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Film

Hey, Hollywood: Psychische Erkrankungen sind nicht "sexy"

"The Virgin Suicides" oder "Tote Mädchen lügen nicht" zeigen psychisch kranke Frauen als verträumte, faszinierende Schönheiten. Warum das so gefährlich ist.
Kirsten Dunst in "The Virgin Suicides" | Foto: imago | Cinema Publishers Collection

Zerzaustes Haar, zusammenhangloses Gebrabbel, glasiger Blick und viel nackte Haut: Auch wenn die medizinische Sicht auf psychische Krankheiten bei Frauen über die Jahre hinweg große Fortschritte gemacht hat, ist die Art und Weise, wie Hollywood sie aufgreift, größtenteils gleich geblieben. Seit Jahrhunderten schon stellen (hauptsächlich männliche) Künstler psychische Probleme bei Frauen als etwas Romantisches, ja sogar Erotisches, dar. Mehr noch: Durch ihre Faszination mit der überholten und veralteten "Hysterie"-Diagnose überschatteten Männer mit ihrer Darstellung psychisch kranker Frauen die wahren Geschichten der Leidenden.

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Es ist kein Zufall, dass Hamlets Ophelia dieses Klischee so perfekt verkörpert, denn ihre Figur wurde immens von den Anfängen der Psychologie beeinflusst. "Jeder psychologische Arzt mit durchschnittlicher Berufserfahrung dürfte viele Ophelias gesehen haben", schrieb Dr. John Charles Bucknill, Präsident der britischen Medico-Psychological Association, 1859. Dr. Hugh Diamond, der Leiter der Frauenstation des Surry County Asylums, verkleidete seine Patientinnen für Fotos sogar als Ophelia. Das berühmteste dieser Bilder zeigt eine seiner Insassinnen in einen Umhang gehüllt und mit einem Lorbeerkranz auf dem Kopf.

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Die Porträts seiner Patientinnen verwendete Dr. Diamond anschließend in der Therapie. Wenn sie sich selbst auf den Fotos in ihrer Krankheit sehen würden, trage der dadurch ausgelöste "Schock" zur Genesung bei, glaubte man damals. Konfrontiert mit ihrem eigenen Anblick würden die Patientinnen in die Realität zurückkehren. Und angehende Ophelia-Darstellerinnen wurden zur Vorbereitung auf ihre Rolle sogar in die Anstalten eingeladen, um dort die erkrankten "Ophelias" beobachten zu können.

Einer dieser Orte, an denen Schauspielerinnen, Medizinstudenten, Künstler, Menschen aus höheren Kreisen und andere Schaulustige "hysterische" Frauen beobachten konnten, war das Hôpital de la Pitié-Salpêtrière in Paris. Damals galt Hysterie als eine Krankheit der Fortpflanzungsorgane. Exzessives Verlangen – nach Sex und/oder Kindern – wurde als wahrscheinlicher Auslöser angesehen. Täuschungen, Stimmungsschwankungen und Gefühlsausbrüche gehörten zu den gemeinhin anerkannten Symptomen. Empfohlene Heilverfahren waren unter anderem Reiten und Kinderkriegen. Jean-Martin Charcot, Leiter von Salpêtrière und Vater der Neurologie war einer der ersten Ärzte, der die Ursache der Hysterie im Gehirn und nicht zwischen den Beinen sah. Nichtsdestotrotz war seine Beschäftigung mit der Krankheit hochgradig sexualisiert.

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Charcot führt eine Patientin mit Hysterie vor | Foto: Wikimedia Commons | gemeinfrei

Wie ein Dompteur im Zirkus führte Charcot jeden Dienstag seine Patientinnen vor. Menschen mit Zuckungen bekamen Mützen mit langen Federn aufgesetzt, die bei jedem Beben wild wackelten. Hysterikerinnen wurden "Experimenten" unterzogen, die mehr einer Bühnenhypnose als irgendwelchen medizinischen Ansprüchen genügten. Auch hysterische Anfälle auf Kommando gehörten dazu – wenn eine Patientin nicht das von ihr erwartete Verhalten zeigte, riskierte sie, zu den "herkömmlichen" psychisch Kranken gesteckt zu werden. Die Genesungsrate dort lag bei unter zehn Prozent.

Sogar sexualisierte Übergriffe im Namen der Wissenschaft waren normal. Unter den Assistenzärzten war in der Behandlung der hysterischen Frauen ein "Sketch" namens "marriage a trois" sehr beliebt. Asti Hustvedt beschreibt in ihrem Buch Medical Muses, wie dafür eine Hysteriepatientin hypnotisiert wurde. "Man sagte ihr, dass jede Seite ihres Körpers, ihre linke und ihre rechte Seite, ihren eigenen Ehemann habe. Dann wird sie daran erinnert, dass es ihre Pflicht sei, beiden gegenüber treu zu sein", schreibt Hustvedt. Die beiden "Ehemänner" begannen dann, ihre jeweilige Hälfte zu befummeln, was die Patientin laut einem Grapscher mit "sichtbarem Genuss" über sich ergehen ließ. "Aber wenn einer es wagte, die Seite des anderen zu berühren, musste er sich auf etwas gefasst machen! Als ich zu weit reichte, bekam ich eine schallende Ohrfeige." Jegliches körperliches oder geistiges Unbehagen, unter dem die Frauen des Salpêrtrière litten, wurde für das Spektakel der Dienstagsvorlesungen hintenangestellt.

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Charot tat sich sogar mit dem Künstler Paul Richer zusammen, um die verschiedenen Posen zu dokumentieren, die eine Hysterikerin in ihren Anfällen angeblich durchlief. Seine Darstellungen hatte sich Richer nicht nur bei Charcots Beobachtungen abgekupfert, sondern auch bei Bildern religiöser Ekstase aus der Kunst des frühen Mittelalters. Im Vorwort zu ihrem gemeinsamen Buch über hysterische Posen zieht Charcot eine direkte Linie von der heiligen Katharina von Siena zu den Hysterikerinnen seiner Zeit. Dahinter steckte der Versuch, eine "universelle" Hysterie-Theorie aufzustellen. Dass die dargestellten Frauen eher spärlich bekleidet waren, versteht sich leider fast von selbst.

Die Hysterie-Diagnose fiel im Laufe des 20. Jahrhunderts dank feministischer Aktivistinnen und Reformen in der Psychologie in Ungnade und wurde immer seltener gestellt. Nichtsdestotrotz blieb die romantische Vorstellung von der psychisch kranken Frau intakt, das Kino wurde zur neuen Heimat einer allgegenwärtigen Figur: die tragische Schönheit, die mit einer höchst geschlechtsspezifischen, psychischen Krankheit zu kämpfen hat. Diesen Charakter werde ich von nun an das "Sexy Doomed Sad Girl" (zu Deutsch: das sexy, verdammte, traurige Mädchen) nennen.

Gerade das Hollywood der Nachkriegszeit machte großzügig vom Sexy Doomed Sad Girl Gebrauch. In Filmen wie Vertigo oder Lilith war die Anziehungskraft einer Frau gleichbedeutend mit ihrem finsteren und vorherbestimmten Schicksal. "Der Twist ist, dass sie schön ist", erklärt Bechdelcast-Co-Host Jamie Loftus. "Sie ist so traurig, aber sie ist auch wunderschön. Gibt es unattraktive psychisch kranke Figuren, die jemals gerettet werden? Bekommen sie jemals die ihnen zustehende Aufmerksamkeit in der Handlung oder von irgendjemandem im Film?" Diese Filme handeln viel mehr von den Männern, die eine solche tragische Frau lieben – weniger von echten psychischen Problemen. Am Anfang von Vertigo zum Beispiel wird James Stewarts Figur gesagt, dass seine blonde Eiskönigin vom Geist ihrer suizidalen Urgroßmutter besessen ist. Stewart ist allerdings von dieser reichlich durchgeknallten Erklärung nicht abgeschreckt. Ganz im Gegenteil: Er ist so verliebt in seine verdammte Heldin, dass er sogar seine nächste Freundin nach deren suizidalem Bild formt.

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Fotos von "Hysterie"-Patientinnen | Foto: Wikimedia Commons | gemeinfrei

Doch statt wirklich ausgereiften Figuren sind die Sexy Doomed Sad Girls unvollständige Puzzle. Wie die Hysterikerinnen von damals sind sie in erster Linie eine Symptomsammlung – und sehr verführerisch. "Generell werden die Frauen eher objektifiziert, als analysiert – es sei denn, besagte Dame ist (zumindest augenscheinlich) ein bisschen durchgeknallt", schreibt Terrence Rafferty in seiner Kritik zu Eine Dunkle Begierde. Rafferty argumentiert weiter, dass sich Film als Medium tendenziell nur mit dem geistigen Innenleben einer schönen Frau befassen würde, wenn sie psychisch krank sei. Demzufolge seien auch psychische Erkrankungen nur dann interessant, wenn sie in Form einer schönen Frau daher kämen. Die von ihm angeführten Beispiele sind Olivia de Havilland in Die Schlangengrube, Jessica Lange in Frances, Naomi Watts in Mulholland Drive und Natalie Portman in Black Swan.

"Einige erkrankte Frauen in diesen Filmen bekommen die richtige Behandlung – psychiatrisch und filmisch –, aber viele bekommen sie nicht", so Rafferty weiter. "Selbst wenn die Analyse versagt, bleibt die Schaulustigkeit." Filmexpertin Loftus stimmt dieser Beschreibung zu und führt die verträumte Ästhetik von The Virgin Suicides als Beispiel an. "Film ist ein visuelles Medium und muss nach etwas aussehen", sagt sie. "Aber The Virgin Suicides sieht zu schön aus. Der Film ist sehr verträumt. Es gibt jede Menge Millennial-Rosa, Zeitlupen und einen Indie-Soundtrack. Psychische Krankheiten sollten nicht mit den Shins unterlegt werden."

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"Gibt es unattraktive psychisch kranke Figuren, die jemals gerettet werden?"

Unsere Tendenz, uns aufs "Zuschauen" zu konzentrieren, reicht bis in unsere heutige Zeit und setzt sich auch in anderen Medienformen fort: Die Netflix-Serie Tote Mädchen lügen nicht inszeniert die Geschichte eines sexuellen Übergriffs auf ein Mädchen (und die darauf folgende posttraumatische Belastungsstörung und ihren Selbstmord) als eine Art Schnitzeljagd für den männlichen Protagonisten. "Anstatt das tragische Ende eines Lebens zu zeigen, sehen wir eine Schule, die vom Drama eines Selbstmords wie gelähmt ist", schreibt Alexa Curtis im Rolling Stone.

Es gibt natürlich auch Darstellungen von Frauen mit psychischen Krankheiten, die nicht in altbackene Klischees verfallen. Gerade, wenn betroffene Frauen dann auch noch ihre eigenen Geschichten erzählen, können sie das Thema bereichern. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben viele psychisch erkrankte Frauen durch Memoiren die Kontrolle über ihre Erfahrungen übernommen. Sylvia Plaths semiautobiographischer Roman Die Glasglocke, die Gedichte von Anne Sexton, Werke wie Verdammte schöne Welt von Elizabeth Wurtzel und The Center Cannot Hold von Elyn Saks beschreiben die Erlebnisse aus erster Hand.

Die daraus resultierenden Werke geben Frauen endlich die Möglichkeit ihre persönliche Geschichte zu erzählen und das Narrativ selbst zu setzen: In Susanna Kaysens Memoiren Durchgeknallt wehrt sie sich gegen ihre Borderline-Diagnose und Einweisung. Auch wenn sie gleichzeitig zugibt, dass sie Hilfe brauchte und – in ihren eigenen Worten – "wahnsinnig" war, lässt sie die Ärzte nicht mit ihrer Entmündigung davon kommen. Ein Kapitel mit dem Titel "Glauben Sie ihm oder mir" dreht sich nur darum, zu beweisen, dass ihr Arzt gelogen hatte, als er behauptete, sich drei Stunden mit ihr unterhalten zu haben, bevor er ihre Einweisung empfahl.

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Werke wie diese zwingen die Leser dazu, sich mit psychischen Krankheiten und all den damit einhergehenden Komplikationen auseinanderzusetzen. Da immer mehr Frauen ihre eigenen Sendungen schreiben oder sie produzieren, wird sich auch die Repräsentation ihrer Erfahrungen weiter verbessern. "Lady Dynamite schafft das richtig gut", sagt Loftus über die semiautobiographische Netflix-Comedyserie von Maria Bamford. "Auch wenn es in einer albernen, manischen Art geschieht, so wird es immerhin als Prozess und nicht als Phase dargestellt."

Eine psychische Krankheit ist nämlich keine Phase. Sie kann albern, schmerzhaft, eklig und auch sonst fast alles sein – nur "sexy" ist sie nicht. Es ist ein zutiefst komplexes Thema. Jeder, der Durchgeknallt liest, versteht, dass Kaysens Leben nicht nur aus Blumengirlanden und nachdenklichen Blicken in die Ferne besteht. Die vermeintlichen Hysterikerinnen des Salpêtrière konnten ihre Geschichten nicht erzählen. Stattdessen mussten sie sich selbst so spielen, wie Außenstehende ihre "Verrücktheit" wahrnahmen oder wahrnehmen wollten. Wenn Frauen die Kontrolle über ihre eigene Schilderung haben, scheint die Wahrheit in all ihrer unerotischen und chaotischen Pracht durch. Und darin liegt eine ganz eigene, wenn auch andere, Schönheit.

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