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Die Bahn ist an allem Schuld – aber nicht an Obdachlosen

Auf Facebook regen sich alle über die Bahn auf, weil sie Obdachlose kontrolliert. Warum nicht darüber, dass es Obdachlose gibt?
Foto: imago/McPhoto

Auf Facebook regen sich alle über die Bahn auf, weil sie Obdachlose kontrolliert. Warum nicht darüber, dass es Obdachlose gibt?

Am Montagmorgen klebte eine Facebook-Nutzerin (und offensichtlich leidgeprüfte Bahnfahrerin) folgenden Beitrag auf die Facebook-Seite der Deutschen Bahn:

Am Mittwochnachmittag hatte der Beitrag schon über 50.000 Likes bekommen und die Social-Media-Abteilung rotierte auf hoher Drehzahl, um die aufgebrachten Internetmenschen zu beschwichtigen—natürlich ohne jeden Erfolg.

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„Diese Scheiss-DB" schimpft ein Nutzer, „diese arrogante beschissene 'ich hab meine Vorschriften'-Mentalität, obwohl die Arschgeigen selbst nicht liefern, das erleben wir doch alle Tage." Andere sind natürlich „absolut entrüstet" oder klagen, die Menschlichkeit sei bei der Bahn wohl schon lange verloren gegangen.

Das ist keine große Überraschung: Es ist ziemlich leicht, die Bahn zu hassen. Man hat in seinem Leben sechs Verspätungen erlebt, eine davon schlimm, dann kommt noch ein kleiner Streik dazu, und zack, die Bahn ist das inkompetenteste Großunternehmen aller Zeiten. Und jetzt ist sie auch noch herzlos und macht arme, alte, obdachlose Frauen fertig.

Klar: In der Situation hätte der Schaffner die Frau auch einfach mal in Ruhe lassen können. Aber seine Entscheidung, ein Arschloch zu sein, hat mit der Deutschen Bahn herzlich wenig zu tun. Einzelne Mitarbeiter haben einen Ermessensspielraum und können die Regeln dehnen. Die Bahn als Ganzes kann das aber natürlich nicht tun.

All diese Menschen, die sich dem Schaffner jetzt moralisch so wahnsinnig überlegen fühlen, kommen in ihrem normalen Leben offenbar wunderbar damit zurecht, dass manche ihrer Mitmenschen auf der Straße leben oder Pfandflaschen sammeln müssen, um sich zu ernähren. „Hach, das ist ja schlimm", denken sie sich, während sie nachdenklich ihre Bahncard in den Fingern drehen. Niemand lässt sich tatsächlich das Weizenbier im Bordbistro davon versauen, dass in Deutschland immer noch geschätzte 16 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben.

Die Bahn kann daran wenig ändern. Wenn sie einfach beschließen würde, alle Obdachlosen und Hartz-4-Empfänger umsonst Zug fahren zu lassen und dafür die Ticketpreise für alle anderen zu erhöhen, gäbe es wahrscheinlich einen Aufschrei. Im Zweifel von genau denselben Leuten, die jetzt die Herzlosigkeit des Logistikunternehmens anprangern.

Das wäre allerdings auch ziemlich undemokratisch von der Bahn, einfach so einen Solidaritätszuschlag zu beschließen. Die einzigen, die das können, sind die Volksvertreter im Bundestag.

Wenn es einem also wirklich so leid tut, dass Obdachlose nicht umsonst Bahnfahren können, dann könnte man sich für Gesetze einsetzen, die genau das ermöglichen. Man könnte wahrscheinlich noch eine Menge Dinge tun, um dafür zu sorgen, dass immer mehr weniger Menschen in Armut leben müssen.

Das würde allerdings etwas länger dauern, etwas mehr Nachdenken erfordern und dann am Ende die Steuerzahler auch noch etwas mehr Geld kosten, als einfach auf der Facebook-Seite der Bahn rumzuschreien. Also machen wir lieber das.