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aktivismus

Wie ein Berliner Projekt geflüchtete Frauen über Verhütung und Sexualität aufklärt

Empowerment gehört zu einer gelungenen Integration dazu, sagen die Aktivistinnen von Space2grow. Und könnten damit den Deutschen Integrationspreis gewinnen.
Anab Mohamud (rechts) bei einem Beratungsgespräch | Foto bereitgestellt von Space2grow

Unterkunft, Akzeptanz, Perspektive: Menschen, die aus Kriegsgebieten nach Deutschland flüchten, stehen vor vielen Herausforderungen. Da können Themen wie Frauengesundheit, Sexualität und Verhütung schnell untergehen; wichtig sind sie trotzdem. Das Projekt Space2grow bietet deswegen Workshops von geflüchteten Frauen für geflüchtete Frauen an – und befindet sich damit im Rennen um den Deutschen Integrationspreis 2018.

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Gründerin und Projektleiterin Anab Mohamud kam selbst 2015 als Geflüchtete von Somalia nach Deutschland. Jetzt möchten Sie und ihre Mitstreiterinnen von den Frauenkreisen Berlin all jenen helfen, die das Gefühl haben, dass es für ihre geschlechtsspezifischen Belange plötzlich keinen Raum mehr gibt. Dabei geht es nicht nur um klassische medizinische und sexuelle Aufklärung; die Frauen sollen auch ermutigt werden, eigene Wünsche zu formulieren.

Bisher gibt es das Angebot nur in Berlin, wenn sie bis Anfang Mai ihr Crowdfunding-Ziel von 10.000 Euro erreichen, wollen die Aktivistinnen die Workshops aber bald auch deutschlandweit anbieten. Uns haben Anab Mohamud und die Frauenkreise-Vertreterinnen Niki Drakos und Gabi Zekina erklärt, warum Empowerment für Integration so wichtig ist – und wer davon profitiert, dass in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem über männliche Geflüchtete gesprochen wird.


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Anab, wann hattest du zum ersten Mal das Gefühl, dass es dramatische Lücken im Beratungsangebot für geflüchtete Frauen in Deutschland gibt? Wie hat sich dieser Gedanke zum Projekt Space2grow entwickelt?
Anab Mohamud: Als ich in den Heimen als psychosoziale Beraterin mit den Frauen gearbeitet habe, habe ich bemerkt, dass es einen Mangel an Wissen und Bildung in den Bereichen Familienplanung, Gesundheit und Schwangerschaft gibt, und auch erschwerten Zugang zu den Angeboten aus der Unterbringungssituation in den Unterkünften heraus. Ich habe gesehen, wie die Frauen* kämpfen mussten und welche Probleme sie haben, also habe ich das Projekt 2017 gestartet. Mit Unterstützung der Frauenkreise, die im Sommer 2017 eine Förderung beantragt haben, die wir dann auch bekommen haben.

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Ihr wollt Beratung auf Augenhöhe bieten, nicht aus einer „privilegierten deutschen Perspektive“. Welche Sorgen, Ängste und Fragen kann nur eine andere geflüchtete Frau nachvollziehen?
Niki Drakos und Gabi Zekina: Generell gibt es ein historisch gewachsenes Misstrauen gegenüber der weißen europäischen Kultur, das sich aufgrund der Kolonialisierung und Versklavung entwickelt hat. Gerade bei solchen Themen ist es deshalb wichtig, dass sie aus der Community heraus entwickelt und angeboten werden.

"In einer gewissen Weise fängt Integration mit Familienplanung an."

Anab: Es gibt einfach mehr Vertrauen und gemeinsame Ebenen. Ich verstehe die Kultur und kenne die Codes. Ich war auch in der gleichen Situation und stand vor den gleichen Schwierigkeiten und Fragen. Ich kann da Brücken bauen.

Wie kann man sich eure Workshops vorstellen? Was passiert da genau?
Anab Mohamud: Wir geben zum Beispiel einen Überblick über die verschiedenen Methoden der Familienplanung. Wir sprechen über die Vor- und Nachteile der einzelnen Verhütungsmethoden und warum es generell Sinn macht, sich damit bewusst auseinanderzusetzen. Außerdem haben wir Broschüren und Anschauungsmaterial da, mit dem wir sowohl die einzelnen Methoden illustrieren können, als auch die Familienzentren vorstellen, mit denen wir gute Erfahrungen gemacht haben. Wenn es um intimere Themen geht, bieten wir persönliche Beratungsgespräche an. An diesen können gegebenenfalls auch die Partner*innen teilnehmen .

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Beim Thema Flucht denken viele wahrscheinlich nicht direkt an Fragen nach Familienplanung oder Sexualität. Warum ist das trotzdem so essentiell?
Anab: Weil diese Themen absolut existenziell für die geflüchteten Frauen*, ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Familien und ihre Zukunft sind! In einer gewissen Weise fängt Integration mit Familienplanung an. Familienplanung öffnet Räume und Perspektiven und ermöglicht es überhaupt erst, in der neuen Gesellschaft anzukommen. Eine Kultur der Gemeinschaft von Frauen*, die gemeinsam die Kinder aufzieht, gibt es hier nicht. Dafür gibt es Chancen und Möglichkeiten für die Frauen*, die es "back home" so nicht gab. Um diese wahrzunehmen, braucht es Raum und Empowerment.

Niki: Familienplanung in Deutschland ist theoretisch "frei" zugänglich und würde Mensch kaum als Thema sehen, wo es einen besonderen Handlungsbedarf gibt. Aber was für die einen mit einem schnellen Gang zur Gynäkologie erledigt ist, ist für andere ein Weg, der mit zahlreichen Hürden und Stolperfallen gespickt ist.

Was für Frauen kommen zu euch? Welche Geschichten sind dir besonders im Gedächtnis geblieben?
Anab: Wir sind offen für alle, deswegen kommen geflüchtete Frauen*mit unterschiedlichsten Problemen, Fragen, Geschichten zu uns – darunter auch viele, die noch sehr jung sind. Eine Geschichte, die mir als erstes einfällt, ist die Geschichte einer sehr jungen Frau. Ihr Baby war erst drei Monate alt und sie hatte große Angst, wieder schwanger zu werden. Bei uns im Workshop hat sie gelernt, wie sie das vermeiden kann. Das hat ihr Sicherheit, Selbstvertrauen und Zuversicht gegeben.

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Im öffentlichen Diskurs scheint es meistens nur um männliche Geflüchtete zu gehen – was Rechte dankbar aufgreifen. Warum ist das so?
Gabi: Ich glaube, die Frage hast du schon selbst beantwortet. Weil es eben einer rassistischen Agenda dienen soll, Geflüchtete und im Übrigen auch alle rassifizierten deutschen Männer* als vermeintliche Bedrohung für Frauen*rechte zu etablieren. Damit wird gegen sie und gegen Einwanderung und eingewanderte Menschen generell Stimmung gemacht.

Niki: …anstatt auf die komplexen Zusammenhänge zu schauen, die Flucht erst erzeugen und zu denen europäische Gesellschaften entscheidend beitragen.

"Geflüchtete Frauen* können für sich selbst sprechen und sollten Gehör finden!"

Gabi: Geflüchtete Frauen* bleiben in diesem Zusammenhang bewusst ungenannt und sind doch mit gemeint, was gerade auch die zunehmende Anzahl rassistischer Angriffe auf sie zeigt. Der Diskurs ist also nicht nur rassistisch, sondern auch sexistisch.

Der Slogan von Space2grow lautet „Empowered Women empower Women“. Geht es bei euch auch um feministische Themen? Begreift ihr euch als feministische Organisation?
Niki: Space2grow ist ein Projekt von (geflüchteten) Frauen* für (geflüchtete)Frauen* - Da Familienplanung für Frauen* auch ein Stück Unabhängigkeit und Planbarkeit von Zukunft und Öffnung von Perspektiven bedeutet, ist das sicherlich sehr feministisch.

Gabi Die Frauenkreise, die die tragende Infrastruktur sind, verstehen sich definitiv als feministische Organisation. Wir arbeiten intersektional, rassismuskritisch und bündnisorientiert.

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Anab: Wir sprechen in den Workshops nicht mit den Frauen aber über Feminismen, sondern über ihre Themen, Sorgen und Wünsche.

Ihr seid mit eurer Crowdfunding-Kampagne im Rennen für den Deutschen Integrationspreis. Inwiefern gehört auch Empowerment von Frauen zu einer gelungenen Integration?
Anab: Weil es eine Brücke ist für die Frauen* und auch für Ihre Familien, zur Gesellschaft dazu gehören und nicht am Rande bzw. außen vor zu bleiben.

Gabi: Empowerment und Stärkung der Rechte gerade von marginalisierten Frauen* muss ein ganz wichtiges gesellschaftliches Anliegen sein. Es geht nicht an, von „Frauenrechten“ zu reden, die vermeintlich durch Einwanderung gefährdet seien, und dabei die eingewanderten Frauen* außen vor zu lassen. Gerade auch hier zeigt sich, wie ernst es dem Mainstream mit Integration wirklich ist. Geflüchtete Frauen* können für sich selbst sprechen und sollten Gehör finden!

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