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Gedichtanalyse – Heute mit Hitler, Mussolini und bin Laden

Der niederländische Schriftsteller Paul Damen hat so viele Gedichte von autoritären Herrschern gesammelt, wie er nur finden konnte.

Hitler beim Unterschreiben des Münchner Abkommens, im Hintergrund Mussolini und Göring | Foto: Bundesarchiv

Der niederländische Schriftsteller und Journalist Paul Damen hat so viele Gedichte von autoritären Herrschern gesammelt, wie er nur finden konnte, und diese in dem Buch Bloemen van het Kwaad (Blumen des Bösen) zusammengetragen, das vor Kurzem im Koppernik-Verlag erschienen ist.

Ich habe mich mit Paul unterhalten, um herauszufinden, warum gerade Diktatoren einen Hang zur Poesie haben, wie das Buch zustande kam und ob irgendeiner der grausamen Herrscher überhaupt über dichterisches Talent verfügte.

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Ein Gedicht von Adolf Hitler—bei allen nicht-deutschsprachigen Gedichten haben wir zum besseren Verständnis eine grobe Übersetzung angefertigt

VICE: Hi Paul, was magst du an Diktatoren-Poesie so gern, dass du dich acht Jahre lang damit beschäftigt hast?
Paul Damen: Nun, eigentlich nichts. Es ist bloß ein Hobby von mir, das etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Ich wusste, dass Hitler und Mussolini Gedichte geschrieben haben—und auch, dass Nero eine Menge verfasst hat—, also dachte ich mir: „Was ist mit dem Rest?"

Wie hast du es geschafft, diese ganzen Gedichte ausfindig zu machen?
Am Anfang war das schwierig, weil das Internet zu der Zeit, als ich damit angefangen habe, noch nicht so weitläufig war wie jetzt. Ich erinnere mich daran, in die Universitätsbibliothek von Neapel zu gehen und mich dort durch 36 Mammut-Bände von Mussolinis Opera Omnia zu kämpfen. Die Arbeit wurde wesentlich einfacher, als die ganzen Werke langsam im Internet auftauchten.

Das ganze Projekt war auch eine Art Glücksspiel, weil ich keine Ahnung hatte, wie viele dichtende Diktatoren ich am Ende finden würde. Wenn ich nach einer langen Suche lediglich fünf gefunden hätte, dann wäre das immer noch nichts gewesen—für ein Buch braucht es mindestens 20, würde ich sagen.

Wie hast du diese Gedichte übersetzt?
Ich kann etwa sieben verschiedene Sprachen und dementsprechend bin ich mit den meisten Gedichten ganz gut zurechtgekommen. Einige Kapitel waren schwer, wie zum Beispiel die arabischen Gedichte, aber mithilfe von etwas Kontextwissen bin ich recht weit gekommen.

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Die Gedichte von Hirohito sind ein gutes Beispiel dafür. Indem ich mir bestimmte Schlüsselwörter angeschaut habe, konnte ich auf den Kontext schließen. Wenn man „Berg", „Schnee", „grüner Baum" und „panoramischer Ausblick" liest, dann merkt man schnell, worum es in dem Gedicht geht. Danach geht man anhand dieses Kontexts Schriftzeichen für Schriftzeichen—mein Japanisch ist nämlich nicht besonders gut—mit Blick auf eine mögliche Übersetzung durch. Die Übersetzung habe ich dann von zwei oder drei Menschen kontrollieren lassen, die tatsächlich japanisch verstehen.

Wäre es nicht einfacher gewesen, einfach ein paar Übersetzer einzustellen?
Nein, ich wollte alles selbst machen. Und Übersetzer machen auch Fehler. Viele von den Gedichtübersetzungen, wie die, die ich von Maos Gedichten gefunden habe, haben überhaupt keinen Sinn ergeben. Ich wollte also lieber alles selbst übersetzen und es danach kontrollieren lassen.

Ein Gedicht von Osama bin Laden aus ‚Bloemen van het Kwaad'

Ist es nicht komisch, dass sich diese grausamen Diktatoren so poetisch zeigen?
Nun, in den meisten arabischen Ländern ist es üblich, dass Diktatoren oder Herrscher Gedichte schreiben. Es ist Teil ihrer Kultur—das gilt auch für China und Japan. Ein wahrer Krieger sollte wissen, wie man kämpft und Gedichte schreibt—so lautet zumindest die Vorstellung. Aus unserer westlichen Perspektive heraus mutet das vielleicht widersprüchlich an, aber wir sind da die Ausnahme—nicht der Rest der Welt.

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Kim Jong-un, Kim Jong-il und Kim Il-sung waren und sind allesamt unglaubliche Arschlöcher, aber Poesie war ihnen keineswegs fremd. Das Gleiche trifft auch auf Osama bin Laden zu. Es wurde geradezu von ihm erwartet, dass er Gedichte schreibt, und es war Teil seiner Bildung: Rhetorik und Poesie.

[Elizabeth schrieb dieses Gedicht mit einem Stück Holzkohle an einen Fensterladen, während sie von ihrer Schwester Queen Mary wegen Verrats eingesperrt war (Elizabeth beteuerte ihre Unschuld).]

Ein Gedicht von Elizabeth I aus ‚Bloemen van het Kwaad'

Warum sollten sich diese Menschen bei einem wahrscheinlich ohnehin schon vollem Tag auch noch die Zeit nehmen, um Gedichte zu schreiben?
Die Motive dafür variieren. Manche wollten beweisen, dass sie neben ihrem Diktatorendasein auch noch andere Qualitäten haben. Hitler hat immer über sich gesagt, dass er Schriftsteller sei. Jemand wie Elizabeth I hat Gedichte geschrieben, um Gefühle auszudrücken—Süleyman genau so.

Aber es gibt auch einige, die allein aus Propagandazwecken gedichtet haben. Dazu gehören Mao, Fidel Castro und Nicolae Ceaușescu. Der Portugiese António Salazar hat ziemlich furchtbare Lobpreisungen auf die Jungfrau Maria, Gott und die portugiesische Flagge geschrieben, um nationalistische und katholische Werte zu propagieren.

Verstehe.
Mussolini ist auch ein interessanter Fall. Er hat in jungen Jahren viele Gedichte geschrieben und dieses Talent dann als Diktator für propagandistische Zwecke eingesetzt. Er hat zum Beispiel eine Art Tag des Brotes eingeführt und dann ein Gedicht darüber geschrieben. Das geht etwa so: „Ehrt das Brot, Hurra für Brot, jeder ist glücklich mit Brot", und das wurde dann auf Poster gedruckt und im ganzen Land verteilt.

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Ein Gedicht von Süleyman I aus ‚Bloemen van het Kwaad'

Sind überhaupt gute Gedichte dabei?
Ich mag die Gedichte von Süleyman. Man merkt, dass Mussolini im Herzen ein Poet war, und recht überraschend ist auch Karadžić, der Schlächter vom Balkan, ziemlich gut. Seine Themen sind furchtbar—es geht immer um Blut und Menschen, die von den Bergen hinabsteigen, um Rache zu nehmen—, aber seine Gedichte sind handwerklich gut gemacht.

Man sollte sich tatsächlich beim Lesen dieser Gedichte von dem Gedanken lösen, dass das alles blutrünstige Wahnsinnige sind. Wir haben es hier nicht gerade mit typischen Romantikern zu tun. Die sind nicht eines Morgens aufgewacht und haben sich spontan dazu entschieden, über die Schönheit des Lebens zu schreiben. Fast alle von ihnen verfolgen mit ihren Gedichten eine versteckte Agenda oder verborgene Ziele.

Gibt es Diktatoren, die du in deiner Sammlung vermisst?
Ich hätte gerne Diktatoren wie Enver Hoxha, Franco, Pinochet oder Jurzelski dabeigehabt, aber die haben leider keine Gedichte geschrieben. Und es gibt ein paar Gedichte, die ich absichtlich weggelassen habe. Wenn man sich meine Stichpunkte dazu anschaut, was genau einen Diktator ausmacht, dann könnte man auch denn Propheten Mohammed als einen sehen. Er hatte sein eigenes Kalifat, in dem er uneingeschränkte Macht besaß. Und der halbe Koran ist voller Poesie. Die wollte ich aber nicht übersetzen—ich liebe mein Leben und will mich nicht mit dem rumschlagen müssen, was dann eventuell passieren könnte.

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Es ist beeindruckend, dass so viele Diktatoren Dichter sind. Könnte man den Spieß auch umdrehen und sagen, dass viele Dichter das Potenzial zum Diktator haben?
Ich weiß nicht. Ein Poet muss über eine gewisse romantische Veranlagung verfügen und die Sprache perfekt beherrschen. Ein Poet will mit Sprache bewegen, mit Sprache schockieren—zumindest mit Sprache beeinflussen. Das ist wohl die große Gemeinsamkeit zwischen Diktatoren und Dichtern: Sie wollen ihr Publikum beeinflussen und prägen.

Danke, Paul!

Hier sind zwei weitere Gedichte aus ‚Bloemen van het Kwaad'. Das erste stammt von Mao Zedong. Das zweite von Fidel Castro.