Ein Mann auf einem schwimmenden Einhorn auf einem türkis-farbenen See
Foto: Igor Shemchuk | instagram.com/nohopezzz
Instagram

Hört endlich auf, euch an der Dummheit von Influencern aufzugeilen

Schon mitbekommen: Dumme Influencer machen Fotos in einem giftigen See! Hinter dieser Quatsch-Story steckt eine widerliche Form der Selbstbefriedigung.

Wie schön das doch ist, andere Menschen mit Inbrunst für Volltrottel zu halten. Dieses triumphale Gefühl, das eigene Leben im Griff zu haben, während du nur von Idioten umgeben bist. Dahinter steht eine widerliche Form der Selbstbefriedigung, denn sie lebt davon, andere herabzuwürdigen. Gerade sind es immer wieder Influencer, die von Nachrichtenmedien zu Idioten erklärt werden – und das ohne Grund.

Anzeige

Seit Donnerstag erschienen jede Menge Artikel über Instagrammer, die sich an einem See in Sibirien fotografieren. Das türkisfarbene Wasser ist wunderschön, aber angeblich mit Chemikalien vergiftet. Grund genug für Überschriften wie: "Diesen See lieben Instagrammer – dabei ist es eine Mülldeponie" (Welt), "Influencer sind scharf auf diesen sibirischen See – doch der ist hoch giftig" (watson.de). Selbst die britische BBC und der US-amerikanische Sender CNN haben berichtet.

Niemand kann behaupten, dass diese Berichte ernsthaft die Öffentlichkeit vor einer wichtigen Gefahr warnen sollen. Es geht nämlich nicht etwa um einen beliebten Badeort auf Mallorca, sondern um einen Baggersee in der Nähe eines Kohlekraftwerks von Novosibirsk. Top-Ausflugsziel – nicht! Von krank gewordenen Baggersee-Schwimmern ist übrigens keine Rede.

Influencer-Hasser spüren schon das freudige Kitzeln im Bauch

Auf das Thema aufmerksam wurden Nachrichtenmedien offenbar durch einen Post des benachbarten Kraftwerks auf dem russischen Facebook-Pendant VKontakte. Wir haben ihn durch den Google-Übersetzer gejagt. In dem Post vom 10. Juli wird erklärt, dass die verführerische Farbe des Sees von Calciumsalzen und Metalloxiden stamme. Der See sei extra für die Abfälle des Kraftwerks angelegt worden. "Hautkontakt mit solchem Wasser kann allergische Reaktionen hervorrufen", heißt es.

Aber Angst vor allergischen Reaktionen ist eindeutig nicht die Ursache für die weltweite Aufmerksamkeit. Nein, die Artikel über den See dienen nur einem Zweck: Wir sollen hämisch über Influencer grinsen und denken WiE dUmM kAnN mAn SeIn?!

Anzeige

Dabei wirken die meisten Novosibirsk-Besucher auf den Fotos überhaupt nicht dumm. Klar, der passionierte Influencer-Hasser spürt bei den Schlagzeilen schon das freudige Kitzeln im Bauch. Er hofft auf Bilder von strunzdoofen Grinsegesichtern, die sich mit ihrem ergaunerten Instagram-Money unnötig teure Badesachen gekauft haben. Kopfüber springen sie in die russischen Chemie-Tümpel und verätzen sich dabei ihre gebräunten Körper. Ein Fest! Aber: Solche Fotos gibt es nicht.

Der Instagram-Kanal "maldives_nsk" trägt fleißig Instagram-Bilder vom giftigen Baggersee zusammen. Hier finden sich auch die meisten Fotos, die Nachrichtenmedien als abschreckende Beispiele präsentieren. Die meisten Menschen auf den Fotos posieren harmlos am Ufer und strecken nicht mal den kleinen Zeh ins Wasser. Da ist es wohl gefährlicher, sich beim Rauchen zu fotografieren. Außerdem gibt es auf dem Instagram-Kanal nur 213 Bilder. Ein virales Phänomen sieht anders aus.

Sorry Leute, aber das sind keine Influencer

Von den 213 Bildern auf "maledives_nsk" sind nur nur fünf problematisch. Da wären zum Beispiel zwei Frauen, die tatsächlich ihre Zehen ins Wasser tauchen, zwei Typen auf einem aufblasbaren Einhorn, sowie ein Pärchen beim Paddeln. Und dann lässt noch etwas die Mär von den hirnlosen Influencern platzen: Die Accounts, auf denen die Bilder ursprünglich erschienen sind, haben extrem wenige Follower; ein paar Tausend, teilweise weniger. Der Nutzer Igor, von dem das Titelbild dieses Artikels stammt, hat aktuell nur 740 Abonnenten. Zählt das schon als Influencer? Darüber lässt sich streiten.


Anzeige

Auch auf VICE: Für ein wenig Internet-Ruhm isst Shoenice22 alles


Im Fall von Igor ist außerdem unklar, welche Teile des Bildes gephotoshoppt wurden: Sind die rosa Wolken echt, war er wirklich in dem See? Wir haben ihn auf Instagram gefragt und noch keine Antwort erhalten. So oder so halten wir fest: Eine Handvoll Menschen, die teilweise nicht mal als Influencer durchgehen, haben sich leichtsinnig an einem giftigen See knipsen lassen. Wow. Wer noch nie ein leichtsinniges Foto gemacht hat, bekommt einen Keks.

Jahrelang hat uns Reality-TV das Gefühl gegeben, im Vergleich zum Rest der Welt doch ein ziemlich schlauer Fuchs zu sein. Wie kann der legendäre Halt-Stopp-Andreas aus Frauentausch nur so rumschreien? Wie kann Erdbeerkäse-Nadine aus Frauentausch ernsthaft glauben, in Leberwurst sind Vitamine drin? Die schwachen Momente von Menschen wie Nadine und Andreas sind bis heute ein ewiger Quell für kollektive Häme. Damals waren es vor allem private Fernsehsender, die bei uns das Gefühl von Überlegenheit triggern wollten. Aber beim Influencer-Bashing von heute machen auch seriöse Nachrichtenmedien mit.

Erst Tschernobyl, dann Giftsee

Das Influencer-Bashing ist umso peinlicher, weil schon vor wenigen Wochen eine ähnliche Quatsch-Meldung herumging. Anfang Juni hieß es, dass Influencer neuerdings die historischen Schauplätze der Reaktorkatastrophe von Tschernobly für Selfies missbrauchen, angetrieben vom Erfolg der HBO-Serie Chernobyl.

Der Clou: Auch in diesem Fall steckten hinter den verpönten "Influencern" häufig gewöhnliche Touristen mit Instagram-Accounts. Der Typ, den die News-Website watson.de auf ihrem Artikelbild präsentiert, hat gerade mal 838 Abonnenten. Überschrift "Influencer machen geschmacklose Instagram-Posts in Tschernobyl". Seit wann zählt man mit 838 Abonnenten als Influencer?

Hinzu kommt: Schon seit Jahren inszenieren Reiseveranstalter Tschernobyl als Touristenziel mit Gruselfaktor, inklusive durchgeplanten Bustouren zu den besten Fotomotiven, wie eine VICE-Reportage aus dem Jahr 2016 zeigt. Am Ende ist das Bedürfnis, sich an der Dummheit von Influencern aufzugeilen, nicht weniger bescheuert als ein Selfie mit den Füßen im Giftsee.

Folge Sebastian auf Twitter und VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.