Smartphone mit Screenshot von TikTok
Hand: PubicDomainPicture.net / CC0 | Hintergrund: terdpongvector /Freepik || Bearbeitung: VICE
Tech

TikTok: Ich habe China kritisiert, dann wurden meine Videos versteckt

Mit den Hashtags #ChinaCables und #FreeXinjiang habe ich über China berichtet. Will TikTok nicht, dass andere das sehen?

TikTok ist im Verteidigungs-Modus. Die meistgehypte Social-Media-Plattform des Jahres wehrt sich seit Wochen gegen den Vorwurf der politischen Zensur.

Am 23. November berichtete netzpolitik.org über geleakte interne Dokumente. Sie zeigen, wie TikTok systematisch die Reichweite von Videos einschränken kann, etwa wenn sie politische Proteste zeigen. Unterdrückt der chinesische Konzern also China-kritische Videos, zum Beispiel über die Proteste in Hongkong? TikTok streitet das ab.

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Wir wollten es selbst herausfinden und haben es getestet: Was passiert, wenn wir auf TikTok China kritisieren?

In einem Statement der Plattform heißt es: "TikTok moderiert keine Inhalte basierend auf politischen Angelegenheiten oder Sensitivitäten." Man entferne weder Videos rund um die Proteste in Hongkong, noch unterdrücke man ihre Reichweite. Im Gespräch mit VICE sagt eine Pressesprecherin von TikTok, wir könnten es ja gerne ausprobieren und selbst etwas hochladen.

Gesagt, getan. Seit dem 26. November haben wir insgesamt sieben Videos auf TikTok veröffentlicht. Sie befassen sich kritisch mit China und den Zensurvorwürfen gegenüber TikTok. Dass wir Journalisten sind, haben wir nicht verheimlicht. Unser Account trägt den Klarnamen und das Bild des Autors. In der Profilbeschreibung steht: "I am a journalist from Germany."

Das ist mit unseren Videos auf TikTok passiert

Eines unserer TikTok-Videos erklärt, dass der Vergleich zwischen dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping und Winnie the Pooh in China verboten ist. In einem anderem Video besprechen wir, ob "kultureller Genozid" ein passender Begriff für die Verbrechen Chinas an der uigurischen Bevölkerung ist. In der Region Xinjiang betreibt China ein brutales Lagersystem, Hunderttausende Uigurinnen und Uiguren wurden dort zwangsinterniert. Das belegen interne Dokumente der chinesischen Regierung, die Ende November unter dem Schlagwort ChinaCables veröffentlicht wurden. Wie würden TikToks Moderatoren mit unseren Videos umgehen?

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Nach gut zwei Wochen wissen wir: Keines unserer sieben Videos ist auch nur ansatzweise viral gegangen. Sie haben nur zwischen 200 und 900 Views gesammelt. Das allein muss aber nichts heißen. Es lässt sich nicht überprüfen, ob TikTok-Moderatoren unsere Videos gezielt herabgestuft haben – oder ob schlicht wenige Menschen sie interessant fanden.

Eine seltsame Beobachtung haben wir aber gemacht: Unsere Videos sind in mindestens neun Fällen aus den Hashtag-Suchergebnissen der App verschwunden. Die Pressestelle von TikTok erklärt das auf Anfrage von VICE mit einem "Bug", dazu später mehr.

Als hätte man heimlich ein Buch aus dem Regal genommen

Nutzerinnen und Nutzer können ihre TikTok-Videos ähnlich wie auf Twitter und Instagram mit Hashtags versehen, damit sie für andere auffindbar sind. Von diesen Hashtags handelte auch unser erster Upload auf TikTok. Wir hatten uns gewundert, warum wir am 26. November nur zwei Videos unter dem Hashtag #freexinjiang finden konnten und nur ein einziges unter dem Hashtag #chinacables.

Haben zu diesen wichtigen Themen wirklich nur so wenige Menschen etwas hochgeladen? Oder verschwinden entsprechend markierte Videos aus den Hashtag-Suchergebnissen? Schließlich ist laut netzpolitik.org-Berichten "Benachteiligung in der Suche" eine der Maßnahmen, die TikTok bei unliebsamen Inhalten ergreift. Unsere Fragen haben wir in unser erstes TikTok-Video gepackt und dieses Video wiederum mit den Hashtags #freexinjiang und #chinacables versehen.

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Gut zwei Wochen lang war unser Video fortan zu finden, wenn man in der TikTok-App die Hashtag-Suchergebnisse zu #chinacables und #freexinjiang aufrief. Am 10. Dezember aber ist unser Video plötzlich aus diesen Ergebnissen verschwunden.

Screenshot von Tiktok

Keine Spur von unseren Videos | Screenshot: TikTok

Das ist umso absurder, weil unser verschwundenes Video selbst davon handelt, dass Videos verschwinden. Wenn App-Nutzer sich per Hashtagsuche über #chinacables informieren möchten, erfahren sie seitdem nicht mehr, dass es hierzu etwas von uns zu sehen gibt.

Unter #chinacables sind am 11. Dezember nur noch drei Videos zu finden. Zwei stammen übrigens von Accounts, die unter besonderer öffentlicher Beobachtung stehen: Der TikTok-Account der Tagesschau und der Account der Journalistenschule Axel Springer Akademie.

Hast auch du ungewöhnliche Erfahrungen auf TikTok gemacht? Wir werden weiter über das Thema berichten und freuen uns, von dir zu hören. Du erreichst Sebastian per E-Mail oder verschlüsselt via Signal: +49 152 1012 4551.

Ebenso aus den Hashtag-Suchergebnissen verschwunden ist unser Video mit dem Hashtag #culturalgenocide. Den Hashtag haben wir in unserem Video über Chinas Internierungslager verwendet. Damals waren wir anscheinend die ersten Uploader zu diesem Hashtag. Jetzt ist die Seite unter #culturalgenocide weiß und leer, als hätte hierzu niemand je etwas veröffentlicht. Im Weißraum steht der Satz "Sei der Erste, der ein Video erstellt!".

TikTok Screenshot

Aber wir waren doch die Ersten… | Screenshot: TikTok

Wäre TikTok eine Bibliothek und wären die Hashtags Bücherregale, dann hätte man heimlich unsere Werke aus dem Regal genommen. Warum?

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TikTok spricht von einem "Bug"

Die Pressestelle von TikTok hat dafür eine Erklärung: "In Deutschland und einigen anderen Ländern gibt es einen Bug, der dazu führt, dass es bei der Hashtag-Suche unterschiedliche Ergebnisse in der App und auf der Webseite gibt". Lässt sich das Verschwinden unserer Uploads aus der Hashtagsuche also mit einem technischen Fehler begründen?

Zumindest den Punkt mit den unterschiedlichen Ergebnissen in der App und auf der Website können wir bestätigen. Wenn wir in der TikTok-App etwa nach #freexinjiang suchen, erscheinen am 11. Dezember nur sechs Ergebnisse. Drei unserer Videos sind nicht dabei. Öffnen wir aber den Chrome Browser und tippen in die URL-Zeile tiktok.com/tag/freexinjiang, dann erscheinen zwölf Ergebnisse – inklusive unserer Videos.

Wir haben das auch mit den anderen Hashtags aus unseren Videos durchgetestet: Auf der Website tauchen alle unsere verschwundenen Suchergebnis-Einträge wieder auf. Ziemlich überschaubar ist die gesamte Anzahl der Suchergebnisse weiterhin.

Also alles halb so wild? Nicht ganz. Die wenigsten werden TikTok im Browser durchsuchen. Nur in der App lassen sich die wichtigsten Funktionen der Plattform bequem nutzen. Die verschwundenen Suchergebnisse in der App können also durchaus bewirken, dass deutlich weniger Nutzerinnen etwas von den Themen mitbekommen.

Ob Bug oder nicht – die verschwundenen Suchergebnisse haben reale Auswirkungen auf die Auffindbarkeit kritischer Videos. Das erinnert an sogenanntes Shadowbanning. So nennt man es, wenn eine Plattform unliebsame Beiträge nicht etwa löscht, sondern einfach schwerer auffindbar macht, sozusagen in den Schatten rückt.

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Der TikTok-"Bug" hat bei unseren sieben Uploads übrigens ziemlich oft zugeschlagen. Gleich zu neun Hashtags sind Videos von uns aus den Suchergebnissen der App verschwunden:

freexinjiang

uiguren

chinacables

xinjiang

tiktokcensorship

uyghur

xijinping

culturalgenocide

democracy

Tiktok Screenshot

TikTok-Suchergebnisse zu #freexinjiang: links am 26. November, rechts am 11. Dezember. Wo sind unsere Videos hin? | Screenshots: TikTok

In den Suchergebnissen anderer Hashtags sind unsere Videos weiterhin zu finden, etwa #istandwithhongkog und #freehongkong. Über die Proteste in Hongkong wird seit Monaten intensiv berichtet; die Verbrechen an den Uiguren stehen erst seit wenigen Wochen vermehrt im Mittelpunkt von Medienberichten.

Wir wollen mehr über diesen sonderbaren Bug erfahren, der – offenbar rein zufällig – unsere kritische Berichterstattung über TikTok und China versteckt. Warum gibt es den Bug nicht in allen Ländern? Warum wird er nicht schnellstmöglich behoben, um Zensurvorwürfe auszuräumen?

TikTok lässt unsere Fragen von einer PR-Agentur per E-Mail beantworten. Bei den verschwundenen Videos handele es sich "um einen technischen Fehler, der in keinem Zusammenhang mit der Moderation von Inhalten steht". TikTok arbeite an einer Lösung des Problems und bittet die Community um Geduld.


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Der Fehler trete nur in Deutschland und Frankreich auf, erklärt TikTok weiter. Betroffen seien Videos, die seit über 90 Tagen auf der Plattform sind und die innerhalb der letzten sieben Tage keine Aktivität aufweisen. Damit sind Wiedergaben, Likes und Kommentare gemeint.

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Das können wir so nicht bestätigen. Unsere vom "Bug" betroffenen Videos sind jünger als 90 Tage. Aber auch das zweite Kriterium trifft nicht auf alle von uns beobachteten Fälle von verschwundenen Videos zu. Eines unserer Videos ist am 12. Dezember nicht mehr unter dem Hashtag #democracy gelistet, wohl aber unter dem Hashtag #tiktokcensorship. Demnach müsste es für das Verschwinden andere Gründe geben als sieben Tage ohne Aktivität.

So weicht TikTok unseren Fragen aus

Wir wollten außerdem wissen, ob TikTok das verstehen kann, wenn Nutzer den "Bug" als Zensur empfinden? TikTok beantwortet diese Frage nicht mit Ja. Der Konzern schreibt stattdessen, man verstehe, dass Menschen "Fragen" haben.

TikTok betont: "Wir [sind] von der chinesischen Regierung nie dazu aufgefordert worden, Inhalte zu entfernen oder einzuschränken." Nicht erwähnt wird dabei, dass TikToks CEO Zhang Yiming der chinesischen Regierung bereits öffentlich vorauseilenden Gehorsam gelobt hat. Wie unter anderem die Financial Times berichtete, verschrieb sich Zhang 2018 in einem öffentlichen Brief der "public opinion guidance", also der "Lenkung der öffentlichen Meinung".

Es gibt noch eine Frage, der TikTok ausweicht: Hat TikTok in der Vergangenheit Videos aus den Hashtag-Suchergebnissen entfernt, die sich kritisch mit China befassen? Die Antwort: "In frühen Tagen haben wir unsere Regeln restriktiv formuliert, um Konflikte zu minimieren und damit Hassrede entgegenzuwirken." Ein klares Nein ist das nicht.

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