Anarchie-Gastronomie in Kopenhagen
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Anarchie-Gastronomie in Kopenhagen

Die Freistadt Christiania in Kopenhagen ist einer der größten Touristenattraktionen der Stadt und für seine selbstgebauten Häuser, Nutzräder, Weed-Stände und Polizeirazzien bekannt. Es ist ein Paradies für Hippies und Vegetarier, wo „Traumkuchen" und...

Die Freistadt Christiania in Kopenhagen ist eine unverwüstliche Bastion des Hippielebens, ein Dorn im Auge der Politiker und ein Ort, wie es sonst keinen gibt. Der ehemalige Militärstützpunkt —der 1971 besetzt und zur autonomen Enklave innerhalb der Stadt erklärt wurde—ist eine von Kopenhagens größten Touristenattraktionen. Besonders bekannt ist die Freistadt für ihre selbstgebauten Häuser, die Nutzräder, die Weed-Stände, die Polizeirazzien und die permanenten Bemühungen, den Ort zu „normalisieren", was einer Sisyphosarbeit gleichkommt. Christiana ist aber auch für sein Essen, seine glorreiche vegetarische Küche, drømmekage, belegte Brote in Kneipen und für Falafel um 3 Uhr morgens bekannt.

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sunshinebakery

Alle Fotos von Lousy Auber

Sunshine Bakery „Plundergebäck war für mich neu", sagt Bijaya. „Ich habe ja schließlich nur braunen Reis gegessen." Er zog vor 20 Jahren von Nepal nach Kopenhagen und begann, in der Sunshine Bakery auf der Pusher Street, der Weed-Straße Christianias, zu arbeiten. Die Bäckerei gibt es seit Mitte der 70er-Jahre und hat seither durchgehend geöffnet, 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche. Links und rechts davon befinden sich Stände mit vorgerollten Joints und Blöcke Haschisch. Bijaya und seine Freunde aus Nepal betreiben den Laden. Das Sortiment ist trotzdem klassisch dänisch, es gibt beispielsweise snegl (Schnecke), ein zimtiges, schneckenförmiges Gebäck, das außen perfekt knusprig und in der Mitte lecker zuckrig und buttrig ist. Dann gibt es noch romkugler (Rumkugeln) aus Überresten von Gebäck, die zu einer klebrigen Masse mit Marmelade, Rum und Kakaopulver vermischt werden; und drømmekage (Traumkuchen), ein Biskuitkuchen mit Kokonuss- und Karamelltopping, der wieder seine ursprüngliche Form annimmt, nachdem du mit dem Finger reingestochert hast (mmh…). Das spülten wir alles mit einer Dose Sun Cola ohne Kohlensäure (versuch einfach mal, eine Dose Cola auf der Küchenanrichte eine Woche stehen zu lassen, sollte ähnlich schmecken) und einer warmen Cocio-Schokoladenmilch hinunter. Viele Einheimische kommen auf eine günstige Tasse Kaffee vorbei (5 kr oder 70 Cent), aber manche Touristen haben größere Ambitionen. „Es gibt viele Leute—manchmal bis zu 100 pro Tag—die hereinkommen und nach Magic Cookies oder Space Cakes fragen", sagt Bijaya. „Wir verkaufen nichts mit Haschisch. Ich sage dann immer zu ihnen, ‚Esst zuerst ein paar Hash Cookies und kommt danach wieder, dann könnt ihr unsere Cookies essen.'"

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Morgenstedet Die hellblaue Farbe und das Friedenszeichen auf der Ziegelmauer verblassen zwar langsam, aber im Morgenstedet (das trotz des irreführenden Namens erst zu Mittag öffnet) gibt es vielleicht das beste vegetarische Essen in ganz Kopenhagen. Der Kürbis-Erdnuss-Eintopf mit einer feurigen Cayennepfeffer-Note wird mit braunem Reis und einem Salat aus Romanesco, Karotten und Sesam serviert. Als Beilage gibt es eine großzügige Portion leichter, cremiger Hummus und einen leckeren Salat mit Kokosnuss, Apfel und roter Bete. Das Essen, das zu 95 Prozent aus biologischen Produkten besteht, wird auf einem uralten Herd zubereitet und direkt über die Theke gereicht. Die Kunden helfen mit, indem sie die Teller selbst abräumen.

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Die Leute, die dort arbeiten, beschreiben Morgenstedet als einen „vegetarischen Dinner Club", der von einem Kollektiv betrieben wird, das von einem Konsens geleitet wird. „Unser Fokus ist nicht nur ein finanzieller", sagt Philipp, der uns bedient. „Wir wollen vegetarisches Essen bekannter machen. Es sind viele Leute in dieses Projekt involviert, die mit Leidenschaft dahinter stehen." Die Parkbänke im Hof sind ideal, wenn es das Wetter zulässt oder du kannst es dir drinnen neben den Bücherregalen gemütlich machen, wo Magazine nach Kategorien sortiert sind: Gesellschaft & Politik, Umwelt & Ökologie, Essen & Gesundheit. Manche Einheimische stoßen sich an den Preisen, aber ein Hauptgericht mit Salat für 100kr (13,50 Euro) ist im Vergleich zur Außenwelt relativ preiswert.

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Geöffnet Dienstag bis Sonntag, 12:00 bis 21:00 Uhr

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Grønsagen Als der Laden vor über 40 Jahren das erste Mal eröffnete, wurden Rohbenzin, Salz-Hering und Suppen verkauft. Heute ist Grønsagen Christianias grüner Lebensmittelmarkt mit Mittagsbuffet, wo du zwischen Regalen mit Bio-Produkten von unabhängigen Bauern dein Essen verspeist. Die Auswahl am Buffet ist weniger grün, als der Name vielleicht vermuten lassen würde: Es gibt Lasagne, Fleischbällchen und geschmorte Gerichte. An einem kalten Novembermorgen gab es auch skipperlabskovs, ein herzhafter nordeuropäischer Eintopf der Fischer mit geschmortem Kalbfleisch, Zwiebeln, Kartoffeln und einem Namen, der nach einem betrunkenen Kinderreim klingt.

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Dieses Gericht und die perfekt gewürzten Fleischbällchen sind der Inbegriff der rustikalen dänischen Küche. „Salz, Pfeffer und fein gehackte Zwiebeln sind die wichtigsten Zutaten für die Fleischbällchen", sagt Kenn, ein Künstler und Bierbrauer, der im Grønsagen kocht. „Und für's Anbraten brauchst du reichlich Butter." Die Preise errechnen sich nach Gewicht (30kr/4 Euro pro 200g), montags wird Abendessen serviert (75 kr/10 Euro) und freitags gibt es gelegentlich eine Flamenco- oder Japan-Motto-Party. Durch die Lage in der Nähe der Pusher Street zieht das Restaurant ein vielfältiges Publikum aus Einheimischen und Touristen an. Sogar an ruhigeren Tagen erfreut sich Kenn am menschlichen Soundtrack. „Wenn nur ein paar Leute am Essen sind, dann höre ich gerne ihrem zufriedenen Grunzen und dem Schmatzen ihrer Lippen zu. Das ist das größte Kompliment, das ein Koch bekommen kann."

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Täglich geöffnet

Christiania

Woodstock Wenn du der alten Militärkaserne am Mittag einen Besuch abstattest, erwartet dich eine große Rauchwolke, Marvin Gaye aus der Stereoanlage und Kunden, die nicht den Anschein machen, das Lokal überhaupt irgendwann wieder verlassen zu wollen. Woodstock ist Christianias urtypische Bar, ein charmant draufgängerisches Lokal, dass sich nicht einmal Tarantino erträumen können hätte. Die Betrunkenen und Benebelten müssen sich irgendwo stärken, also gibt es im Woodstock ab 9:00 Uhr Frühstück. Ab Mittag werden die klassischen belegten Brote serviert. Ein Typ mit einem schwarzen Filzhut und goldenen Ketten versuchte mit einem Stück Roggenbrot mit Schweinebauch wegzurennen, als der Barkeeper ihn auf frischer Tat ertappte.

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Wir bezahlten (15kr/2 Euro) und setzten uns draußen auf den Bänken hin, während unsere Nachbarn einen Joint rollten. Die Auswahl an smørrebrød war eine bewährte Kombination: Roggenbrot mit Schweinebauch, rohen Zwiebeln und einem großen Stück gelierte Suppenbrühe. Nur ein Schwachkopf würde nach der Herkunft des Schweins oder des leicht lädierten Salatblatts fragen, dass lahm über der Butter lag, aber insgesamt war das Sandwich fettig, knusprig und lecker. Christiania hat sein eigenes Bier, aber wir entschieden uns für ein Super Nova (20kr/2,70 Euro), ein Pilsner, das an IPA erinnert und von unserem Freund Kenn aus dem Grønsagen gebraut wurde. Die hopfige Intensität und Frische beschreibt die Marke als „kosmisch".

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Täglich von 09:00 bis 17:00 Uhr geöffnet

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Falafel Wir waren hier schon einmal und unsere Behauptung, dieser Stand habe die besten Falafel in ganz Kopenhagen, sorgte für eine hitzige Debatte. Das ist das Schöne an Falafel-Diskussionen—deinen Favoriten anzufeuern ist wie wenn du dich in ein Forum für Mütter einloggst und schreibst, alle anderen Kinder sind fette Kotzbrocken. Wie auch immer, jedem das Seine. Wir sind immer noch hingerissen vom Charme dieses Stands, den es mittlerweile schon seit 32 Jahren gibt. Die Falafel werden in einem authentischen, gasbetriebenen Frittiertopf zubereitet. Die palästinensische Familie, die den Stand betreibt, hat ihr Rezept beibehalten—Kichererbsen, Zwiebeln, Knoblauch, Petersilie und die geheimen Gewürze, die sie nicht verraten wollen. Das Ergebnis sind kleine Falafelkissen in der Form von Raumschiffen, die außen knusprig und innen flaumig sind und wunderbar riechen. Das fertige Pita-Brot, die Saucen und der Salat sind nichts Besonderes, aber von mir aus könnten sie die Falafel auch auf einem trockenen Pumpernickelbrot servieren und ich fände sie immer noch lecker.

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Spiseloppen Wer braucht schon Restaurant-Fahrstuhlmusik, wenn die Doom Metal-Legenden Trouble einen Stock weiter unten ihren Soundcheck machen? Wir besuchten Christianias bestes Restaurant—in dem Helena Christensen scheinbar Stammkundin ist—und bekamen als Vorspeise einen drückenden Bass und verzerrte Gitarren. Es war köstlich. Spiseloppen, direkt über der Konzertlocation Loppen, befindet sich in einem Gebäude, in dem früher einmal ein Flohmarkt stattfand und in dem in der militärischen Vergangenheit Munition gelagert wurde. Die geräumige Lagerhalle mit den Holzlatten ist mit den Orange- und Brauntönen die perfekte Zeitkapsel aus den späten 70er-Jahren und die Tische sind mit Blumen und Kerzen gedeckt. Die meisten Einheimischen halten sich in der einen Hälfte des Raumes auf, wo die Tische rot mit den typischen grünen Punkten der Freistadt bemalt sind. Die Karte wechselt täglich und mit den französischen, indischen und dänischen Köchen, die an diesem Abend in der Küche standen, war das Ergebnis auf unserem Teller sichtlich ein diplomatischer Kompromiss: ein Papadam stecke aufrecht in einem Batzen Guacamole. Irgendwie witzig, aber irgendwie auch seltsam, weil es zu einem perfekt gebratenen Steak mit wilder Pilzsauce serviert wurde (250kr/32 Euro). Irgendwie würde es Sinn ergeben, die Inklusivität mal gut sein zu lassen und Gerichte wie dieses zu „normalisieren", aber vielleicht geht es ja genau um dieses verrückte Freestylen. Wenn du nämlich gerne hättest, dass Dinge irgendwelchen Konventionen entsprechen, dann hättest du vielleicht gar nicht erst durch das Eingangstor gehen dürfen, das dich in Christiania begrüßt und sich von dir verabschiedet, wenn du wieder zurück in die Europäische Union schreitest.

Geöffnet Dienstag bis Samstag, 17:00 - 22:00 Uhr, Sonntag 17:00 - 21:00 Uhr