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Heavy Metal: Wie Kinder in den USA unter bleiverseuchtem Trinkwasser leiden

Ganz gleich, was Rashaniea Bradley am Abend des 12. Juli 2015 tat, ihr acht Monate alter Sohn Rushaine wollte einfach nicht aufhören zu weinen.

Nachdem Rasha­niea Bradleys acht Monate alter Sohn einen Anfall hatte, brachte eine Inspektion durch das Gesundheitsamt zutage, dass ihr Haus in New Jersey mit Blei kontaminiert war. Der Bleigehalt im Blut des Kindes war fünfmal höher als der Wert, ab dem US-Behörden ein Einschreiten verlangen. Fotos von Juan Madrid

Ganz gleich, was Rashaniea Bradley am Abend des 12. Juli 2015 tat, ihr acht Monate alter Sohn Rushaine wollte einfach nicht aufhören zu weinen.

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Bradleys Mutter, Deborah, gab Rushaine eine Flasche Zuckerwasser—ein Familienhausmittel gegen anhaltendes nächtliches Weinen. Das untröstliche Kind schlief bald ein, doch gegen 7 Uhr morgens verhärtete sich sein Körper im Bett neben seiner Mutter. "Seine Haut veränderte die Farbe und seine Lippen wurden blau", erinnert sich die 27-jährige Mutter. "Seine Arme waren ganz steif und ließen sich nicht biegen. Er starrte geradeaus, ohne zu blinzeln."

Bradley, die in Trenton in New Jersey lebt, eilte mit ihrem Sohn ins Krankenhaus und rief ihren Mann an, der ebenfalls Rushaine heißt und täglich von 18 bis 5:30 Uhr in einem Amazon-Logistikzentrum arbeitet. Ärzte sagten den verwirrten und besorgten Eltern, Rushaine habe einen Anfall gehabt, doch die Ursache sei ungewiss. Im Laufe des Tages verlegten sie den Jungen in ein Krankenhaus im nahegelegenen Hopewell, wo eine Woche lang Tests durchgeführt wurden.

Dann rief jemand vom Gesundheitsamt New Jersey an und bat das Paar zu einem Gespräch vorbeizukommen. Man sagte ihnen, die Bleikonzentration in Rushaines Blut habe 27 Mikrogramm pro Deziliter betragen—mehr als das Fünffache des Werts, den die US-Behörde für den Schutz der öffentlichen Gesundheit Centers for Disease Control and Prevention (CDC) als zu hoch einstuft.

Wie alle kleinen Kinder hatte Rushaine die Angewohnheit, sich Dinge in den Mund zu stecken. "Ich musste mich nur wegdrehen, schon kaute er auf etwas rum", sagte der 27-jährige Vater aus Jamaika. Er erzählte auch, es dauere zu Hause oft Minuten, bis kein braunes Wasser mehr aus dem Hahn läuft.

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Eine Inspektion durch das Gesundheitsamt enthüllte, dass die Wohnung mit Blei kontaminiert war: Die Wände in der Küche, im Bad und im Wohnzimmer waren von oben bis unten mit Bleifarbe gestrichen. Zudem gehören die Bleiwerte im Trinkwasser von Trenton zu den höchsten in New Jersey. Nachdem eine Beamtin die Familie drängte, zog sie nach Burlington, wo der Vater von Rushaine senior ein Haus hat.

Bradley erinnerte sich an das erste Treffen mit der Gesundheitsbeamtin, während Rushaine junior das Handy seiner Mutter in den winzigen Händen hielt und Superman und Spider-Man bestaunte. "Sie sagte: 'Sie haben großes Glück, dass sie Ihren Sohn zum Arzt gebracht haben. Er hätte ins Koma fallen können.'" Sie hielt inne und sah zu ihrem Sohn, der sich laut ihren Angaben seit dem Vorfall anders verhält. "Seit dieser Nacht steckt mein Baby fest."

Trinkwasseranalysen haben dieses Jahr gezeigt, dass fast die Hälfte der Schulen im Schulbezirk von Newark erhöhte Bleiwerte aufweisen.

Blei in Haushaltsfarben wurde in den USA 1978 verboten, darauf folgten 1986 Verbote für Rohrleitungen und 1996 für Benzin. Doch wie Rushaines Geschichte sowie die Wasserkrise in Flint, Michigan, zeigen, ist Bleikontamination selbst im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts noch immer ein Problem. Millionen von Menschen in den USA sind jährlich noch Blei ausgesetzt, obwohl dessen Einsatz verboten ist.

Etwa 24 Millionen US-Haushalte sind mit Bleifarbe oder großen Mengen bleikontaminierten Hausstaubs belastet, so die CDC. In mehr als vier Millionen dieser Haushalte leben Kinder. Fenster, Türrahmen und andere Holzoberflächen wurden vor 1978 häufig mit Bleifarbe gestrichen. Oft verstecken sich diese heute unter Schichten neuerer Farbe oder Tapete. Wer aber in eine jahrzehntealte Wand in New Jersey einen Nagel schlägt, löst damit vermutlich eine gewisse Menge bleibelasteter Farbsplitter. Einem Kind könnten sie verführerisch bunt—und auch schmackhaft—erscheinen.

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Die Rohrleitungen der USA sind in noch schlimmerem Zustand. Ein großer Teil der Infrastruktur des Landes stammt noch aus dem 19. Jahrhundert. Die Rohre in Washington, D.C., wurden zum Beispiel während des US-Bürgerkriegs verlegt, als man Blei einsetzte, um Teile zusammenzulöten. Oft sind sogar die Rohre selbst mit Blei überzogen oder bestehen komplett daraus, da es stärker und formbarer als Stahl ist.

Die US-Umweltschutzbehörde Environmental Protection Agency sieht sich nicht in der Lage zu schätzen, wie viele Menschen in den USA gefährdet sind, bleikontaminiertes Wasser zu trinken. Der Berufsverband der Bauingenieure American Society of Civil Engineers hat in seinem neuesten Bericht dem Trinkwassersystem der USA die Note D gegeben. Die American Water Works Association hat letzten Juni verkündet, es könne bis zu eine Billion Dollar kosten, über 25 Jahre hinweg die altersschwachen Arterien des Landes zu sanieren—allein für die Entfernung der öffentlichen Bleileitungen. Laut CDC haben fast 106.000 Kinder unter drei Jahren Bleiwerte von mehr als fünf Mikrogramm pro Deziliter—5.566 von ihnen in New Jersey.

New Jersey, der am dichtesten besiedelte US-Bundesstaat, hat den Beinamen "The Garden State", doch er ist auch ein sehr toxischer Staat. In elf Städten und zwei seiner Countys gibt es einen noch größeren Prozentsatz von Kindern mit erhöhten Bleiwerten als in Flint, wie die Statistiken mehrerer Non-Profit-Organisationen aus dem Staat zeigen.

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2002 zeigten Tests, dass mehrere Schulen in Camden, New Jersey, mit Blei kontaminiertes Trinkwasser hatten. Heute, fast 15 Jahre später, trinken die Kinder in Camdens Schulen noch immer aus Wasserspendern statt aus Hähnen oder Trinkbrunnen. Als die Wasserkrise in Flint Schlagzeilen machte, organisierte ein Footballteam aus Camden—das sich zweifellos an die eigenen Erfahrungen in ihrer Stadt erinnerte—eine Lieferung von 100.000 Wasserflaschen an Schüler in Michigans Krisenherd.

Schulbehörden in Newark, New Jersey, verkündeten Anfang März, 30 der 66 Schulen des Bezirks hätten erhöhte Bleiwerte im Trinkwasser. Der Staat untersuchte daraufhin 17.000 Schulkinder auf Bleivergiftung. Unklar ist, wie lange Behörden bereits von den erhöhten Werten wussten. Im April gaben Beamte in Hamilton, New Jersey, bekannt, sie hätten Blei in der Wasserversorgung zweier Grundschulen entdeckt—was nicht weiter überrascht, da Hamilton sein Wasser aus Trenton bezieht. In Atlantic City wiesen 23 Prozent aller getesteten Kinder erhöhte Bleiwerte auf.

Trotz der wachsenden allgemeinen Sorge um Bleivergiftungen bei Kindern legte der Gouverneur von New Jersey, Chris Christie, ein sogenanntes "pocket veto"—ein legislatives Manöver—gegen die Bereitstellung von 10 Millionen Dollar zur Bleibeseitigung ein und nannte das Problem "aufgebauscht". Später gab er die Mittel frei.

Blei ist ein Stoff, der die extreme wirtschaftliche Ungerechtigkeit der USA widerspiegelt. Die Art der Kontamination—die längst verbotene Bleifarbe, die sich noch immer in Haushalten befindet, oder alte Rohre, die Blei ins Trinkwasser abgeben—zeigen die systemische Unterentwicklung von Städten wie New Jersey sowie den gesamten USA. Kinder unter der Armutsgrenze sind laut CDC am meisten gefährdet, eine Bleivergiftung zu erleiden.

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28 Prozent der Haushalte in Trenton befinden sich unter der Armutsgrenze. In Newark sind es 30 Prozent, in Atlantic City 36 Prozent und in Camden 40 Prozent. Landesweit liegt die Armutsrate bei 15 Prozent. In Flint, Michigan, sind es übrigens 42 Prozent.

Stadtdirektoren und Stadträte, denen die wirtschaftliche Basis fehlt, haben kaum Steuergelder zur Sanierung der hundertjährigen alten Leitungen oder zur Entschädigung von Vermietern, die gegen Bleifarbe vorgehen. Die zurzeit so beliebte Austeritätspolitik hat überdies an der gleichgültigen und oft feindseligen Haltung der Gesetzgeber gegenüber den Bedürfnissen der ärmsten Gemeinden nichts geändert.

Laut Dr. Irwin Redlener, Professor für Pädiatrie an der Columbia University und Präsident des Children's Health Trust, befindet sich die Infrastruktur der USA in einem "erbärmlichen Zustand".

"Flints Probleme mit bleikontaminiertem Wasser, das potenziell Tausenden Kindern schadet, wurden schlecht informierten politischen Entscheidungen zugeschrieben, gefolgt von einer möglicherweise kriminellen Vertuschung durch die Regierung von Gouverneur Rick Snider", sagte er. "Doch diese Krise führte dazu, dass in immer mehr Gemeinden im ganzen Land bekannt wurde, dass hohe Bleikonzentrationen der Gesundheit und Entwicklung vieler Babys und Kinder geschadet haben."

In gewisser Weise steckt Rushaine nicht mehr fest. Seine Gliedmaßen sind nicht länger steif wie bei seinem traumatischen Anfall letzten Juli. Doch der Zweijährige weist Symptome einer durch Bleivergiftung verursachten Behinderung auf, die ihn vermutlich für den Rest seines Lebens körperlich und geistig einschränken wird.

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Gesundheitsbeamte testeten dieses Jahr Rushaines Entwicklungsstand mit dem Battelle Developmental Inven­tory. Hierbei werden kognitive, motorische und soziale Fähigkeiten untersucht. Eine Glockenkurve zeigt die Ergebnisse: Überdurchschnittliche Resultate fallen in die rechte Hälfte der Kurve, die Mitte ist von allen Kindern mit durchschnittlichen Eigenschaft bevölkert und jene mit leichten bis schweren Entwicklungsverzögerungen sind links angesiedelt.

Rushaines Ergebnisse liegen alle bis auf eines im schmalen linken Bereich der Kurve. Seine adaptiven, kommunikativen und kognitiven Fähigkeiten liegen jeweils etwa zwei Standardabweichungen unter dem Mittelwert. Verglichen mit Gleichaltrigen gehört Rushaine zu den 2,5 Prozent, welche bei den körperlichen, geistigen und emotionalen Tests die größten Schwierigkeiten haben.

Bradley sagt, ihr Sohn habe weiterhin Anfälle, bei denen sie nicht interveniere. "Er zuckt ein paar Minuten lang stark", sagte sie. "Aber es ist nicht wie beim ersten Mal, als er eingefroren ist."

Rushaine sagt, wenn er seinen Sohn beim Namen rufe, reagiere er oft nicht. Wenn er versuche, mit ihm zu reden, schaue ihm der Zweijährige nicht in die Augen.

"Ich liebe ihn, wie er ist", sagte Rushaine. "Ich werde weiterhin für ihn da sein und ihm helfen, so gut ich kann."

Kurz nach dem Gespräch mit uns brachte Bradley ihren Sohn zu einem Neurologen sowie zum HNO-Arzt. Später kam wie jede Woche die amtlich zugeteilte Verhaltenstherapeutin vorbei.

"Mein Sohn kam gesund zur Welt", sagte sie. "Und dann zogen wir in das Haus und alles ging zu Bruch."