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Erweiterte Selbsterfahrung mit Google Ingress

Ich habe das Augmented Reality-Spiel „Google Ingress" getestest und überprüft, wie es sich auf meine Privatsphäre und Persönlichkeit auswirkt.

Ingress ist das „Augmented Reality“-Spiel von Google, zwischen Schnitzeljagd und Geocaching. (Bildrechte: Niantics Labs)

Ich habe noch nie ein Wort mit ihm gesprochen, aber weiß, wann er aufsteht, nach Hause geht, wo er arbeitet und merke, wenn er von seiner Tagesroutine auch nur im Geringsten abweicht. Im Spiel ist er mein Feind, im Leben mein Nachbar. Er gehört zu den Blauen (den „Schlümpfen“ oder auch der „Resistance“), der Widerstandsbewegung im Google-Spiel Ingress. Ich, hingegen, bin der grünen Seite, den „Enlightened“ (oder auch „Fröschen“) verfallen.

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Ingress, das „Augmented Reality“-Spiel vom Google Startup Niantics Labs, kenne ich als Paradebeispiel für den Gamifaction-Effekt, als anschauliche Fallstudie dafür, dass wir völlig in Widerspruch mit den Wertvorstellungen handeln, die wir eigentlich vertreten; dafür, dass wir zwar gerne betonen, wie viel uns Privatsphäre bedeutet, aber schulterzuckend darauf verzichten, sobald es spielerisch zugeht.

Ende Oktober war das Spiel in der Betaphase erstmals für jeden im Google Playstore erhältlich. Um nicht als nörgelnde Skeptikerin zu enden, die alle für ihr ach so bizarres Verhalten dämlich findet, ohne sich je darauf eingelassen zu haben, nutzte ich die Chance und lud das Spiel auf meinem Handy herunter. Nur um einen Blick als Promovierende in Technikphilosophie hineinzuwerfen. Einige Wochen später bin ich so darin versunken, dass ich gerade lieber auf einen Sprung ins Kalte hinausgehen würde, um das Portal meines Nachbarn zu sprengen, als hier in Ruhe für Motherboard zu beschreiben, wie es überhaupt soweit kommen konnte.

Chronik einer Ingress-Sucht

Das Spiel lässt unsere Welt zu mehr werden, als sie eigentlich ist. Orte, Skulpturen und manche Gebäude bergen Energie, die so genannte Exotic Matter (XM).

Der Hintergrund: In einer Geheimoperation namens „Niantic Project“ hatte die NIA (National Intelligence Agency) die Aufgabe dies zu untersuchen. XM haben Einfluss auf uns Menschen und möglicherweise nützen dies die „Shaper“ (eine alienhafte Gruppierung), um den Lauf der Dinge zu lenken. Als das herauskommt, gibt es eine Revolte in der NIA:

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Die Resistance (blau) möchte den Einfluss der „Shaper“ aufhalten, die Enlightened (grün) sind hingegen davon begeistert. Das Spiel entwickelt seine Geschichte laufend weiter, auch abhängig davon wie gespielt wird.

Meine erste Entscheidung: Trete ich der grünen oder der blauen Digitalarmee bei?

Zugegeben, ich habe gezögert. Widerstand gegen diesen Mindfuck klingt an sich gut, aber dafür zu spielen, dass die Welt blau wird, das kann ich nicht ohne an die rechtsextreme FPÖ zu denken. So traf ich also meine banale Entscheidung für grün und schon war ich „louiseattaque“, Enlightened-Spielerin der Low-Level Liga.

Level 1: Der erste Kniefall

Die App navigiert einen von Portal zu Portal und zeigt an, welche verlinkt sind oder auch welche Felder gelegt wurden. (Bild von der Autorin)

Ingress spielen heißt mit seinem Smartphone (oder Tablet) durch die Stadt zu laufen und Portale zu hacken, zu zerstören, zu erobern und zu verlinken. Das Prinzip ist einfach: jede Gedenktafel, jede Statue, jede Sehenswürdigkeit kann zum Ort werden, an dem XM entweicht.

Ein Portal wird über Resonatoren erobert, von denen maximal acht gesetzt werden können. Sind drei Portale in einem Dreieck verlinkt bildet sich ein Feld. Dabei kann kein Link einen anderen kreuzen und so braucht es für die Felder wie sie teils über Ländergrenzen hinweg gelegt werden, genaue Absprachen zwischen den Spielern.

All das—so wird mir schnell klar—geht nur mit der Freigabe des eigenen Standorts. Ich habe mich dieser Klicks bisher stets verweigert. Auch wenn ich ansonsten quer durch alle sozialen Netzwerke, wie auch durch mein anderes Onlineverhalten der letzten vierzehn Jahre, längst digital durchsichtig geworden bin, so bin ich stolz darauf gewesen, wenigstens meinen Standort noch nicht digital preisgegeben zu haben. Nun gebe ich also eine meiner letzten Bastionen auf.

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Level 2: Ich lerne meine Nachbarn kennen

Ich wirke als würde ich ständig Emails schreiben, verpasse Straßenbahnen und erkenne, wer wohl, so wie ich, Ingress Spieler ist. (Bild: Bernd Herzog)

„Grüß dich, Alpengeist hier“. Schnell werde ich begrüßt und in den Google-Hangout meines Wiener Bezirks integriert. Da lerne ich sie dann alle meine Nachbarn kennen, nur die Grünen, versteht sich. Mein Glück, denn ich lebe inmitten einer kleinen Bastion an Enlightened Spielern der ersten Stunde. Konzentriert auf wenige Straßenzüge leben Dutzende von ihnen. Sie sind Studenten, Grafikdesigner, Angestellte, die sich zu den unmöglichsten Zeiten und bei jedem Wetter treffen, um ein wenig spazieren zu gehen.

Ingress ist nur für Teamplayer wirklich interessant. Denn, während ein Level 1-Spieler noch alle acht Resonatoren in einem Portal selbst setzen kann, wird das mit steigendem Level reduziert und alle jene, die das höchste, achte Level erreicht haben, können gar nur noch einen Achter-Resonator setzen und müssen den Rest mit Resonatoren niedrigerer Level ergänzen. Jedes Portal hat ein Level, das durch die gesetzten Resonatoren bestimmt ist und entsprechend einer Formel, die sich aus dem Level des Spieler und des Portals errechnet, spuckt das Portal Items (wie Waffen oder Resonatoren) aus. Wollen die Spieler also viele Waffen oder Resonatoren ihres achten Levels erhalten, müssen sie zuvor sieben andere ihres Levels finden.

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„Farmen“ nennt es sich, wenn sich eine solche Gruppe findet und eine Reihe an solchen Portalen in unmittelbarer Nähe zueinander erstellt, um diese dann wieder und wieder zu hacken, um das persönliche Inventar zu schmücken. Am Eck gegenüber meines Fensters soll eine solche Farm also stattfinden, und ich werde eingeladen mitzuernten.

Ohne zu wissen, was mich erwartet, komme ich herunter und lerne nun die Menschen kennen, die sich hinter den teils kryptischen Namen meiner Mitspieler verbergen. Ich muss zugeben, dass ich über ihre Normalität überrascht bin. Gerechnet habe ich irgendwie eher damit, dass ich auf all jene treffen würde, die sonst auf Mittelalter-Märkten oder Anime Partys abhängen. Nein, keine Freaks, zumindest nicht mehr, als ich das selbst bin.

Farmen, das heißt stundenlang um denselben Block zu gehen und alle paar Meter kurz stehen bleiben, hacken und weiter geht es. Die einen haben ihre Thermoskanne mit Tee, die anderen ihr Dosenbier und Kabel führen in die Jackentaschen, in denen Akkupacks liegen. Ich lerne an diesem Abend schnell, dass für Ingress ein normaler Smartphone-Akku kaum ausreicht und rüste mich tags darauf mit dem obligatorischen Equipment auf.  Der Abend wird abgebrochen, als auf einmal ein „Resistance“-Spieler in Waldviertlern mit einem breiten Lächeln vor uns steht. Ein Level Acht Spieler, der nun auch selbst gemütlich die Runde dreht, um alles kaputt zu schießen. Ingress spielen, das heißt auch zu verstehen, dass sich beide gegenseitig brauchen. Denn es gibt keinen Sieg, sondern nur Zerstörung und Aufbau in Endlosschleife.

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Level 3: Ich bin drin—und von außen wirkt das nur bizarr

Professionelle Ausrüstung ist alles. Meine Spielkameraden bilden Fahrradtrupps, oder sind bewaffnet mit der passenden Kleidung, wie den an Handschuhen festgemachten Smartphones. (Bild: Bernd Herzog)

In kürzester Zeit erklimme ich weitere Levels und ertappe mich bei eigenartigen Aktionen. Zum Beispiel: Eine Freundin verspätet sich und ich starte inzwischen Ingress und ähnlich wie Rotkäppchen beim Blumenpflücken, bin ich von unserem verabredeten Treffpunkt sehr weit entfernt, als sie ankommt. Täglich erkunde ich nun mit Freunden und völlig Fremden meinen Bezirk. Dabei lande ich an absurden Orten, um Portale zu erreichen, wie einem Mistplatz eines Gemeindebaus. Ich nehme Umwege gern in Kauf und spaziere abends alleine stundenlang mit Musik durch die Stadt.

An einem dieser Abende erreicht mich die Nachricht einer Farm am anderen Ende der Stadt, Ottakring. Seit Tagen ist Wien fiebrig, angesichts des anstehenden 13Magnus-Events von Google, das Österreichs Hauptstadt am 16. November zum Austragungsort eines offiziellen Ingress-Events werden lässt. So lande ich also mit einigen Nachbarn am Freitagabend, kurz vor Mitternacht, an einem völlig verlorenen Eck des Bezirks.

„Heast, sat es olle varruckt? Was mochts es da?! I ruaf die Kiwerer!“ Am Balkon steht ein Mann und brüllt. Er versteht nicht, was da los ist. Wie soll er auch? Kleine Gruppen von zwei, drei Personen gehen seit Stunden dieselben fünfzig Meter vor seinem Wohnblock auf und ab. Sie starren auf die Displays ihrer Smartphones und manche unterhalten sich dabei ganz ruhig. Mir wird bewusst, wie eigenartig das von außen wirken muss, was wir da tun. Fünfzig Meter vor, abrupt stehen bleiben, und zurück.

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Level 4: Die durchgeplante Anomalie des 13Magnus Events

Manche sind von weit weg angereist, um dabei zu sein. Viele basteln sich selbst Fanutensilien, von Buttons, über Schals, bis hin zu Flaggen. (Bild: Bernd Herzog)

Um 13 Uhr soll das Event losgehen, auf das sich alle seit Tagen und Wochen vorbereiten. Eine „Anomalie“, wie es im Ingress-Spiel genannt wird, ereignet sich in Wien. Die Veranstaltung ist Teil der „13Magnus“ Serie, die seit Oktober an 39 verschiedenen Schauplätzen auf der Welt Station macht. An dem Tag ist der zweite Standort neben Wien, Dallas. Die weiteren Events in Europa, den USA und Südamerika folgen am siebten und vierzehnten Dezember. Konkret gibt es vier Cluster in Wien, an denen kurz nach jeder vollen Stunde jeweils gemessen wird, welche Fraktion die meisten Links und Felder setzen und Portale besetzen konnte.

Alle Teams werden mit Karten zu den Clustern der XM-Anomalien ausgestattet. Die Leiter geben Anweisungen durch. (Bild: Bernd Herzog)

Es ist alles durchgeplant: die Teams werden koordiniert, die einen mit dem Fahrrad, die anderen zu Fuß und dann gibt es all das Strategische, das unter manch Eingeweihten streng geheim gehalten wird, bei denen dann Felder noch viel breiter als die Cluster über ganze Städte gelegt werden sollen. Da ich mit meinen Waffen nicht viel bewirken kann, hat das Spiel leider bald ein Ende, denn die „Resistance“ hat ein Feld über ganz Wien gelegt, das erst gegen Ende zerstört werden kann: das Feld verhindert jegliche Links.

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Ein blauer Bildschirm ist nun wirklich kein gutes Zeichen.

Am Ende des Tages wird der Sieg der „Resistance“ in Wien verkündet. Vielleicht bin ich auch einfach eine schlechte Verliererin, aber ich verdrücke mich schnell nach Hause. Ich hatte zwar einen netten Tag und bin beeindruckt von der Organisation, aber gleichzeitig mag ich Ingress lieber in seiner täglichen Banalität als nach diesem Stoppuhr-Prinzip.

Level 5: Ingress, eine Liebeserklärung

147 Kilometer bin ich insgesamt gegangen, 864 Resonatoren habe ich zerstört und 2523 Resonatoren aufgestellt. Für etablierte Level Acht Spieler ist das gar nichts, aber auf mich wirkt das erschreckend hoch.

Heute bin ich selbst in das höchste Level aufgestiegen, zumindest das offizielle, denn danach wird einfach inoffiziell weiter gezählt. Höre ich dann auf? Wahrscheinlich nicht, zum einen weil ich mich am Gedanken erfreue, was ich mit L8 Burstern nicht alles bei meinem Nachbarn verwüsten kann, aber auch, weil ich dieses Herumirren in der Stadt genieße.

Boom. Ab heute muss ich wohl nicht mehr zehn Minuten an einem Fleck stehen bleiben, um ein Portal zu zerstören.

Um herauszufinden, was es mit einem verspielten Leben in der Augmented Reality auf sich hat, habe ich mich direkt an die Entwickler dieser Welt gewandt. Bevor Ingress also in zwei Wochen die Beta-Phase verlässt, unterhielt ich mich mit Anne Beuttenmüller von Niantics Labs über Ingress Clans als die besseren Cliquen, wie damit Geld verdient werden soll und wie es um Datenschutz steht.

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Motherboard: Augmented Reality Spiele wie Ingress lassen dich vergessen, dass du spielst. Ich hatte das Gefühl eines Eintauchens, und so gingen recht schnell auch Stunden vorbei. Haben Sie sich schon einmal dabei ertappt?
Anne Beuttenmüller: Oh ja. Das erste Mal, als ich Ingress ausprobiert habe, bin ich mit meinen Kollegen in der Mittagspause rausgegangen, um ein paar Portale im nahegelegenen Park Planten un Blomen zu erobern. Aus einer halben Stunde wurden dann schnell zwei Stunden. Wir haben angefangen uns die lokalen Stadträder auszuleihen, um in kürzester Zeit möglichst viele Portale für uns einzunehmen. Das war sehr aufregend und es beeindruckte mich, wie schnell man die Zeit vergessen kann.

Erschafft Ingress eine neue soziale Realität? Anders gesagt, inwiefern glauben Sie können sich aus solchen Games neue soziale Kommunikationsformen ergeben?
Das für mich Beeindruckendste an diesem Spiel ist die soziale Komponente d.h. durch die Spielmechaniken müssen sich Spieler in der realen Welt an einem bestimmten Ort zur gleichen Zeit treffen, um das Spiel effektiv spielen zu können. Daraus sind weltweit nicht nur mehrere tausende Communities entstanden, sondern auch feste Freundschaften, Beziehungen und Rituale wie Stammtische. Ich habe Geschichten gehört, wo Spieler durch Ingress einen Job gefunden haben oder Community Spielern geholfen hat über schwere Schicksalsschläge hinwegzukommen.

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Ingress bildet eine neutrale Interessensplattform, auf der neue soziale Kontakte geknüpft werden, bei denen es keine Rolle spielt, wer man ist, was man macht oder getan hat. Ausschließlich das gemeinsame Interesse an „Ingress“ verbindet.

Ich habe nicht das Gefühl, dass „neue Kommunikationsformen“ entstehen, sondern ganz im Gegenteil, Ingress zeigt mir jeden Tag wie wichtig die persönliche Beziehungen für uns Menschen sind. Ingress ermöglicht diese auf eine innovative Weise.

Könnten Ingress Clans nicht auch die besseren Cliquen sein?
Ja absolut. Oder auch die neuen „Vereine“. Spieler treffen sich, um ein gemeinsames Interesse auszuleben, ob es nun Fußball oder Ingress ist.

Ingress verlässt bald die Beta Phase. Wie soll damit Geld verdient werden?
Derzeit befinden wir uns in einem experimentellen Stadium, denn wir glauben, dass innovative Spiele wie Ingress innovative Refinanzierungsmodelle verlangen. Im besten Fall bereichern mögliche Werbeformate das Spiel. Sie dürfen jedoch auf keinen Fall die Nutzererfahrung negativ beeinflussen. Deshalb experimentieren wir mit den unterschiedlichsten Partnern wie Vodafone in Deutschland, HINT Water und Zipcar in USA, um ein Gefühl zu entwickeln, wohin die Reise gehen könnte.

Thematisiert wurde Ingress auch als das Ende von Privatsphäre. Sehen Sie beim Datenschutz noch Verbesserungspotenzial bei Ingress oder halten Sie die Kritik für unberechtigt?
Um es ganz klar zu sagen: Der Datenschutz unserer Nutzer steht an erster Stelle. Wir nehmen das Thema sehr ernst. Darum muss jeder Spieler vor dem Spiel den Nutzungsbedingungen zustimmen, die u.a. besagen, dass ein Nutzer nicht versuchen darf Zugang zu Ortsinformationen zu erhalten, die für sein Spiel nicht von Belang sind. Verstößt ein Nutzer gegen diese Nutzungsbedingungen, handeln wir entsprechend und schließen gegebenenfalls das Spielerkonto.

Noch ist Google Ingress keine überall auf der Welt, sondern nur partiell, verbreitete Sprache.

Und wie steht es nun um meine Privatsphäre? Die gibt es zumindest für mich im Ingress-Dorf nicht wirklich. Denn die Spieler-Community entwickelt laufend Apps, mit denen besser gespielt werden kann und so gab es bis vor einigen Tagen zum Beispiel eine App, mit der man sehen konnte, wo sich ein Spieler befindet und wohin er sich bewegt. Zumindest ein bisschen was könnte ich aber tun: Spielernamen wechseln und aufhören Portale den gesamten Heimweg entlang und hin zur Arbeit zu hacken. Und falls ich doch lieber anonym durch die Straßen gehen will, sollte ich wohl schon gar nicht—wie hier gerade—darüber schreiben.