Was mit einem Dorf passiert, in dem ein menschliches Bein gefunden wurde
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Crime

Was mit einem Dorf passiert, in dem ein menschliches Bein gefunden wurde

Die Bewohner wurden bis heute nicht offiziell von der Polizei informiert. Sie haben Angst – und machen Witze. Ein Besuch, sechs Wochen danach.

Es ist ein ungewöhnlich kühler Julitag. Hans Krättli hat sich einen Pullover angezogen und sieht zu, wie die Regentropfen in kleinen Bächen das Fenster entlang fliessen. Durch das vom Regen verschmierte Glas sieht er, wie grosse, weisse Kastenwagen der Polizei an der Kirche vorbeifahren, weiter am Gemeindehaus und bei der Metzgerei links abbiegen, die kurvenreiche Strasse hoch. Die Polizeiwagen fallen sofort auf im Ort, denn eigentlich passiert sonst nie was. Im 2.500 Seelendorf Untervaz verbringen junge Menschen ihre Wochenenden damit, im Dorfladen einige Dosen Bier zu kaufen und auf irgendeiner Parkbank oder dem Schulhof rumzuhängen.

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Auf dem Dorfplatz in Untervaz erzählt man sich allerlei Geschichten

Hans hat an diesem Samstag, dem 21. Juli, keine Zeit, darüber nachzudenken, wo die wohl hinwollen. Als Gemeindepräsident ist er ein gefragter Mann. Aber jetzt hat er vor allem Wochenende. So vergisst er auch den Vorfall vom Morgen, bis er am Montag in sein Büro ins Gemeindehaus geht. Die Betontreppen hoch, den hölzernen Gang entlang zu seinem Büro. Von nebenan hört er die Gespräche seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die ihn aufhorchen lassen. Körperteile im Wald gefunden? Kann das stimmen? Das hätte die Polizei doch sicher gemeldet. Hat sie aber nicht.

Hans Krättli hörte die Gerüchte über das Bein auch von seinen Mitarbeitern

Samstags am frühen Morgen, an ebendiesem verregneten Julitag, hatte eine Joggerin aus dem Ort in einem Waldstück oberhalb des Dorfes ein einzelnes menschliches Bein gefunden. Spaziergänger von der Strasse hatten die Frau bemerkt und kamen hinzu. Sie waren es wohl auch, die die Entdeckung bei der Polizei meldeten. Auf schnellstem Weg machte sich die Kantonspolizei Graubünden mit ihren Kastenwagen auf zum Fundort und nahm die Ermittlungen auf. Das war es, was Hans Krättli auch von seinem Fenster aus gesehen hatte. Aber im Dorf hatten die Bewohner auch zwei Tage später nichts davon erfahren.

Eine Spaziergängerin auf dem Weg Richtung Padnal

Auch am zweiten Montag nach dem Fund gab es von der Polizei zum Vorfall noch immer kein Update. Aber die Dorfgemeinschaft redet. In der darauffolgenden Woche schafft es die Nachricht bis in die 12 Kilometer entfernte Stadt Chur. Die Information, bis dato noch ein Gerücht, kommt auch einem Journalisten der Regionalzeitung Südostschweiz zu Ohren. Es ist unterdessen der 30. Juli, als dieser bei der Polizei anruft und nachfragt. Die Beamten bestätigen ihm: In Untervaz ist ein menschliches Bein gefunden worden.

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Er schreibt eine Meldung – die sich rasant in der gesamten Schweiz verbreitet.

Die Südostschweiz schreibt in ihrer Meldung lediglich, was auch von der Polizei bestätigt wurde. Die Boulevardpresse gräbt nach Details, Gerüchten und Geschichten:

Das Geschlecht der Person ist noch nicht bestimmt. Mehr kommuniziert die Polizei nicht.

Gegenüber 20 Minuten erklärt die Kantonspolizei: "Wenn beispielsweise jemand im Wald Suizid begeht, kommt es immer wieder vor, dass die Gebeine von Tieren verschleppt werden." Dass die Polizei aber niemanden von sich aus über diesen Fund informiert, macht Gemeindepräsident Hans Krättli stutzig. Sein erster Gedanke, als er die Meldung liest: Muss ich als Gemeindepräsident etwas unternehmen? Schon seit Tagen hört er die wildesten Theorien: über einen Mörder, der die Leiche loswerden wollte und die Teile verstreut hat oder über die alte Wolf-Problematik, die im Kanton Graubünden seit Ewigkeiten die Gemüter erhitzt. Es dämmert bereits, als er nochmal seinen Computer neu startet und "vermisste Personen Schweiz" in die Suchmaschine eintippt. Seine Recherche ergibt, dass in der Schweiz aktuell an die 40 Personen vermisst werden, darunter keine Vermisstenmeldung aus Untervaz. Er ist erleichtert. Zum ersten Mal an diesem Tag.


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Knapp drei Wochen vergehen, von Seiten der Polizei hört weder das Dorf noch die breite Öffentlichkeit etwas, auch nicht der Gemeindepräsident. Der Fall hat in seiner Absurdität aber die Aufmerksamkeit der Medien geweckt. So fragt die Regionaljournalistin Silvia Kessler für ihren Artikel im Bündner Tagblatt bei der zuständigen Stelle nach. Auch die Bündner Staatsanwaltschaft beschäftigt sich mittlerweile damit, von ihr erfährt sie, dass sich das Bein inzwischen beim Institut für Rechtsmedizin im Kantonsspital Chur befindet.

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Die Staatsanwaltschaft wolle informieren, sobald die Identität des Opfers sowie der Tathergang geklärt sind. Der Fall gebe auch dann nicht weniger Rätsel auf, wenn bekannt werde, ob es sich um ein Männer- oder Frauenbein handelt, meint die Staatsanwaltschaft. Weitere Informationen würden nur Nährboden für mehr Spekulationen bilden. Da kennt die Staatsanwaltschaft aber die Dynamik kleiner Dörfer nicht.

Hans Krättli zeigt, wo die ungefähre Fundstelle des Beins ist

Unterdessen nehmen im Dorf die Spekulationen fast schon fantastische Ausmasse an, gerade weil es keine Informationen gibt, die man dagegen halten könnte. "Dass die Polizei nicht informiert, ist doch komisch. Wenn man ein Bein findet, sieht man schnell, ob es einer Dame oder einem Mann gehört", sagt eine Anwohnerin Anfang August. Nicole jätet Unkraut in ihrem Garten, der mit Blumen und Gartenzwergen fast überquillt.

Obwohl sie selten im Dorf verkehrt, hat sie von der Geschichte natürlich längst gehört. Vielleicht wolle die Polizei im Dorf keine Unruhe machen, überlegt sie. Dafür sei es aber schon zu spät. "Ich kann es mir nicht erklären. Vielleicht ist jemand unter eine Lawine gekommen, oder ein Tier hat das Bein von einer Leiche abgekaut und herumgetragen. In Landquart, dem nächstgelegenen grossen Ort, hat mir eine Verkäuferin gesagt, dass es sogar einen Beitrag bei Aktenzeichen XY über den Fall geben soll."

Nicole hat von einer Kassiererin vom Ort nebenan gehört, dass der Fall bei 'Aktenzeichen XY' behandelt werden soll

"Na, ich gehe sicher nicht mehr im Wald spazieren", sagt Karin, die neben Nicoles Haus gerade die Strasse entlang geht. Seit 34 Jahren wohnt sie im Ort, aber so etwas hätte es noch nie gegeben. Zügig geht sie weiter Richtung Kirche, vor sich schiebt sie einen vollen Einkaufstrolley mit einem Muster von rosa Blumen im Aquarell-Stil. "Als ich darüber in der Zeitung gelesen habe, dachte ich mir: ‘Na, das ist ja schön, dass die Polizei uns noch informiert, damit wir alle unsere Gliedmassen festhalten können!’", sagt sie mit sarkastischem Unterton. "Ich verstehe, dass die Polizei kein Gerede im Dorf will. Aber lustig ist es nicht – einer kann nämlich sicher was dafür!"

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"Hier gehen allerlei Gerüchte um. Das Neueste ist, dass der Hexenclub dahinter stecken soll"

Ursina steigt gerade aus dem Postauto. Sie nimmt einen Kopfhörer aus dem Ohr, als sie hört, dass es ums Bein geht, nimmt sie auch den zweiten raus und grinst: "Ja, hier gehen allerlei Gerüchte um. Das Neueste ist, dass der Hexenclub dahinter stecken soll." Ob sie jetzt Angst habe, im Wald spazieren zu gehen? Sie winkt ab. "Nein! Ich habe einen Hund, mit dem muss ich ja irgendwohin. Ich glaube auch nicht, dass dahinter ein Gewaltverbrechen steckt."

Ursina glaubt nicht daran, dass hinter dem abgetrennten Bein ein Gewaltverbrechen steckt

Auf der Bank vor dem Dorfladen sitzt Marco, aus seinen Kopfhörern, die er um seinen Hals gelegt hat, dröhnen HipHop-Beats. Er ist davon überzeugt, dass hinter dem Bein eine spektakuläre Geschichte steckt. "Ich vermute, da hatte einer Stress oder Schulden bei den Hells Angels", sagt er. "Ich glaube, das Bein wollte jemand loswerden. Ich glaube, dass es amputiert wurde."

"Weisst du, hier laufen einige komische Leute herum, auch oben am Berg gibt es seltsame Menschen. Passieren kann jederzeit überall etwas. Und da oben hört dich keiner schreien."

Auf den Dorfplatz ist eine junge Frau, gerade mit ihrem Rad unterwegs: "Ich kann dir nicht viel sagen, aber ein Freund von mir weiss über den Fall mehr. Er sagt, der Polizei könne man nichts glauben." Sie vereinbart ein Treffen mit Dario. Nach kurzem Warten auf dem Dorfplatz biegt ein schwarzer BMW um die Kurve. Dario steigt aus, öffnet den Kofferraum und ein schwarzer Pit Bull springt heraus, der freudig mit dem Schwanz wedelt.

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Dario setzt sich auf eine Bank und steckt sich eine Zigarette an. Schnell kommt er zum Punkt: "Ich weiss es selbst von einem Polizisten: Es ist ein Frauenbein, Schuhgrösse 38, ein sauberer Schnitt, das Blut ist noch frisch." Woher er das wisse? Als Strassenmarkierer arbeite er eng mit der Polizei zusammen. "Aber wenn man sie näher darauf anspricht, werden sie ganz komisch. Wenn es ein sauberer Schnitt war, deutet alles darauf hin, dass ein Gewaltverbrechen dahinter steckt. Weisst du, hier laufen einige komische Leute herum, auch oben am Berg gibt es seltsame Menschen. Passieren kann jederzeit überall etwas. Und da oben hört dich keiner schreien."

Er könne mir auch den Fundort des Beines zeigen. Er kenne die Stelle, weil die Leute, die am Fundort zur Joggerin stiessen, mit einer Freundin von ihm verwandt seien. Das Dorf ist klein und es redet.

"Meine kleine Tochter lasse ich unter diesen Umständen abends bestimmt nicht mehr draussen spielen."

Auf dem Weg zur Fundstelle steht Stefans Haus. Es ist das letzte Gebäude der Siedlung, das noch mit einer Strassenlaterne beleuchtet ist. Er war gerade aus dem Urlaub zurückgekommen, als sich die Ereignisse überschlugen. "Ich habe es von meinen Nachbarn gehört. Die haben mir erzählt, dass das Bein rasiert gewesen sein soll!" Dass die Polizei keine Informationen rausgibt, verunsichert ihn. "Wenn ein Wolf das Bein abgefressen hätte, könnte die Polizei das doch gleich sagen. Meine kleine Tochter lasse ich unter diesen Umständen abends bestimmt nicht mehr draussen spielen."

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Stefan lässt wegen des gefundenen Beines seine Tochter abends nicht mehr draussen spielen

Eine kleine Strasse führt auf den Weg zur Fundstelle und der Kies knirscht unter den Schuhen.

Auf dem Weg zur Fundstelle: Kein Wolf, aber eine Katze vom Bauernhof nebenan

Auf der kleinen Lichtung, wo das Bein gefunden worden sein soll, steht ein Wasserbunker. Dario läuft zielstrebig zum Waldrand, deutet auf einen Haufen Laub. "Hier", sagt er, hier habe das Bein gelegen. Jetzt ist nichts mehr davon zu sehen, knapp daneben liegt eine rote Rasiererverpackung. Vom Bauernhof nebenan bimmeln Kuhglocken, Grillen zirpen,in der Ferne bellt ein Hund, ansonsten ist es hier oben bedrückend still. Ob der Bauer nebenan etwas oder jemanden gesehen hat?

Die angebliche Fundstelle mit der roten Rasiererverpackung

Der alte Bauer steht vor dem Haus und scheint Fremden gegenüber misstrauisch. Sein Gesicht ist furchig mit tiefen Falten zwischen den Augenbrauen, die er jetzt zusammenzieht. In breitem Dialekt brummt er: "Nein. Gesehen habe ich hier gar nichts. Für mich ist der Fall klar: Das war der Wolf. Immer sagen sie, 'nein, nein, der Wolf macht dem Menschen nichts' dabei kommen die Rehe bis zu mir ans Haus. Weisst du, warum?! Die suchen Schutz vor dem Wolf!"

Hans Krättli hat sich in Eigenrecherche über das mögliche Vorgehen der Ermittler schlau gemacht

Zurück im Dorf. Schon seit über 20 Jahren ist Hans Krättli Präsident der Gemeinde, auch an ihm gehen die Gerüchte nicht vorbei. Er grinst, als er erzählt: "Allerlei Räubergeschichten habe ich schon gehört." Mit Bestimmtheit sagt er: "Das mit dem Wolf schliesse ich aus." Nach seinen Recherchen müsste die Polizei unterdessen wissen, ob das Bein einer Frau oder einem Mann gehört.

"Sie werden die DNA, die sie auf dem Bein gefunden haben, mit der DNA, die sie in Datenbanken registriert haben, abgleichen", schlussfolgert er. "Die Leute wollen von mir wissen, ob es ein Frauenbein oder ein Männerbein war, solche Dinge weiss ich aber nicht." Er ist sich sicher: "Wenn die Staatsanwaltschaft herausgefunden hat, wer es ist, wird erst einmal das ganze Umfeld der Person informiert, bevor die Öffentlichkeit dran kommt."

Am 14. August – also 24 Tage nach dem Fund – kommuniziert die Kantonspolizei Graubünden erstmals via Medienmitteilung: "In Untervaz wurde Ende Juli auf einer Weide ein verwester menschlicher Unterschenkel gefunden." Die Polizei bestätigt in ihrer Medienmitteilung, dass am Bein ein Turnschuh der Grösse 38 gewesen sei. Weiterhin schreiben sie, dass das Bein einer "weiblichen Person, ca. 168 cm gross" gehört.

Zum Abschluss schreiben sie: "In Graubünden werden keine Personen vermisst, auf die die ersten Ermittlungsergebnisse passen würden. Die Kantonspolizei Graubünden wird nach Vorliegen der Ergebnisse wieder informieren. In der Zwischenzeit gibt es keine weiteren Auskünfte." Auf Anfrage von VICE sagt der Mediensprecher der Staatsanwaltschaft Graubünden: "Ich würde Ihnen mehr sagen, wenn es mehr zu sagen gäbe. Aber wir wissen im Moment auch nicht mehr, als wir am 14. August kommuniziert haben." In Untervaz reden die Leute währenddessen weiter.

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