Das Bild zum Thema Polizeigewalt zeigt, wie Polizisten in den USA Tränengas auf Demonstrierende sprühen.
Foto: imago images | ZUMA Press
Politik

Du bist wütend über Polizeigewalt in den USA? Dann solltest du auch diese deutschen Fälle kennen

Es ist nicht nur Minneapolis. Es sind auch Dessau, Kleve, Berlin, Gotha, Weimar, Bonn, Hamburg – und viele weitere Orte in Deutschland.

Hunderttausende demonstrieren nach dem Tod von George Floyd gegen rassistische Polizeigewalt. Auch in Berlin versammelten sich etwa 1500 Demonstrierende vor der US-Botschaft. Sie sind wütend auf den systemischen Rassismus in den USA – aber auch jenen bei uns.

Manchmal scheint es, als wären Gewalt und Rassismus andernorts einfacher auszumachen. Im Video vom Tod George Floyds sehen wir klar einen Täter und ein Opfer. Wir können mit dem Finger auf sie zeigen und das Fehlverhalten klar erkennen.

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Deutsche Politiker finden klare Worte: "Ich habe selbst lange in den USA gelebt und weiß, dass die Polizei dort ein Gewaltproblem hat ", sagte zum Beispiel der FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff.

Geht es um Rassismus und Polizeigewalt in Deutschland, scheinen die Worte oft milder. Rassismus? Muss man im Einzelfall entscheiden. Racial Profiling? Oder doch nur verdachtsunabhängige Personenkontrollen? Rechte Netzwerke in der Polizei? Bitte kein Gerneralverdacht.


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Opferberatungen und Netzwerke Schwarzer Menschen in Deutschland haben daher den Hashtag #beiunsauch gestartet. Sie wollen, dass auch über die deutschen Fälle von Rassismus und Fehlverhalten der Polizei gesprochen wird.

Der New Yorker Bürgermeister Bill de Blasio sagte, es gebe einige Polizistinnen und Polizisten, die nicht in diesen Job gehören. "Es gibt einige, die gegenüber den Menschen, denen sie dienen, respektlos sind. Es gibt einige, die Rassismus in ihren Herzen hegen."

Polizisten mit Rassismus im Herzen? Haben wir auch

Erst vergangenes Jahr enttarnte die taz eine rechte Gruppe in Polizei und Bundeswehr: "Hannibals Schattennetzwerk". Und Anfang dieses Jahr musste Bayern ganze 67 Polizisten entlassen, die definitiv nicht in diesen Job gehörten.

Oft trifft Fehlverhalten der Polizei auch in Deutschland Menschen, die sich am wenigsten effektiv wehren können – oder ohnehin schon von Diskriminierung betroffen sind: People of Color oder Schwarze Menschen. Menschen ohne Aufenthaltsstatus. Aber auch Menschen, die psychische Krankheiten haben.

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Wenn du also wütend darüber bist, was in den USA passiert ist, solltest du dich auch über diese sechs deutschen Fälle ärgern:

Dessau: Tod in Gewahrsam

Am 7. Januar 2005 brachten zwei Polizisten den Asylsuchenden Oury Jalloh in die Gewahrsamszelle Nummer 5 des Polizeireviers in Dessau und fixierten Hände und Füße mit Handschellen. Zwei Stunden später war Jalloh tot.

Viele Fragen wurden im Ermittlungsverfahren nicht geklärt. Unter anderem: Wie viel Schuld trägt die Polizei an Jallohs Tod – könnte es Mord gewesen sein? Ein Freund von Jalloh und mehrere Initiativen kämpfen seit 15 Jahren für Antworten. Auch eine WDR-Journalistin, die den Fall gründlich recherchierte, macht der Polizei Vorwürfe: Korpsgeist, verschwundene Asservate und Rassismus.

Der ungelöste Fall wurde 2019 zu den Akten gelegt. Die Gruppe "Death in Custody" behauptet, seit 1993 seien in Deutschland 138 von Rassismus betroffene Menschen in Polizeigewahrsam gestorben.

Kleve: Noch ein Feuer in einer Gewahrsamszelle

Auch Ahmed Amad erlag im September 2018 in Kleve seinen schweren Brandverletzungen, die er in einer Gefängniszelle in Kleve erlitten hat. Dort saß er fälschlicherweise, denn die Polizei hatte ihn mit einem Mann aus Mali verwechselt.

Gerade erst kam heraus: Die Polizei wusste offenbar Wochen vor seinem Tod, dass sie den Falschen inhaftiert hatte. Den Untersuchungsausschuss dazu hatte die CDU schon canceln wollen. Die Ermittlungen sind schon seit November eingestellt. Ergebnis: Eine Kette von Fehlern, aber keine vorsätzliches Fehlverhalten.

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Überall: Rassistische Kontrollen

Rassismus in der Polizeiarbeit fängt allerdings noch viel früher an. So hat der Anti-Diskriminierungs-Ausschuss des Europarats Deutschland erst vor einem Monat dazu angehalten, endlich mehr Antirassismus-Trainings mit seinen Polizisten und Polizistinnen zu machen. Unter anderem sollten sie endlich lernen, rassistische Kontrollen zu unterlassen, erklärte die finnische Mitautorin Reetta Toivanen. Sogenanntes Racial Profiling ist in Deutschland eigentlich rechtswidrig – aber noch immer Alltag in der Polizeiarbeit. Das führe auch dazu, dass Opfer diskriminierender und rassistischer Gewalt in Deutschland sich oft nicht zur deutschen Polizei trauten, erklärte der Ausschuss.

Ziemlichen Aufruhr verursachte eine Studie im vergangenen Jahr: Die Forscher wollten errechnen, wie hoch die Dunkelziffer von Polizeigewalt in Deutschland ist. Ergebnis der (auch umstrittenen) Studie: 12.000 Fälle von Polizeigewalt gebe es jedes Jahr, jede fünfte Verletzung sei schwerwiegend.

Berlin: Notwehr oder nicht?

Wenn deutsche Polizisten töten, lässt die Aufklärung oft zu wünschen übrig. Das zeigt der Fall Maria: Im Januar schossen ein Polizist, begleitet von drei bewaffneten Kollegen, auf eine Frau, die an Multipler Sklerose litt und nicht einmal 50 Kilogramm wog. War die junge Frau eine Gefahr für den Polizisten? Handelte er wirklich aus Notwehr?

Ob das jemals aufgeklärt wird, ist fraglich. Der Fall reiht sich in eine Reihe von Fällen, bei denen es scheint, als habe die Polizei unverhältnismäßig gehandelt – ohne dass es für die Beamtinnen und Beamten Konsequenzen hat. Notwehr, vermeintliche oder echte, ist in diesen Fällen oft ein Argument, um Ermittlungen abzuwürgen. Es gab in Berlin noch mehr solche Fälle:

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Da ist der betrunkene André Conrad, der 2012 von sechs Kugeln getroffen wurde. Und der schizophrene Manuel F., der 2013 im Berliner Neptunbrunnen badete. Beide hatten Messer dabei, beide starben durch Polizeischüsse.

Zwischen 2009 und 2017 starben 74 Menschen durch Polizeischüsse. Laut Recherchen der taz fanden sich bei etwas mehr als der Hälfte Hinweise auf psychische Erkrankungen. Wer in Deutschland von Polizisten erschossen wird, sei mit hoher Wahrscheinlichkeit psychisch krank oder in einer akuten psychischen Ausnahmesituation, schreibt die taz.

Gotha, Weimar: Machtmissbrauch und Vorwürfe sexualisierter Gewalt

Die taz berichtet weiterhin von einem Fall in Weimar, in dem eine junge Frau den dortigen Polizeibeamtinnen und Beamten sexuelle Nötigung vorwirft. Sie habe sich bei einer Hausdurchsuchung ausziehen müssen und sei belästigt worden. Die junge Frau ist noch immer in psychiatrischer Behandlung, die Ermittlungen laufen.

In Gotha stehen derzeit zwei Polizisten vor Gericht, denen Vergewaltigung im schweren Fall vorgeworfen wird. Laut Anklageschrift waren sie im Dienst und führten ihre Waffe bei sich, als sie eine heute 33-Jährige vergewaltigten.

Immer wieder gibt es Berichte von Polizisten, die ihre Position nutzen, um Frauen zu belästigen: in Mecklenburg Vorpommern , in Sachsen und in Bayern.

Bonn, Hamburg: Journalismus? Eher unerwünscht

Bei den Protesten in den USA werden auch Journalistinnen und Journalisten Opfer von Gewalt, die über die Proteste berichten. Ein Reporter der Deutschen Welle wurde während einer Live-Schalte von hinten mit Gummigeschossen beschossen. "This is press guys, stop shooting at us!" ruft der Reporter in der dystopisch-absurden Szene über seine Schulter.

Könnte bei uns nicht passieren? Nach Beginn der Proteste in den USA twitterte der Schwarze Journalist Marvin Oppong ein älteres Video davon, wie drei Polizisten offenbar auf seinem Körper knien: "Nachdem mir Kamera weggenommen wurde, mit der ich den Polizeiunfall dokumentiert habe", schreibt er. Nach den G20 Protesten in Hamburg berichteten Reporterinnen und Reporter von Beschimpfungen, Drohungen und Tritten. Ein Journalismusverbands-Sprecher fragte sogar: "Hat die Polizei gezielt Jagd auf Journalisten rund um den G20-Gipfel gemacht?".

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In anderen Fällen wurde unliebsamen Reportern wie dem freien Spiegel-Online-Fotoreporter Chris Godrotzki schonmal die Akkreditierung entzogen. Gerade kassierte die taz-Journalistin Annett Selle ein örtlich begrenztes Berufsverbot. Nachdem sie über Demonstrationen gegen das Kraftwerk Datteln 4 berichtet hatte, sei sie zur Gefahr für die öffentliche Sicherheit erklärt worden.

Hessen: Rechte Drohbriefe – von der Polizei

Einer der größten Polizei-Fails des vergangenen Jahrs sind die Drohbriefe an die Frankfurter Anwältin Seda Başay-Yıldız. Sie hatte als Nebenklägerin NSU-Opfer vertreten und auch islamistische Gefährder verteidigt. Im August 2018 bekam Başay-Yıldız das erste einer Reihe von Drohschreiben, unterschrieben mit "NSU 2.0".

Die Spur führte zu fünf Polizisten und einer Polizistin. Ermittlungen zeigten, dass Daten der Anwältin ausgerechnet von einem Computer in einem Polizeirevier in Frankfurt abgefragt worden waren. Eine mutmaßliche rechtsextreme Chatgruppe der Polizistinnen wurde aufgedeckt, fünf Beamte vom Dienst suspendiert. Ein Beamter wurde schließlich vorläufig festgenommen (und später wieder freigelassen): Ihm werden Bedrohung und Volksverhetzung vorgeworfen.

Laut einer aktuellen Umfrage der hessischen Polizei bezeichnen sich insgesamt ein Fünftel der Beamten als "mäßig rechts".

Update vom 03.06.2020, 13:15: Nach Angaben des Journalisten Marvin Oppong hätten die drei Beamtinnen und Beamten der Polizei beim beschriebenen Vorfall nicht auf seinem Rücken, sondern auch auf seinem Bein und seinem Kopf gekniet. Wir haben das entsprechend korrigiert.

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