Menschen

Ich habe Angst vor dem Alleinsein an den Feiertagen

Weihnachten mit der Familie holt mich immer zurück auf den Boden – dieses Jahr hätte ich das noch mehr gebraucht als sonst.
Der Autor bleibt Weihnachten in Berlin, weil er seine Eltern nicht anstecken möchte
Foto: Yasmin Nickel

Dieses Jahr war wirklich kein gutes Jahr. Das wird mir vor allem jetzt bewusst, da mir mein allerletzter Lichtblick genommen wird: das Weihnachtsfest in meiner Heimat. Zu Hause bei Papa unterm Baum mit einem Kakao am Kaminfeuer sitzen wie in einem kitschigen Weihnachtsfilm. Ich wollte entspannen, meine alten Freunde sehen, nach einem anstrengenden Jahr ein bisschen Kind sein.

Stattdessen sitze ich jetzt vor meinem Computer, schreibe diesen Text und weiß nicht so ganz, wohin mit mir. Ich bin traurig, weil ich die Weihnachtsfeiertage alleine verbringen werde, statt in die Heimat zu fahren.

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Seit März beschäftigt uns Corona – ein Virus, der die Welt, wie wir sie kennen, bedroht und fast zum Einstürzen gebracht hat. Soziale Kontakte werden aktuell zum zweiten Mal durch einen Lockdown stark zurückgefahren, Läden und Restaurants geschlossen und etwas sehr Schönes, das Weihnachtsfest, wird zur gesundheitlichen Bedrohung für alle.

Familien kommen auf engem Raum zusammen und feiern. Damit steigt das Risiko für Ansteckungen, die vor Weihnachten ohnehin ein Rekordhoch erreicht haben: Mitte Dezember starben an einem Tag knapp 600 Menschen in Deutschland. Am selben Tag wurden 30.000 Neuinfektionen gezählt. Das sind zweimal so viele Menschen, wie in meiner Heimatstadt leben. Nach Hause fahren und stundenlang mit sehr vielen Menschen im Zug sitzen? No way! Die Gefahr einer Ansteckung, und damit auch meine Familie anzustecken, ist zu groß.

Stattdessen werde ich an den Weihnachtsfeiertagen zu Hause bleiben. Allein in Berlin. Zum ersten Mal in meinem Leben, statt zu meiner Familie ins Münsterland zu reisen.

Wie viele andere Menschen habe ich Angst vor dem Alleinsein. Es gibt Momente, in denen ich es genieße – klar! Abends ein Bad, danach ein Buch zur Hand nehmen oder eine Netflix-Serie schauen. Das kann toll sein. Wenn ich aber gezwungen werde, allein zu sein, und dann auch noch mein Lieblingsfest Weihnachten mit mir selbst verbringen soll, finde ich das nicht toll. Ganz im Gegenteil. Es macht mir Angst. 

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2020 war eine emotionale Achterbahnfahrt. Das Jahr fühlte sich wie eine manische Depression an. Während im Frühjahr noch alles ungewiss und bedrückend war, die Regale in den Supermärkten leer und die Menschen zu Hause, fühlte sich der Sommer umso besser an: Die Maßnahmen wurden gelockert, Menschen kamen wieder zusammen, die Geschäfte öffneten. Wir wurden aber auch unvorsichtig, das zeigen die aktuellen Zahlen. Corona konnte sich durch Partys, Demos und sogenannte Superspreader-Events schnell verbreiten. Jetzt zahlen wir die Rechnung mit dem nächsten sozialen und emotionalen Tief.

Ich bleibe über Weihnachten zu Hause, weil ich Verantwortung übernehmen möchte – für mich und für andere.

In meinem Kopf spinne ich mir Pläne zurecht, wie ich die Weihnachtsfeiertage Taylor Swift in Dauerschleife hören, Schaumbäder nehmen und Spaziergänge machen werde. Ich stelle mir Schneeflocken vor, weiße Straßen und ein leergefegtes Berlin. Hach, das klingt alles so toll.

Wie das mit der Fantasie aber nun mal so ist, weiß ich auch, dass die Realität dagegen meist ziemlich beschissen aussieht. Ich kann mir die Zukunft so bunt ausmalen, wie ich möchte. Ich kann mir Weihnachtsfilme wie Kevin - Allein zu Haus und Liebe braucht keine Ferien in Endlosschleife ansehen und dabei Ben & Jerry’s essen – aber wird mich das auch glücklich machen?

Darum geht es immerhin an Weihnachten: mit anderen Menschen zusammen zu sein, ein Gefühl der Gemeinschaft und der Zugehörigkeit zu haben, zurück zu seinen Wurzeln zu finden. Meine Heimat holt mich immer wieder zurück auf den Boden. Dort fühle ich mich tief verbunden: an der frischen Luft, die so vertraut und anders riecht als die der Großstadt, mit den Menschen dort, in meinem Elternhaus. Dort kann ich für ein paar Tage die Sorgen des Erwachsenenlebens vergessen. Und besonders 2020 brauchen wir das eigentlich alle sehr dringend.

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Wie schaffe ich es nun, mir selbst dieses positive Weihnachtsgefühl zu geben, ohne jemanden zu gefährden?

Ich spreche mit meinen Freunden über meine Ängste und Sorgen. Ich spreche das aus, wovor ich mich fürchte: traurig zu sein, mich allein zu fühlen und kein schönes Weihnachtsfest zu haben. Dabei merke ich: Ich bin nicht der einzige, der Weihnachten allein verbringen wird. Einige Freundinnen, Freunde, Kollegen und Kolleginnen bleiben ebenfalls zu Hause. Einige mit Partnerin oder Partner, andere allein. Sehr viele Menschen haben Angst und sind traurig, ihre Familien nicht zu sehen. Das Gefühl des Alleinseins wird damit zu einer Chance, sich mit anderen zu verbinden und genau darüber zu sprechen: Hey, wie geht es dir mit der Situation? Scheiße? Mir auch! Verdammt scheiße sogar! Ich habe heute schon dreimal geheult. Oh, du auch?

Dieses Jahr hat sich sehr viel angestaut: Wut, Trauer, Angst – Gefühle, die mich immer wieder überwältigt haben. Wie geht es weiter? Werden meine Freunde und Familie gesund bleiben? Wie sieht das Leben nach der Pandemie aus? Corona ist manchmal wie ein Kreuzworträtsel, auf das es keine Antworten gibt. Ich versuche, die Weihnachtsfeiertage, meine eigene Version von Kevin - Allein zu Haus, als Chance zu sehen, mich mit all diesen Fragen und Gefühlen auseinanderzusetzen. Genauso wie Kevin, der sein Haus allein vor Einbrechern schützt, muss ich dieses Weihnachten darauf aufpassen, dass es mir emotional gut geht.

Allein zu sein bedeutet nicht zwangsläufig einsam zu sein. Und nur, weil ich nicht in die Heimat fahren oder mit Freunden feiern kann, heißt das nicht, dass ich nicht trotzdem meine Freunde sehen kann. "Lass uns doch für den 24. Dezember einen Zoom-Call vereinbaren", schlägt mir mein bester Freund vor. Das ist eine sehr gute Idee, die Erleichterung schafft: Ich versuche, meinem Weihnachtsfest Struktur zu geben! Spaziergänge und Kevin - Allein zu Haus, ja. Aber auch Telefonate mit Freunden und meiner Familie plane ich ein, um mir die Angst vor Du-weißt-schon-welchem-Fest zu nehmen. Stattdessen versuche ich, mir mein Weihnachten zu bewahren: Gemeinsam allein mit Menschen zu sein, die mich glücklich machen. Das schafft Verbundenheit. Corona ist zwar der Grinch, der das Weihnachtsfest stiehlt, er kann mir aber nicht die Menschen nehmen, die mir wichtig sind, wenn ich zu Hause bleibe.

Mein Vater und ich haben dieses Ritual: Jedes Jahr fahren wir viel zu spät los und versuchen panisch, noch einen schönen Weihnachtsbaum zu finden. Für gewöhnlich nervt mich dieses Ritual, heute vermisse ich es. In diesem Jahr wird mein Fest von den Erinnerungen an vergangene Feste und der Hoffnung auf zukünftige Feste leben. Das gibt mir ein bisschen Wärme. Statt für eine kurze Zeit Kind zu sein, werde ich dieses Jahr erwachsen und vernünftig sein müssen. Bis zum nächsten Jahr, wenn Weihnachten 2020 nur noch eine Erinnerung ist.

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