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Die Kampfkolosse der Bodybuilding-Regionalmeisterschaft

Beim Besuch der Bodybuilding-Regionalmeisterschaft in Berlin Marzahn zeigen die aufgepumpten Fleischberge auch mal ihre menschliche Seite.

Neulich habe ich gelernt, dass die 10 Kilo, die ich mir jedes Jahr zu Weihnachten anfresse, bevor ich den Rest des Jahres wieder gnadenlos Diät halte, nichts im Vergleich zu den übermenschlichen Kraftanstrengungen sind, die ein Sportler für die Bodybuilding-Wettkampfsaison aufbringen muss. Dabei werden nämlich ein- bis zweimal pro Jahr innerhalb kurzer Zeit 20 bis 30 Kilo abgenommen. Wo ich diese Menschen kennengelernt habe, die in Sachen Figur noch viel krasser drauf sind als ich? Beim Besuch der Bodybuilding-Regionalmeisterschaft in Berlin Marzahn.

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Nachdem ich kürzlich einen Mann aus 36 Kilometern Höhe auf die Erde runterspringen gesehen habe, gingen mir in letzter Zeit öfters Fragen über den Sinn des Lebens durch den Kopf. Wenn das Leben eine Reise zum Grab ist, dann gibt es auf der Welt sicherlich verschiedene Formen des Lebenskampfes. Was also, fragte ich mich nach Stratos, bringt jemanden dazu, über die körperlichen Grenzen, die der gemeine Mensch als gegeben ansieht, hinauszugehen?

„Doppelbizeps von vorn!“ Als ich den Saal betrete, präsentieren drei goldbraun gefärbte Männer auf der Bühne fast tänzerisch im „Line-Up“ ihre extrem muskulösen Körper, und ich bin schon mal etwas beeindruckt. Nach Aufforderung des Moderators bewegen sie sich in „Vierteldrehungen“ im Uhrzeigersinn und präsentieren Trizeps und Doppelbizeps.

In der zweiten Wertungsrunde folgt das „Pflichtposen“. Das heißt: Muskeln spielen lassen. „Sehr schön!“, schallen tiefe Stimmen aus dem Publikum durch den tropisch warmen Raum, begleitet von spontanem Klatschen. Eine lockere, gute Stimmung. Auf Fotos wirken Bodybuilder statisch und fast unmenschlich, doch vor mir auf der Bühne, live & lebendig, sehe ich ein Schönheitsideal, das nur auf leblosen Abbildungen fremd wirkt. Dem Muskelspiel folgt in der letzten Wertungsrunde die Kür. Der Moderator, wie im Boxring, ruft ins Mikrofon: „Pose Down!“ Bässe dröhnen durch den Saal, der Mann auf der Bühne führt dazu eine kraftvolle Choreografie vor. Es ist ein Song von 2Chainz und langsam finde ich die Typen cool. Als dann auch noch Nr.14 und Nr.57 in Gestalt von Physiotherapeutenliebespärchen Angie und Daniel im „Paar Posing“ auf der Bühne einen Liebestanz vollführen, der mich an Leo und Kate in Titanic erinnert—allerdings zur Titelmusik von Jurassic Park—, war es irgendwie romantisch und mir kommen zum ersten Mal an diesem Abend die Tränen. Titanic-Untergangsmelancholie bringt mich zurück zur Frage, was im Leben sinnstiftend ist. Das Streben nach einem Ideal, nach einem hoch gesteckten Ziel? Einige der Bodybuilder erzählen mir, dass Übergewicht irgendwann zum Auslöser wurde. Der schnellen Gewichtsabnahme folgt oftmals das Gefühl, dass das nicht ausreicht. Anabolika machen aggressiv, depressiv, humorlos. Ein sinnloses Leben aber auch. Jeder Glückliche findet auf der Reise zum Grab einen Weg, nicht zu verzweifeln. Nicht zu resignieren, ist immer noch besser, als aus dem Fenster zu springen.

Es gibt in Deutschland zwei Wettkampfsaisons: Frühjahr- und Herbstsaison. Denn, so erklärt mir Markus Rohde, Verantwortlicher von NAC, Verband für Fitness und Athletiksport: „Ein Athlet ist nur vier bis maximal sechs Wochen in dieser Topform, länger kann ein Sportler seine Wettkampfform nicht behalten und dann beendet er die Diät.“ Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Muskelberge alle auf natürlichem Wege entstanden sind und frage mal bei Wettkämpfer Nr.27 nach, Manuel Moisel, 20, Tiergesundheitskontrolleur aus Mittel-Sachsen, der mir auf dem Gang muskulös, braungefärbt und in „Hello Kitty“-Hausschlappen über den Weg läuft. „Das ist nicht alles Doping auf der Bühne! Manche haben einfach die genetische Veranlagung dazu, die sehen immer so aus. Auch wenn sie keine Diät halten.“ Draußen im Foyer, umgeben von neonfarbenen Getränkesystemen und Bodybuilding-Schokoriegeln, entdeckte ich einen Sportler. „Man erkennt die an der braunen Hautfarbe“, hatte mir Markus Rohde zuvor erklärt. Ich spreche ihn an. Er dreht sich zu mir um. Ich frage ihn, ob er schon mal am Verschluss einer Flasche Ketchup gescheitert sei. Ich weiß jetzt, wem ich nachts im Dunkeln lieber nicht begegnen möchte. Vorsichtig ziehe mich zurück, indem ich lautlos rückwärts schwebe, keine hektischen Bewegungen mache, mich geduckt halte und Augenkontakt mit ihm vermeide. Ich suche Trost bei einem Nahrungsergänzungsmittelverkäufer, beiße in einen Bodybuilding-Schokoriegel und spüle schnell lila Flüssigkeit aus einer mit rätselhaften Worten, vermutlich ausserirdischen Ursprungs, bedruckten Plastikflasche hinterher. „Das kurbelt die Fettverbrennung im Körper an!“, versprach mir der Verkäufer. Nach der Siegerehrung lande ich irgendwie in der Umkleide. Darin: riesig, dunkelbraun, muskelbepackt … ER. Ich nähere mich ihm vorsichtig. Bilder meines vergangenen Lebens ziehen an meinem inneren Auge vorbei. Ich sehe mich als Kind im Reitverein, der Reitlehrer hat mir wieder ein sehr großes, wildes Pferd zugeteilt und gemeckert, dass ich zu klein für Profisport sei. Vielleicht hätte ich Bodybuilding versuchen sollen. Ich nähere mich Kiro, frisch gekrönter Ostdeutscher Meister im Bodybuilding, wie ich mich früher dem riesigen Pferd näherte. Bereit zu sterben, durch einen einzigen Huftritt. Kiro tritt nicht, er beißt. Verbal. Ein Satz genügt, und ich schleiche schluchzend davon. Das ist Andreas Hess, 43, Physiotherapeut. Teilnehmer der Klasse „Body Over 40“. Er sah viel älter aus. Ein kleiner Mann, er ging mir gerade bis zur Brust. Das hier sei seine Wettkampfform. Dafür sei ein Gewichtsverlust von 20 bis 30 Kilo völlig normal. Warum er vor 23 Jahren mit Bodybuilding angefangen habe? Fröhlich lächelnd und in sanft säuselndem Tonfall schildert er mir all die Dinge, zu denen man ihn, als er ein kleiner Junge in der Grundschule war, gezwungen hatte. Ständig verprügelt durch Klassenkameraden trat er „die Flucht nach vorn an“, tat alles „freiwillig, bevor sie mich dazu zwingen konnten.“ Als er älter wurde, habe er beschlossen, „stärker zu sein, als die Peiniger.“ Wie er denn zu Doping stehen würde? „Ich würde sämtliche Dopingmittel freigeben, ansonsten schaffen sich manche Athleten einen unerlaubten Vorteil, und das ist unfair.“ Ich frage ihn, ob man ohne Dopingmittel solche extremen Körperformen überhaupt erreichen könne. Er erklärt mir, dass es sehr schnell ginge, Muskelmasse aufzubauen, dazu würden zweimal 90 Minuten pro Woche reichen. Natürlich, Arnie habe in den 80ern sechsmal die Woche trainiert, nach dem „Volumentrainingsprinzip“. Heute würden viele nach dem „Heavy-Duty-Prinzip“ trainieren, das weniger Zeit beansprucht und dem Körper längere Phasen der Erholung ermögliche. Ein nicht extrem muskulöser Mann stellt sich mir freundlich als Trainer vor. Der Andi habe mit seiner Lebensgeschichte ja wiedermal das Bodybuilder-Klischee bedient. Er selbst sei in seiner Kindheit nie gequält worden. Er habe einfach Spaß an sportlichen Höchstleistungen, ein muskulöser Körper entspreche seinem Ideal. Den Ehrgeiz für eine sportlich-athletische Figur habe nicht jeder, und das sei, was einen Bodybuilding-Athleten ausmache. „Es geht nicht um den Wettkampf“, erklärt er mir, und es komme nicht alleine aufs Training an, sondern sei eine Frage der Ernährung und Diät. „Ohne diese Menschen“, schreibt Meisterschaftsveranstalter Markus Rohde im Bodybuilding-Magazin POSEDOWN, das er mir am Ende in die Hand drückt, „würden uns ,Normalsterblichen' die Vorbilder fehlen. Leitfiguren, die uns motivieren und deren Erfolgsgeschichten für uns Ansporn sind …“ Ich wische mir eine Träne aus dem Augenwinkel und freue mich auf 10 Kilo Zimtsterne.