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Popkultur

Menschen, die IS-Propaganda überwachen, erzählen von den schrecklichen Dingen, die sie sehen

Bei der EU-Polizeibehörde sichten und melden 30 Angestellte grausame Videos und Propaganda. Wir haben sie bei der Arbeit begleitet.
Screenshot aus einem IS-Propaganda-Video

Die EU-Behörde trägt einen unscheinbaren Namen: Meldestelle für Internetinhalte, im Englischen Internet Referral Unit (IRU). Die Dinge, mit denen sich die Mitarbeiter beschäftigen, sind das Gegenteil von unscheinbar: Enthauptungen, Anleitungen zum Bombenbau, hysterische Propaganda – kurz gesagt alle medialen Inhalte, mit denen zum Dschihad aufgerufen wird. VICE darf den Mitarbeitern der Behörde im Europol-Hauptquartier in Den Haag einen Tag lang über die Schulter schauen.

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Obwohl die Truppen des IS-Kalifats in Syrien und im Irak schon als besiegt erklärt werden, hat die IRU viel zu tun. Der Islamische Staat gibt zumindest online nämlich noch lange nicht Ruhe: Erst vor wenigen Monaten hat die Sinai-IS-Fraktion ein neues 23-minütiges Video veröffentlicht, zur gleichen Zeit hat das IS-Medienzentrum al-Hayat einen Clip online gestellt, in dem eine Frau augenscheinlich an der Front kämpft.

Europol, die Polizeibehörde der EU, hat die Internet Referral Unit im Juli 2015 gegründet. Die Hauptaufgabe der Behörde ist es, das Internet nach dschihadistischem Material zu durchsuchen und es dann beim zuständigen Provider zur Löschung zu melden. Diese Provider sind rechtlich gesehen aber nicht dazu verpflichtet, dieser Aufforderung nachzukommen. Dennoch wurden im ersten Jahr laut IRU 91 Prozent der gemeldeten Inhalte entfernt – mehr als 11.000 Videos, Texte und Bilder auf 31 Plattformen in acht Sprachen.

Insgesamt arbeiten bei der Meldestelle rund 30 Personen. Vier von ihnen erzählen VICE, wie sie die Dateien aufspüren und wie sie mit dem Grauen zurechtkommen, das sie täglich sehen. Aus Sicherheitsgründen dürfen ihre echten Namen hier nicht stehen.


Auch bei VICE: Ein Deutscher Kämpfer in Syrien


Ein normaler Arbeitstag im IRU-Büro beginnt mit einer Liste von Web-Links, die die Mitarbeiter überprüfen und gegebenenfalls melden müssen. Anschließend tragen sie ihre Einschätzungen mit den dazugehörigen Inhalten in das "Check-the-Web-Portal" ein, also in Europols riesige Datenbank für dschihadistische Online-Propaganda.

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Anna sagt, im Fokus stehe alles, was Gewalt gegen europäische Länder und Bürger billigt. Die Behörde meldet aber auch anderes extremistisches Material, im Falle des IS kann das quasi alles sein – von einer Fotoreportage über einen traubenpflückenden alten Mann bis hin zu einem Video, in dem die Struktur des Kalifats erklärt wird. Solche vergleichsweise harmlosen Inhalte wollen laut Anna aber nicht alle Online-Plattformen zensieren. Für die IRU geht hier Terrorismusbekämpfung vor Meinungsfreiheit: Alles sei schädlich, weil alles zu den gleichen IS-Rekrutierungsmaßnahmen gehöre, sagt Anna.

Die IRU meldet ausschließlich dschihadistische Propaganda. Celine* sagt: "Wir sind nur auf die Terror-Organisationen aus, die von der EU aufgelistet werden. Außerdem lassen wir Inhalte von terroristischen Vereinigungen außer Acht, die nicht den Dschihad fordern – wir melden also keinen linken oder rechten Terrorismus." Solche Aussagen sind natürlich Öl ins Feuer der Menschen, die der Meinung sind, dass sich die Anti-Terror-Maßnahmen der westlichen Welt überwiegend auf Muslime konzentrieren.

Der Streit mit der Messenger-App Telegram

Zu den meisten Internet- und Social-Media-Plattformen hat die IRU gute Beziehungen. Eine Ausnahme bildet allerdings Telegram, die bevorzugte Messenger-App des IS. Wie Anna erzählt, reagiere das Unternehmen nur selten auf Melde-Mails. Im September 2015 machte sich Pawel Durov, der Gründer und CEO von Telegram, Berichten zufolge sogar über die Aufforderung lustig, IS-Chatgruppen von der Plattform zu entfernen: "Ich schlage vor, Worte zu verbieten. Alles deutet darauf hin, dass Terroristen damit kommunizieren", schrieb er in einem Post auf dem russischen sozialen Netzwerk VKontakte.

Am 18. November 2015, nur wenige Tage nach dem Terroranschlag von Paris, entfernte Telegram dann doch 78 Pro-IS-Chatgruppen. Der Druck durch westliche Regierungen wurde zu groß. Damit kehrte die Plattform von ihrer eigentlichen Richtlinie ab und Unterstützer des Islamischen Staats erklärten ihr daraufhin den Krieg. Ganz auf die App verzichten wollten sie aber dann doch nicht, sie nutzten von da an nur noch die privaten Chat-Kanäle, die nicht so einfach zu überwachen sind. Dieser Schritt habe die Aufgabe der IRU viel schwieriger gemacht, sagt Anna. Denn man braucht eine Einladung, um einem solchen privaten Kanal beizutreten.

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Screenshot aus einem IS-Propaganda-Video

Spricht man mit Menschen, die sich die schlimmsten Inhalte des Internets anschauen – zum Beispiel Videos, in denen Menschen gefoltert und enthauptet werden oder sich selbst umbringen –, zeigen sich Parallelen: Sie alle erinnern sich noch an ihr erstes Gore-Video, bei dem sie eigentlich nur wegschauen wollten, ihre Neugier dann aber doch siegte. Und jeder von ihnen kennt ein Video, das in Sachen Ekel- und Schockfaktor alles übertrifft. Bei der IRU ist es ähnlich, nur ohne die Amoralität: Alle Mitarbeiter wissen noch genau, welches Video sie in ihrem Job als erstes gesehen haben. Und ohne lange nachdenken zu müssen, können sie die Inhalte nennen, die sie am meisten schockiert haben.

"Ich weiß nicht, ob ich das verstörendste Zeug wirklich in eine Rangfolge einordnen kann", sagt Celine. "Am schlimmsten finde ich aber die Videos mit Kindern. Wenn ein zweijähriges Kind einen Menschen auf einem Spielplatz in Syrien hinrichtet, dann ist das wahnsinnig, ekelhaft und schrecklich zugleich."

"Mein Job ist es, solche grausamen Sachen anzuschauen – wohlwissend, dass ich das zu Sehende nicht aufhalten kann."

Nicolas erzählt vom gleichen Video: "Sie geben ihm eine Waffe, mit der er jemandem in den Kopf schießt. Alles mit Kindern ist immer schwer anzusehen, weil auch sie zu Opfern werden."

Anna bekommt ein IS-Video nicht mehr aus ihrem Kopf, in dem die Terroristen einen russischen Geheimagenten enthaupten: "Ich erinnere mich noch genau an dieses Video, weil man sein Gesicht und seine Tränen sieht. Er spricht ganz ruhig und wirkt überhaupt nicht nervös. Dann richten sie ihn hin und die Kamera hält voll drauf."

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Für Layla ist das Video von einer Massenenthauptung syrischer Soldaten das schlimmste. "Da wurde mir richtig übel und ich musste kotzen", erzählt sie. "Abgesehen von 'Jihadi John' ist jeder in dem Video gefangen und gefesselt. Und für die Kämpfer aus dem Ausland ist alles vorbei, sie können nicht mehr zurück. Mein Job ist es, solche grausamen Sachen anzuschauen – wohlwissend, dass ich das zu Sehende nicht aufhalten kann."

Manchmal hilft nur schwarzer Humor

Für einen solchen Job sind die Voraussetzungen recht klar: eine hohe Toleranz gegenüber Blut und Gewalt und eine genauso hohe Toleranz gegenüber Langeweile und Blödsinn. Die meisten IS-Videos sind – trotz der oft genannten "Cleverness" und Erzählkunst – nämlich eintönig, nervig und völlig überzogen. "Wir müssen uns das Zeug komplett anschauen, von Anfang bis Ende", sagt Celine, der Versuchung, einfach mal vorzuspulen, darf sie nicht nachgeben.

Den Mitarbeitern der IRU hilft es teilweise, dass sie durch Gewalterfahrungen aus dem echten Leben schon etwas abgehärtet sind. So wirkt das Online-Pendant nicht mehr ganz so schrecklich. "Ich komme aus der Strafverfolgung und habe schon einiges gesehen. Das war ein harter Job", erzählt Anna. Celine sagt, dass auch sie beruflich schon vorher mit der Gewalt von dschihadistischen Terror-Organisationen zu tun gehabt habe. Sie erinnert sich an einen schrecklichen Selbstmordanschlag, den sie vor ihrem Wechsel in die IRU mitbekommen habe: "Das war viel schlimmer, als sich die Videos anzuschauen."

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Außerdem muss man als IRU-Angestellter in der Lage sein, Berufliches und Privates zu trennen. "Ich versuche immer, die Bilder sofort aus meinem Gedächtnis zu löschen, nachdem ich sie angeschaut habe", sagt Anna. "Das nehme ich nicht mit nach Hause." Celine sagt: "Ich weiß, wie ich die Tür hinter mir zumache."

"In einem Video wird ein ausländischer Kämpfer interviewt und plötzlich fällt ein Typ im Hintergrund in ein Loch. Die ganze Situation hat etwas von einem Monty-Python-Sketch."

Was die Mitarbeiter auch brauchen, ist Sinn für Humor, die Fähigkeit über Dschihad-Terroristen und -Wichtigtuer auch mal lachen zu können. "In einem Video wird ein ausländischer Kämpfer interviewt und plötzlich fällt ein Typ im Hintergrund in ein Loch", sagt Layla lachend. "Die ganze Situation hat etwas von einem Monty-Python-Sketch. Das haben wir uns ganz oft angeschaut."

Celine erzählt von einem Video, in dem zwei IS-Kämpfer die Verantwortung für einen Anschlag übernehmen, aber noch zwei weitere Menschen töten. "Das ganze Gerede und die Enthauptungen waren wirklich verstörend, aber plötzlich fragte mein Kollege, ob einer der beiden Mascara trage. Daraufhin scherzten wir darüber, wie man für den Dschihad immer frisch und jung aussehen müsse. Das klingt vielleicht dumm, aber es hilft."

Mit Tipps von Chirurgen zum Erfolg

Um die Inhalte nicht an sich rankommen zu lassen, routinieren die IRU-Mitarbeiter das Anschauen der Videos, damit dieser Arbeitsablauf wie mechanisch vonstatten geht. "Ich muss mich professionell verhalten", sagt Celine, "und ganz präzise vorgehen, denn wir sammeln Beweise. Wir achten auf Details wie etwa das Kameramodell, wie und wo das Video aufgenommen wurde, das Verhalten der zu sehenden Personen oder die Kleidung."

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Er wisse ja, wie das Video endet, sagt Nicolas, der blutige Teil interessiere ihn deswegen nicht: "Ich schaue mir das ja nicht zum Spaß an, sondern um herauszufinden, welche Agenda verfolgt und welche Botschaft vermittelt wird. Wen kann ich identifizieren? Kommt mir der Hintergrund bekannt vor? Wer ist die Geisel? Solche Fragen will ich beantworten. Und ich verbinde eine Leiche auch niemals mit einem Gesicht."

Diese Taktik hat Nicolas von einem Chirurgen gelernt, mit dem er in seinem vorherigen Job als Polizist zu tun hatte. "Wenn man eine Leiche mit einem Gesicht verbindet, dann geht einem die Sache nahe."

Layla erzählt von der sogenannten Filtertechnik: "Zuerst schaut man das Video ohne Sound an, dann hört man sich die Tonspur ohne Video an. So assoziiert man keine Bilder mit Geräuschen." Bei Enthauptungen klappe das leider nicht so gut, Soundeffekte wie Gurgeln seien sehr gut produziert.

Eine Umfrage zu IS-Videos ergab, dass 57 Prozent der 3.000 Befragten schon mal ein solches Video gesehen haben – TV- und Online-News-Clips nicht mit eingeschlossen. Und fast die Hälfte dieser 57 Prozent haben laut eigener Aussage sogar schon mehr als zehn IS-Videos angeschaut. Trotz der verstärkten Gegenmaßnahmen von Social-Media-Unternehmen sind IS-Videos und -Propaganda im Internet also offensichtlich noch immer allgegenwärtig und leicht zu finden.

Für Anti-Terrorismus-Experten und Politiker ist die dringendste Frage zu Videos des Islamischen Staats: Radikalisieren sie die Zuschauer? Genauso wichtig sind die psychischen Folgen, die bei Menschen auftreten können, die mit solchen Inhalten in Kontakt kommen. "Wir glauben an das, was wir tun", sagt Nicolas. Aber so sehr sich die Internet Referral Unit auch bemüht, die Verbreitung der grausamen Dschihad-Videos ist nur sehr schwer aufzuhalten. Sensationsgier und der Reiz des Schockierenden lassen sich eben nur schwer ausschalten.

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