Gina-Lisa ist nach wie vor der richtige Fall, um über Vergewaltigungen zu reden
Gina-Lisa Lohfink verlässt das Amtsgericht Tiergarten an einem der Prozesstage im Juni. Foto: Karl Kemp

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Gina-Lisa ist nach wie vor der richtige Fall, um über Vergewaltigungen zu reden

Gina-Lisa Lohfink wurde verurteilt, zwei Männer zu Unrecht der Vergewaltigung bezichtigt zu haben. Wer glaubt, dass die Debatte um sexuelle Gewalt in Deutschland damit wieder unter den Tisch gekehrt werden sollte, irrt.

Anfang der Woche wurde Gina-Lisa Lohfink schuldig gesprochen. Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass sie zwei Männer bewusst einer Vergewaltigung beschuldigt hat, die so niemals stattgefunden haben soll. Mit dem Ende des Prozesses kamen die vielen erhobenen Zeigefinger samt „Wir haben's ja gleich gesagt!"-Rufen. Genug Menschen und Pressevertreter hatten bereits vor dem Urteilsspruch klargestellt, für wie unglaubwürdig sie die Angeklagte und für wie überflüssig sie die Verschärfung des Sexualstrafrechts halten. Alleine damit zeigte sich, dass es hier eben nicht nur um die Schuldfrage in einem speziellen Fall mit vielen Ungereimtheiten geht.

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Aber: Was habt ihr denn gleich gesagt? Dass ihr Frauen nicht glaubt, vergewaltigt worden zu sein, weil sie offen mit ihrer Sexualität umgehen, sich die Haare blondieren, eine Brust-OP hatten und im Reality-TV zu sehen waren?

Gleich vorweg: Ja, ich bin keine Juristin. Nein, ich finde Rechtsstaat eine gute Idee und will diesen deshalb auch nicht abschaffen.

Mehr lesen: Der Umgang mit dem Fall Gina-Lisa ist ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft

Was ich dagegen möchte, ist dass wir Gerichtsurteile nicht behandeln, als wären sie gottgegeben und damit unfehlbar. Unser gesamtes Justizsystem ist schließlich von Menschen getragen. Diese Menschen sind genauso beeinflusst von gesellschaftlichen Vorstellungen zu Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe und all diesen Kategorien, aus denen sich eine Identität zusammensetzen kann—wie wir alle anderen auch. Niemand soll wegen einer Vergewaltigung verurteilt werden, wenn er sie nicht begangen hat, trotzdem zeigte der Prozess exemplarisch auf, wie mit dem Thema sexuelle Gewalt in Deutschland umgegangen wird.

Daher ist es im Fall von Gina-Lisa Lohfink trotz des Urteils wichtig zu schauen, welche offenen Fragen es immer noch gibt, denn:

Warum ist es nicht relevant, dass einer der Männer in der Vergangenheit durch ähnliche Taten aufgefallen sein soll?

Warum wollte die Staatsanwältin diese Zeuginnen (heutige Ex-Freundinnen) erst nicht mal zu Wort kommen lassen?

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Warum wird insgesamt drei Frauen schlicht nicht geglaubt?

Wieso muss Lohfink stolze 20.000 Euro zahlen, während das unerlaubte Verbreiten des Videomaterials mit lediglich 1.350 Euro veranschlagt wurde und wie wird diese Unverhältnismäßigkeit von Strafbeträgen gerechtfertigt?

Wieso wurde bislang nur einer der Männer für die unerlaubte Verbreitung des Videos belangt?

Warum wurde nur der Einfluss durch K.O.-Tropfen in Betracht gezogen, wenn unterschiedliche Date-Rape-Substanzen auch zu unterschiedlichen Symptomen führen?

Weshalb ist nicht bereits als problematisch thematisiert worden, dass hier jemand sehr offensichtlich stark betrunken war und trotzdem in eine sexuelle Situation gebracht wurde?

Wieso wird das Motiv, Lohfink wollte einfach nur mal wieder in die Medien, nicht hinterfragt, wenn sie noch nicht mal wollte, dass das Video der vemeintlichen Tatnacht verbreitet wird—etwas, dem immerhin schon durchs Gericht stattgegeben wurde?

Was im Falle eines Schuldspruchs passiert, sehen wir gerade—bis hin zur bizarren Theorie, es wäre ihr alleiniger Masterplan gewesen, damit ins nächste Dschungelcamp zu kommen.

Anfang Juni schrieb ich bereits: „Das Vorgehen der Richterin und Staatsanwältin im Fall Gina-Lisa Lohfink zeigt, wie tief verwurzelt Vergewaltigungsmythen eben auch im Justizsystem selber sind." Und auch jetzt scheint es, als wäre „Im Zweifel für die Angeklagte" hier nie eine Option gewesen, weil die Richterin keine Zweifel gelten ließ, dafür aber anscheinend erst recht ein Exempel statuieren wollte. Ihr Fazit lautete daher: Gina-Lisa Lohfink habe lediglich PR in eigener Sache betreiben wollen.

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Aber was für eine PR soll das bitte sein?

Wäre ihr vor Gericht Recht gegeben worden, wäre sie nur noch „das Opfer", dessen Leid bis ins winzigste Detail von der Öffentlichkeit konsumiert wird, während alle anderen Facetten ihrer Person verschwinden (siehe #KoelnHbf). Was im Falle eines Schuldspruchs passiert, sehen wir gerade—bis hin zur bizarren Theorie, es wäre ihr alleiniger Masterplan gewesen, damit ins nächste Dschungelcamp zu kommen.

Wie grotesk ist es außerdem, dass nun gerade Medienmenschen Gina-Lisa Lohfink auch noch einen daraus Vorwurf machen, weil diese mit Medien geredet hat? Was sie dann wiederum als Beleg für die angebliche PR-Aktion nehmen, statt hier in Lohfink einen Menschen zu erkennen, der eben versucht, sein mediales Narrativ irgendwie noch mitbestimmen zu können. Ein Narrativ, das derweil von Journalist_innen fleißig mit Worten wie „Partygirl" oder „vollbusige Blondine" festgeklopft wurde.

Foto: Karl Kemp

Natürlich haben der Lohfink-Fall und die mediale wie gesellschaftliche Aufmerksamkeit dafür gesorgt, dass die Debatte um die Sexualstrafrechtsreform neu befeuert wurde. Das ist gut so, liegt aber auch in der Natur der Sache. Wenn der Scheinwerfer auf etwas gerichtet wird, dann gucken da eben noch mehr Menschen hin, erst recht wenn es ein aktuelles Beispiel gibt.

Wenn ich nun aber die Behauptung lese, der Fall von Gina-Lisa Lohfink allein habe dafür gesorgt, die Reform um den Paragrafen 177 durchzusetzen, dann möchte ich die Gesichter der betreffenden Personen, die so etwas schreiben, direkt in ein Geschichtsbuch drücken.

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Wir sprechen hier nämlich von jahre- bis jahrzehntelanger Arbeit, um die Sexualstrafrechtsreform anzustoßen. Allein der Dachverband bff (Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland) hat seit Jahren Kampagnen zum Thema geführt und Petitionsunterschriften gesammelt. Dazu kommen die bereits ebenso lang andauernden Bemühungen von Aktivist_innen, nicht nur ein gesellschaftliches Verständnis für das Prinzip „Nein heißt nein", sondern für ein „Ja heißt ja" zu schaffen. Sprich, eine Kultur zu etablieren, die sexualisierte Gewalt nicht normalisiert und uns dafür aber die Werkzeuge gibt, offen und selbstbestimmt mit unserer Sexualität umzugehen.

Mehr lesen: Warum viele Vergewaltiger nicht wahrhaben wollen, dass sie Vergewaltiger sind

So zu tun, als wäre die Motivation von Verbänden, Aktivist_innen etc,. sich für die Reform einzusetzen, aus einer spontanen Empörung heraus entstanden, ist einfach nur ignorant gegenüber der unermüdlichen, harten Arbeit, die eigentlich dahinter steckt.

Weiter wird behauptet, die Debatte wäre durchaus richtig, nur der Fall von Gina-Lisa Lohfink als Aufhänger nicht. Dabei wollen diejenigen, die solche Thesen aufstellen, die Debatte rund um Sexismus und sexualisierte Gewalt sonst oft gar nicht erst führen. Geschweige denn, dass sie diejenigen wären, die unermüdlich sexualisierte Gewalt als gesellschaftliches Problem auf die Agenda setzten.

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Die Gründe, warum ein Mensch, der vergewaltigt wurde, nicht ins Krankenhaus geht, keine Anzeige erstattet etc. sind zahlreich und individuell. Aber sie sind alle in starren und stereotypen Vorstellungen davon begründet, wie Opfer und Täter_innen sich angeblich immer verhalten. Hast du dich anders verhalten, wird dir nicht geglaubt.

„Er kann nicht anders zeigen, dass er dich mag." „Er ist eben ein leidenschaftlicher Typ und kann sich nicht kontrollieren." „Warum trinkst du denn auch Alkohol?" „Bei dem kurzen Rock musst du dich aber auch nicht wundern." „MIR kann so etwas doch nicht passieren …"

Wir dürfen nicht in die Falle tappen zu glauben, dass die Debatte um sexualisierte Gewalt nun abgeschlossen wäre.

Die Realität sexualisierter Gewalt ist eben nicht wie mit der Plätzchenform ausgestochen, die nur eine einzige Form haben kann. Wir müssen als Gesellschaft endlich lernen, wie Gewaltsituationen und Traumata aussehen—und zwar auch abseits von den Bildern, die wir sonntäglich im Tatort präsentiert bekommen.

Insofern ist der Fall von Gina-Lisa Lohfink auch keineswegs ungeeignet für die Debatte, sondern zeigt vielmehr, wie sehr wir sie noch öffnen müssen, wenn wir tatsächlich über die Realität sexualisierter Gewalt reden und vor allem Lösungen besprechen möchten.

Einerseits besteht durchaus die Möglichkeit, dass durch das Urteil der Falschaussage und die Strafzahlung noch mehr Betroffene von einer Anzeige absehen. Auf der anderen Seite denke ich, dass viele betroffene Frauen gerade durch Gina-Lisa Lohfink verstanden haben, dass sie sich Hilfe suchen dürfen. Wenn sie auch nicht auf Polizei und Justiz hoffen können, dann doch wenigstens auf entsprechende Beratungsstellen.

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Wir dürfen also nicht in die Falle tappen zu glauben, dass die Debatte um sexualisierte Gewalt nun abgeschlossen wäre. Diese bequeme Haltung stellt sich leider bei den meisten von uns ein, wenn ein Thema für eine Woche oder mehr intensiv durch die Medienlandschaft ging.

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Aber: Bloß weil viel drüber geredet wurde, bedeutet dies nicht, dass das Problem gelöst ist. Auch eine Sexualstrafrechtsreform kann immer nur ein Baustein im Gesamtgefüge des Problems sein.

„In Deutschland ist jede 3. Frau von sexualisierter und/oder körperlicher Gewalt betroffen. Die polizeiliche Kriminalstatistik weist jährlich mehr als 7.300 angezeigte Vergewaltigungen und sexuelle Nötigungen in Deutschland aus. Das sind 20 am Tag, wobei die Dunkelziffer noch mal höher liegt. Im Jahr 2012 kam es lediglich bei 8,4 Prozent von allen angezeigten Vergewaltigungen zu einer Verurteilung. Wobei 85 bis 95 Prozent aller Menschen, die vergewaltigt wurden, erst gar keine Anzeige erstatten."

So hielt ich es schon in meinem letzten Artikel fest und diese Realität existiert weiterhin.

Genauso wie es darum geht, die Infrastruktur der Beratungsstellen auszubauen und auszufinanzieren, Medien in die Verantwortung zu nehmen, wenn sie über sexualisierte Gewalt berichten oder privat Zivilcourage zu zeigen, brauchen wir nämlich vor allem eine bessere öffentliche Aufklärungsarbeit, um Gewalt zu verhindern—und dafür selbstbestimmte Sexualität zu stärken.

Oder wie ich es in meinem Buch zusammenfasste: „Ohne diesen notwendigen Schritt ist die sexuelle Revolution jedenfalls nur ein abgewürgter Orgasmus."