatt ein neues Stadion zu bauen, sollte jetzt das alte umgebaut werden. Diese Entscheidung kam alles andere als überraschend, nachdem Henry bereits in mehreren Interviews zum Ausdruck gebracht hatte, wie kompliziert sich doch die private Finanzierung eines neuen Stadions in der Regel gestalte. Außerdem hatte man auch schon den erfolgreichen Umbau vom Fenway Park—der Spielstätte der Boston Red Sox, die ebenfalls zum FSG-Portfolio gehören—zu Buche stehen. Kurze Zeit später gab die Stadt Liverpool bekannt, dass sie einige verfallene Häuserblocks, die den Reds gehörten, abreißen lassen würde. Bereits im letzten Sommer wurden Gebäude an der Lothair Road—also dort, wo der FC Liverpool anno 1996 die ersten Immobilien erworben hatte—niedergerissen. Und Ende September 2014 hat dann auch die Stadt Liverpool den Plänen der Reds, das Stadion an der Anfield Road zu renovieren, endlich zugestimmt.

Es wäre vermutlich zu viel der Schmeichelei, wenn man dem FC Liverpool zutrauen würde, dass hinter all dieser erstaunlichen und fast schon slapstickreifen Inkompetenz, die über viele Jahre und unter Mitwirkung von drei verschiedenen Eigentümergruppen an den Tag gelegt wurde, ein perfider und perfekt ausgefeilter Plan stecken würde. Stattdessen spricht vieles dafür, dass der geplante Umbau des Stadions nicht wegen, sondern trotz der Bemühungen seiner vorherigen Eigentümer immer konkretere Formen annimmt. Andererseits macht es für die betroffenen Anwohner keinen Unterschied, ob nun hanebüchene Fehlplanung oder kaufmännisches Kalkül dahintersteckte: Fest steht, dass viele Mieter dabei zusehen mussten, wie ihre Häuser mehr und mehr verfielen, obwohl der Eigentümer ein millionenschwerer Fußballclub ist.

Es steht also außer Frage: Der FC Liverpool hätte die Situation besser handhaben können bzw. müssen. Sei es nun durch eine faire Entschädigung der Anwohner—mehreren Berichten zufolge haben die Reds wiederholt versucht, die größtenteils langjährigen Mieter übers Ohr zu hauen—oder indem man verhindert hätte, dass die Nachbarschaft erst gar nicht den Bach runtergeht. Doch der größte Vorwurf, den man Liverpool machen kann, ist wohl der, dass man äußerst unaufrichtig war und sich die Dienste von Drittmaklern gesichert hat, um die wahren Ziele des Klubs zu verdecken. In diesem Zusammenhang meinte ein Anwohner der Lothair Road in einem Interview mit dem Guardian im vergangenen Jahr: „Wäre Liverpool von Anfang an ehrlich gewesen und hätte uns gesagt, dass sie das Land, auf dem unsere Häuser stehen, für ein neues Stadion brauchen, wären wir wohl realistisch geblieben. Wir hätten gesagt, OK, das ist ein riesiger Fußballklub, von dem die meisten von uns große Fans sind, also werden wir schon einen Deal aushandeln können. Stattdessen waren sie hinterhältig und haben am Ende die ganze Gegend verkommen lassen, in der wir dann noch viele Jahre leben mussten." Ob sich die Nachbarschaft rund um das Stadion an der Anfield Road wirklich so einsichtig gezeigt hätte, sei mal dahingestellt. Der Punkt ist vielmehr, dass sich die Klubverantwortlichen nie die Mühe gemacht haben, genau das herauszufinden.

Einer der Hauptgründe dafür, dass Liverpool sein Stadion ausbauen muss, liegt darin, dass der Verein finanziell nicht den Anschluss zu den Spitzenklubs im In- und Ausland verlieren will. Der FC Arsenal hat beispielsweise mit seinem neuen Stadion in Nordlondon schon eine ganze Menge Geld verdienen können. Doch ein Streben nach globaler Präsenz hat seinen Preis—und den müssen oft die bezahlen, die dem Klub am nächsten stehen. So sehr sich auch der FC Liverpool darum bemüht, als enge Gemeinschaft von eingefleischten Anhängern rüberzukommen, sieht die Realität doch vielmehr so aus, dass der Klub—auf dem Rücken seiner treuesten Fans—eine knallharte internationale Ausrichtung verfolgt. Und jetzt, nachdem man seinen engsten Nachbarn fast 20 Jahre lang übel mitgespielt hat, schickt sich der FC Liverpool anscheinend an, seiner eigenen Hütte neuen Glanz zu verleihen.