„Speziell bei Frauen ist der soziale Vergleich im Bezug auf Äußeres und Auftreten sehr deutlich ausgeprägt", erklärt Medienpsychologe Prof. Dr. Jo Groebel gegenüber Broadly. Wer sieht, dass auch Jennifer Lopez Cellulite hat, fühlt sich eben gleich ein bisschen besser mit sich selbst. Selbst, wenn die Bilder aus einer bewusst unvorteilhaften Perspektive geschossen oder mutwillig bearbeitet wurden. Ist ja alles nur leichte Unterhaltung.Diese zum Teil auch ironische Distanz zum Thema ist den Leuten, die diese Art von Inhalt Tag für Tag produzieren müssen, verwehrt. Wer sich, gefangen zwischen Vergnügen und Scham, durch die Heftchen blättert, denkt vielleicht darüber nach, ob es moralisch denn nun wirklich so vertretbar ist, intimste Informationen über andere Menschen zu konsumieren—die zum Teil gegen deren Willen veröffentlicht wurden. Gleichzeitig ist man aber auch „nur" passiver Konsument. Nicht die Person, die das Leben anderer in möglichst reißerische Überschriften presst.Mehr lesen: Ich habe beim Reality-TV gearbeitet und dabei fast meine Seele verloren
„Der ‚Höhepunkt' meiner Karriere als Boulevardjournalistin war ein vollkommen sinnfreier Artikel über eine Schauspielerin, die ein bisschen zugenommen hatte", erzählt Katja. Ein Fakt, der natürlich durch möglichst viele, möglichst freizügige Bikinifotos illustriert werden musste. Rund 200 Wörter Text—natürlich nicht ohne den Seitenhieb, dass der neue Liebhaber der Frau nun etwas mehr zum „anpacken" hätte—und der Hinweis „Hier gibt's die Beweisfotos!" in der Überschrift: Fertig war der Text, der später 100.000 Mal geklickt werden sollte. Vom Chef gab es ein Schulterklopfen vor versammelter Belegschaft und die Anregung, ruhig mehr in die Richtung zu machen.„Mein Kollege veröffentlichte zeitgleich ein knallhartes und wochenlang recherchiertes politisches Stück, das aber sehr schnell wieder in den Untiefen unserer Website verschwand, da es im direkten Vergleich einfach zu wenig Klicks generiert hatte", sagt Katja. „Nachdem der anfängliche Stolz verflogen war, musste ich mich erst mal betrinken."Selbst Schuld, könnte man sagen. Dass Investigativreportagen im Boulevardjournalismus kaum Platz haben, dürfte nun kaum jemanden überraschen. Gleichzeitig greift natürlich auch (oder vielleicht sogar gerade) im Klatschbereich die Maxime, nach der der Großteil der nicht kostenpflichtigen Online-Magazine arbeitet: Reichweite zählt. Was funktioniert, ist automatisch gut. Aufmerksamkeit bekommt—wie damals auf dem Pausenhof—die Person, die am lautesten schreit. Unklar ist für viele Außenstehende allerdings, wie genau diese sensationsheischenden Geschichten eigentlich entstehen.Nachdem der anfängliche Stolz verflogen war, musste ich mich erst mal betrinken.
„Als ich vor drei Jahren in dieser Industrie gelandet bin, hatte ich noch Träume", sagt Katja. „Ich wollte Exklusivgeschichten schreiben, Interviews führen und Dinge aus meinem Gegenüber herausquetschen, die andere noch nicht wussten." Die Realität eines Jobs, dessen Erfolg sich primär in Zugriffszahlen misst, holte sie schnell ein. Laut Katja gibt es einen regelrechten Wettbewerb um die „besten", emotionalsten Geschichten—und sie lernte schnell, sich zu behaupten. Stolz darauf ist sie im Nachhinein allerdings nicht, dutzende Frauen auf dem Weg nach „oben" degradiert und diffamiert zu haben.„Ich packte Überschriften und Artikel mit fiesen Infos und losen Behauptungen voll. Der Babybauch von Sabia Boulahrouz werfe ja Fragen auf. Er sei nicht dem sechsten Monat entsprechend groß und sie somit eine Lügnerin und gar nicht wirklich schwanger", erzählt sie. „Ich machte Instagram-Bilder zur Grundlage von meinen sehr kurzen, aber schmierigen Artikeln. Ich versuchte sogar, bei Interviews auf dem roten Teppich Promidamen dazu zu kriegen, über ihre Kolleginnen zu lästern. Nur damit ich eine Story hatte, die fleißig geklickt wurde."Mehr lesen: Ihr werdet nicht glauben, was ich als Clickbait-Journalistin gelernt habe
Was Traffic bringt, wird—zumindest von Firmenseite aus—selten in Frage gestellt. „Unserer Arbeit als Boulevardjournalisten liegen nun mal Methoden zugrunde, die nicht immer dem entsprechen, was üblicherweise von einem korrekt arbeitenden Journalisten, ethisch, moralisch und seitens des Presserates, erwartet werden sollte."Ich kannte keinen Halt mehr und ließ meiner Fantasie freien Lauf—und das auf Basis eines Instagram-Posts von ihrem etwas verquollenen Gesicht.
Symbolfoto: imago | Seeliger
Wenn wir darüber sprechen, dass Boulevardjournalismus sich an vermeintlichen Unzulänglichkeiten anderer—bevorzugt prominenter Frauen—weidet, liegt der Schluss nahe, dass das unter anderem auch daran liegen könnte, dass die obersten Verlagsbosse nach wie vor größtenteils männlich sind und dadurch kein explizites Problem mit Sexismus und fragwürdigen Geschlechterbildern haben. „Es ist ja nicht so, dass mein unmittelbarer Textchef die Vorgaben macht, nach denen er unsere Texte prüft", bestätigt auch Katja. „Die großen Verlagshäuser werden von Männern geführt, die gerne mal jedem Klischee gerecht werden."In dieser Phase begann ich auch erstmals, die Mechanismen und Konstrukte innerhalb der Boulevardverlagswelt wirklich wahrzunehmen.
Auch Fritz Hausjell wehrt sich dagegen, Boulevardjournalismus grundlegend als etwas Negatives zu sehen. Bereits 2011 schrieb er in einem Kommentar für News: „Die demokratische Gesellschaft braucht Boulevard ebenso sehr wie ,seriöse' Medien." Gegenüber Broadly erklärt er, wo die Qualitäten boulevardesker Berichterstattung liegen können. „Unter gutem Boulevardjournalismus kann jener Journalismus verstanden werden, der dem Umstand Rechnung trägt, dass in der Gesellschaft viele nicht zu formal höherer Bildung gelangen und/oder arbeitsbedingt weniger Zeit als andere für die Mediennutzung haben. Für sie ist knapp gehaltener, einfach verständlicher Journalismus nützlich."Boulevardjournalismus ist dann kritisch zu beurteilen, wenn er sich den wesentlichen gesellschaftlichen Fragen nicht stellt.
Katja wird ihr Volontariat beenden und sich danach vom Boulevard abwenden. Sie ist ehrgeizig, sagt sie, und hat verstanden, wie die Mechanismen der Klatschpresse funktionieren. Vielleicht hätte ihr die ganz große Karriere in diesem Bereich gewunken. Einzig: Sie will es nicht mehr. Die Moral hat gesiegt. „Wir Frauen haben heute mehr denn je die Chance, in dieser durch das Netz demokratisierten Medienwelt, einen Unterschied zu machen", sagt sie. „Dieser Unterschied ist bestimmt nicht von Anfang an mit einem sicheren Gehaltscheck, unbefristetem Arbeitsvertrag und Sozialleistungen begleitet, aber es gibt ihn."Das journalistische Klatschrad wird sich auch ohne sie weiterdrehen—trotz der Tatsache, dass immer mehr Prominente ihr Privatleben über die sozialen Netzwerke freiwillig mit der Öffentlichkeit teilen. „Boulevardjournalismus leistet ja nicht nur die Klatsch- und Tratschstorys der Prominenten, die diese ohnedies gerne erzählen, sondern auch die Geschichten, auf die Prominente nicht stolz sind und daher selbst nicht ins Netz stellen", sagt Fritz Hausjell. „Diese Form des Boulevardjournalismus wird es noch so lange geben, wie Menschen aus einer Vielzahl von Motiven sich diesen Medieninhalten gerne zuwenden: Neid und Missgunst gegen andere, Trost der Unzulänglichkeiten im eigenen Leben, Stoff für Smalltalk, parasoziale Beziehungen zu Stars oder auch Empathie gegenüber Menschen, denen man (zum Glück) im realen Leben nie begegnen wird."Mehr lesen: „Disney für Erwachsene"—die Erfolgsgeschichte erotischer Groschenromane
*Name geändert