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Occupy Turkey

Das perfekt Rezept für eine Straßenschlacht

Um einen revolutionären Aufstand zu proben, brauchst du unbedingt folgende Zutaten. Einen harmlosen Grund, einen dramatischen Auslöser, soziale Ungerechtigkeit und brutale Polizisten. Dann hast du das perfekte Pulverfass. Und es wird so oft explodieren...

Wie wir alle mittlerweile wissen, haben wir in der Türkei eine sensationelle, umstrittene und inspirierende neue Protestbewegung am Start. Empörende Bilder der Polizeibrutalität kursieren im Internet, Demonstranten organisieren sich auf Social-Media-Kanälen, finden sich auf einem berühmten, öffentlichen Platz zusammen, und einer der wichitgsten Auslöser ist die soziale Ungerechtigkeit.

Natürlich gibt es viele Unterschiede zu Occupy Wall Street und den Aufständen des Arabischen Frühlings—die religiöse Spannung zum einen, weil sich die Demonstrierenden in erster Linie als weltliche Bürger sehen, die unter Recep Tayyip Erdogan, dem islamistische Premierminister und seinem zunehmend autokratischen Regiment, leiden.

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Aber es gibt auch unzählige Parallelen. Tatsächlich sind es so viele, dass es nicht überrascht, wenn du denkst, da entstehe da irgendeine Art von Muster.

Aber lasst uns erst genauer hinschauen und dann auf das Gesamtbild zurückkommen. Als erstes gibt es dort Spontanität. Weder Occupy Wall Street, noch die Versammlung auf dem Tahrir-Platz, Mohamed Bouazizs Selbstverbrennung in Tunesien oder die Aufruhr in Istanbul wurden im Vorfeld als besonders bedeutende Ereignisse organisiert. Zwar haben eine kleine Gruppe von Proto-Occupisten im Voraus einige Sachen organisiert, wie die ägyptischen Gewerkschaften, die sich zusammentaten, oder kleinere Proteste zur Verteidigung der öffentlichen Grünfläche in Istanbul, aber niemand dachte, dass irgendwas Großes daraus entstehen würde.

Aber sie haben eines gemeinsam: die brutale Überreaktionen von Staat und Polizei, die auf verschiedenen Foto- und Videokameras aufgenommen wurde, und dann durch die Social -Media-Kanäle verbreitet wurde. #OWS kannte keiner, bis zu dem Zeitpunkt, als die Polizei ein paar junge Frauen mit Pfefferspray besprüht hatte. Der Arabische Frühling brach aus, als sich ein Mann selber anzündete. Das weitere scharfe Vorgehen der Polizei gegen die wachsenden Demonstrationen schürte die Protestflut noch mehr.

Was in der Türkei als eine harmlose Bewegung von Öko-Protestlern begann, die in einem öffentlichen Park gecampt haben, um gegen dessen bevorstehenden Abriss zu protestieren, entfachte den Zorn der Türken, als die Polizei die Demonstranten mit Tränengas und Anzünden ihrer Zelte vertreiben wollte. Die dramatischen Fotos und Videos zogen innerhalb kurzer Zeit Zehntausende Weitere auf die Straßen.

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Wie schon bei Occupy verweigerten lokale Medien die Berichterstattung am Anfang des Protests—das Versäumnis war in der Türkei sogar noch ungeheuerlicher, da sogar Zivilisten verletzt wurden, Tränengaskanister in die Menge geschleudert wurden und der eskalierende Tumult die größte Stadt der Nation verwüstete.

Aber wie schon bei Occupy wurde das Medienblackout durch soziale Netzwerke ersetzt—waren einige dieser Fotos einmal viral unterwegs, war jegliche Sympathie für die Staatsbefehle und den Einsatz von Gewalt dahin. Wieder trifft dies insbesondere auf die Türkei zu—lang schwelende Spannungen—ausgelöst durch Erdogans Drang zur Entwicklung und Kommerzialisierung von Istanbuls historischen Stadtteilen, seine strengen religiösen Vorstellungen und sein Widerwille demokratische Umstellungen zu beherzigen—entluden sich schließlich, als Bilder von Gewalt in das öffentliche Bewusstsein strömten.

Ein einziges Foto hat die Macht, Sympathie für die Zurückgeschlagenen und die Unterdrückten zu wecken—und die Chancen, dass solch ein Foto schnell viral wird, hat seit der Entwicklung des Smartphones extrem zugenommen. Bilder wie diese verwandeln die Regierungschefs in hässliche Ouroboros und die Protestierenden in Hydra-Köpfe. Sie taten es bei Occupy, sie taten es auf dem Tahrir und sie tun es jetzt gerade wieder.

Manchmal sind es die weniger chaotischen, zufällig brutalen Bilder, die die größte Empörung auslösen. Erinnert dich das Foto da oben an irgendwas? Oder das hier?

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Wenn wir uns ein Kriegsgebiet anschauen, sehen wir ein feindliches, fremdes Territorium; und es ist erdrückend. Wenn wir einen Menschen sehen, der einem wehrlosen Menschen qualvollen Schmerzen zufügt, ist es klar, dass hier eine Ungerechtigkeit passiert.

Der türkische Protest liefert diese Bilder massenweise und sie werden mit Begeisterung getwittert und gebloggt. Natürlich kennen die Protestierenden in Istanbul sich gut mit den sozialen Netzwerken und der neuesten Informationstechnologie aus. Hinzukommt, dass sie, um mit den neuesten Entwicklungen und den aktuellen Strategien der Polizei auf Twitter und Facebook Schritt halten zu können—und hierfür enzürnen sie den Zorn Erdogans— kreativ geworden sind. Sie waren erfolgreich mit ihrer Crowd-Funding-Kampagne, die zum Ziel hatte, eine ganzseitige Anzeige in der New York Times zu schalten, und sie akquirieren weiterhin Spenden auf diesem Wege.

Occupy und der Tahrir-Platz waren jeweils wirksame Erinnerungen an die Macht und die Notwendigkeit der öffentlichen Sphäre—und die Bewegung in der Türkei war eigentlich aus einem Streit für deren Schutz entstanden. Eigentlich nannten sie es eine zeitlang Occupy Gezi, nach dem Namen des Parks. Die New York Times erklärt:

„Ein Regierungsplan, den Taksim-Platz umzubauen, einem historischen Ort des öffentlichen Zusammenkommens, und ihn in eine Art Nachbau von Barracken aus der Ottoman-Ära und einem Einkaufszentrum zu verwandeln—was der Historiker Herr Eldem ein „Las Vegas des Ottoman-Prunks“ nannte—ist, was genau das, was die Demonstrationen anfangs antrieb. Da sind noch viele andere kontroverse Projekte, die öffentliches Entsetzten hervorgerufen haben.

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Das älteste Kinotheater der Stadt, das zuletzt für ein anderes Einkaufszentrum abgerissen worden war, verursachte Protestgeschrei, einschließlich eines Einwands von Türkeis First Lady, Hayrunnisa Gul, die Frau des türkischen Präsidenten, Abdullah Gul. Eine russisch-orthodoxe Kirche aus dem 19. Jahrhundert könnte demnächst einer Hafenmodernisierung zum Opfer fallen. Und in den Ghettos Istanbuls werden die städtischen Armen bezahlt, damit sie ihre Häuser verlassen, so können Bauunternehmer—viele davon mit Verbindungen zu Regierungsfunktionären—dort bewachte Wohnanlagen bauen.“

Und das führt uns zu der nächsten Gemeinsamkeit, die die verzweifelten Bewegungen untermauert: Einkommensdisparitäten. Occupy zielte auf die Banker und Investoren ab, weil diese die Wirtschaft betankt haben und sowieso florierten, während die Mittelschicht einen jahrzehntelangen Abstieg fortsetzte—die Wir-sind-die-99-Prozent-Seite auf Tumblr war ihr effektivstes öffentliches Mittel. (#Occupy Gezi hat auch seine eigene erstklassige Tumblr-Seite). Bouazizis Selbstopferung kam auf dem Höhepunkt von ärmlicher Verzweiflung und steigenden Lebensmittelpreisen.

In der Türkei ist es die gleiche, alte Geschichte. EurasiaNet berichtet zum Beispiel, dass „das Ministerium für Familie und Soziale Rechte in 2012 offengelegt hat, dass nahezu 40 Prozent der Bevölkerung der Türkei, insgesamt 75,6 Millionen, an der Grenze oder unter dem monatlichem Mindestlohn von 773 Lira, ca. 311 Euro, leben. Weitere 6,4 Prozent leben unter der festgelegten Hungergrenze von 430 Lira (173 Euro).“

Währenddessen „gehören 63 Prozent der Bankdepots des Landes nur einem halben Prozent der Kontobesitzer.“

Starke Einkommensunterschiede erzeugen soziale Unruhen. Eine Führung, die sich nicht zuständig fühlt, spricht das Thema auch nicht gerne an. Die Spannungen kochen über, und die Polizei wird brutal. Die Bilder der Brutalität verbreiten sich viral, und so tut es auch die Empörung. Ein geschickter Einsatz der sozialen Medien eröffnet den Organisatoren zusätzliche Möglichkeiten.

Diese Zutaten haben, so scheint es, eine Zeit des Protests hervorgebracht und das nur über die letzten fünf Jahre. Und das aus gutem Grund. Sie sind ein perfektes Pulverfass. Und es wird so oft explodieren, bis wir das Rezept ändern.